16.
„Das Reich ist mein!“
Ausruf des Sieges im Spiel „Narren und Krieger“
„Wie lange schon?“, knurrte Ilat. Er hockte auf seinem Thron, umklammerte die Lehnen mit beiden Händen, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Sein Gesicht war eine starre Maske brütenden Zornes. „Wie lange hintergehst du mich schon, Priester?“
Rynwolf stand mit verschränkten Armen vor seinem König, er ließ sich nicht anmerken, ob er sich fürchtete oder vielleicht sogar insgeheim triumphierte. Hinter ihm stand Janiel, der den Blick auf die verschleierte Frau an seiner Seite hielt. Sie war der Grund für die Versammlung im Thronsaal, bei dem sich alle Mitglieder des Kronrates unbehaglich an den Wänden entlang drückten, umgeben von ihren Dienern und Leibwachen. Inani saß zu Ilats Linken, die Raubkatze wärmte ihre Füße. Mehrere Gefolgsdamen hielten sich scheinbar scheu im Hintergrund.
„Dies ist eine vornehme Tochter alteingesessenen Adels aus Lynthis, Majestät. Eine Ehe mit ihr würde die Unruhen in dieser Provinz ein für alle Mal beenden und wir könnten einen Großteil unserer Soldaten von dort abziehen. Wie Ihr wisst, können wir zwar Lynthis jederzeit gewaltsam befrieden, aber die Bevölkerung verweigert den Gehorsam. Die Übergriffe auf unsere Männer werden täglich dreister, die Verluste sind hoch. Dazu kommt der Handel nur schleppend in Schwung, da der Hafen ständig von Rebellen besetzt wird. Wir brauchen Lynthis, Ilat. Darum sage ich: Heiratet diese Dame, zum Wohl von Roen Orm.“ Rynwolf deutete eine knappe Verbeugung an, dann kehrte er wieder in seine abwartende Haltung zurück.
„Ich bin bereits verlobt, falls du das vergessen haben solltest, Priester. In zwei Wochen sollst du mich mit der Dame Savera verheiraten, ebenfalls zum Wohle von Roen Orm, denn diese Verbindung beschert uns friedvollen Zugang zum gesamten Waldgebirgsreich.“ Ilat bleckte die Zähne, doch er sprach leise und beherrscht. „Soll ich etwa zwei Frauen auf einen Thron setzen?“
„Nein, mein König. Ihr sollt abwägen, was das Beste für uns alle ist. Um Euch dabei zur Seite zu stehen, ist der Kronrat anwesend, er wird mitentscheiden, welche Heirat die einträglichere ist.“
„Genug!“, fauchte Inani und sprang über den Panther hinweg in die Mitte des Raumes. „Ich nicht bin Sklavin auf die Markt, um das gefeilscht wird. Ich bin Savera Harvaste Oishor Qi Laramea vella Matranor, erste Tochter des Hauses Laramea aus der Provinz Kashuum! Wer sie ist?“ Mit diesen Worten riss sie der Fremden, die vollkommen unbeteiligt neben Janiel stand, den Schleier herunter. Eine auf schlichte Art hübsche Frau kam zum Vorschein, kleiner und rundlicher als Inani, mit seelenvollem Blick und langem blonden Haar. Sie trug ein Diadem aus Saphirsplittern, die mit ihrem Augenglanz zu wetteifern schienen, dazu ein passendes Kleid aus schwerem blauem Samt. Ihre Haltung war königlich. Sie strahlte Würde und Ruhe aus, und trotz ihrer Jugend mütterliche Weiblichkeit. Ihr gegenüber stand Inani, Sinnbild von Verlockung und Lebenskraft, erfüllt von Zorn und Aggression. Jeder, der diese beiden sah, hielt unwillkürlich den Atem an: Zwei Göttinnen schienen sich zu begegnen, die Göttin der Fruchtbarkeit und Liebe trat der Göttin des Krieges entgegen, und sie fürchtete sich nicht.
„Ich bin Corinma lys Ylanka be’Anmaga von Lynthis“, sagte die blonde Göttin leise. „Und auch ich bin keine Sklavin, über deren Nützlichkeit gefeilscht werden kann.“ Sie hob den Kopf und sah auf zu Ilat, der sie anstarrte wie eine Offenbarung. „Entscheidet, wen Ihr als Königin haben wollt. Wenn Ihr Euch gegen mich entscheiden solltet, erlaubt mir, als Gesandte meines Hauses Eurer Hochzeit mit der Dame Savera beizuwohnen.“ Sie knickste formvollendet, schenkte Inani dabei einen kühlen Seitenblick.
„Ilat, mir du hast gegeben dein ersten Versprechern. Halte dich daran!“, schrie Inani mit schriller, wutverzerrter Stimme.
„Du meinst sicherlich Versprechen“, korrigierte Ilat geistesabwesend. Es war deutlich zu sehen, wie sehr ihn diese Situation überforderte.
„Mit Verlaub, Eure Majestät, der Kronrat ist sich einig, dass die edle Dame Corinma die vorteilhaftere Partie wäre“, wagte einer der Fürsten zu sagen. Ilat winkte nur ungeduldig ab.
„Janiel, zu mir!“, befahl er hektisch.
Unsicher blickte Janiel zu Rynwolf, der kaum merklich nickte. Janiel verbeugte sich vor dem König und trat dann dicht zu ihm heran.
„Was rätst du mir? Wenn ich die Blonde wegschicke, gibt es einen Aufstand im Palast und Rynwolf stellt sich gegen mich. Ich hasse es, aber ich brauche die Priester!“, wisperte Ilat ihm ins Ohr, so leise, dass abgesehen von Inani wirklich niemand ihn belauschen konnte, obwohl alle es versuchten. „Wenn ich sie nehme, reißt die Hexe mir die Gedärme raus und tanzt auf meinem blutigen Leichnam!“
„Mein König, denkt nach, wen braucht Ihr dringender? Die Priester oder die Hexen?“, wisperte Janiel. „Ich sage, heiratet Corinma. Die Hexe wird Euch verfluchen und irgendwann wiederkommen, denn sie will Macht, und die könnt Ihr auf verschiedene Weise bieten.“
„Ich will sie in meinem Bett haben, Janiel!“, zischte Ilat, gerade noch leise genug.
„Geduld, bitte. Ich weiß, wie schwer das ist! Geduld, Majestät. Es wird wohl länger dauern, als Ihr gehofft hattet, aber es wird sich sicherlich fügen. Seid dankbar, dass Ihr diese schrillen Hexenweiber erst einmal los werdet!“
„Ich kann euch hören!“, fauchte Inani mit Gedankenkraft beide Männer an.
„Nimm sie, deine blondgelockte Göttin! Vergiss allerdings nicht, Ilat, ich will Rynwolfs Kopf!“
„Was glaubst du, was ich will, Hexe? Der verfluchte Bastard hat mir das hier doch erst eingebrockt!“, erwiderte Ilat, außer sich vor Wut und Enttäuschung.
„Ich werde dich daran erinnern.“
„Es ist entschieden!“, verkündete Ilat mit starrem Blick. „Ich werde die edle Dame Corinma von Lynthis zur Frau nehmen. Die Verlobung mit der Dame Savera ist hiermit aufgelöst.“
Einen Moment lang herrschte fassungslose Stille. Dann wirbelte Inani herum und winkte ihren Gefolgsdamen herrisch zu.
„Wir gehen! Noch nie ich bin so beleidigend gewesen!“
Sie rauschte an Rynwolf vorbei. „Das wirst du mir büßen, Sohn des Lichts!“, schrie sie ihn geistig an.
„Das Reich ist mein“, erwiderte er doppeldeutig – eine Anspielung auf die Intrige gegen Graf Orel, genauso wie auch ein Zeichen seines Triumphs.
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, hastete Inani auf die Tür zu. Mit einem Schrei wichen alle vor ihrem Pantherweibchen und den vier athletischen Hofdamen zurück, die mehr wie eine Leibgarde als liebliche Begleiterinnen wirkten. Inani drehte sich kurz zu ihnen um, und nickte Kythara, die unter ihrem Schleier selbst für Rynwolf nicht zu erkennen war, auffordernd zu.
„Geh zurück, tue so, als hätte ich ein Schmuckstück verloren. Janiel steht zwar gefechtsbereit, aber falls Ilat die Beherrschung verlieren sollte, fürchte ich um Corin“, sagte sie bittend auf Is’larr, winkte dabei unduldsam in den Raum hinein.
Kythara kehrte folgsam um, suchte scheinbar den Boden ab, während Inani weiter zur Tür eilte. Doch bevor die Diener sie öffnen konnte, wurde sie von außen aufgestoßen. Inani prallte zurück, als sie den Mann erkannte, der eintrat: Cero, Fürst von Barrand, Neffe von Rynwolf.