36.
„Begegne deinem schlimmsten Feinde stets wie deinem besten Freund. Sei höflich, höre, was er zu sagen hat, und töte ihn nur, wenn er ausdrücklich zuerst angreift. Möglicherweise wird er ja noch irgendwann einmal dein Freund. Oder er war es irgendwann einmal.“
Ehrenkodex der Nola
Leise summend schlenderte Chelsa zurück zu dem Felsen, mit dem Tylen verschmolzen war. Sie spürte die Blicke ihrer Gefährten im Rücken, die Sorge dieser beiden, die sie liebte. Die Tochter Taóns hatte ihnen die gesamten Erinnerungen an alle Leben, die sie jemals geführt hatten, zurückgegeben, und das waren unvorstellbar viele gewesen. So oft waren sie alle drei neu geboren worden und gestorben, ohne die Prophezeiung erfüllen zu können. Eine schwere Last, unter der Pera und Jordre sichtlich zu leiden hatten. Ihr selbst machte es wenig aus. Die Sphärenmusik der göttlichen Geschwister erfüllte ihr Bewusstsein bis in den letzten Winkel, und verdrängte allen Schmerz und Sorgen.
Die Fremde trat wieder aus dem Nebel. Chelsa betrachtete sie aufmerksam, bewunderte die animalischen Kräfte, die in dieser Frau steckten, die Tiefe der Liebe, die sie für alles empfand. Auch sie hatte die Musik der Götter gespürt, das war offensichtlich.
„Nimm diesen Kristall, Chelsa, so, dass du ihn nicht berührst. Er ist nicht für dich bestimmt, sondern für Osmege. Er muss ihn dir gewaltsam entreißen, verstehst du?“, fragte sie. Inani, das war ihr Name, Maondny hatte es gesagt. Sie besaß unvorstellbar große Macht. Chelsa lächelte und nickte. Achtlos steckte sie den Kristall ein, der in ein Stück Stoff gehüllt war, griff nach der Hand der Frau, deren Haut so seltsam schimmerte – nicht blassweiß wie bei einer Elfe, nicht steingrau wie ein Orn, sondern eher goldbraun – und strich über die Flammenschrift, die Inanis Handgelenke verzierte.
„Er wartet auf dich, in der anderen Welt, nicht wahr? Du könntest hier sterben, warum bist du gekommen? Du hast bereits gewonnen, was du besitzen wolltest.“
„Ich bin eine Tochter der Dunkelheit, Chelsa“, erwiderte Inani. „Das bedeutet, dass ich von der Göttin Pya erwählt worden bin. Meine Göttin verlangt, dass ich ihr diene, also gehorche ich. Pyas Werk beschränkt sich nicht auf meine Welt, ich diene ihr heute in Anevy, weil es ihr Wille ist.“
Chelsa nickte und wandte sich Tylen zu, dem Elf, der zu Stein erstarrt leiden musste.
„Lass mich dir nun helfen“, sagte sie. „Ich habe meine Macht von einst zurückerlangt, ich kann dich erlösen.“
„Dann erfährt Osmege, wo du bist! Du kannst mich sowieso nicht befreien, es gibt keine Rettung für mich!“
„Doch. Wenn ich den Felsen zerstöre, wirst du sterben. Danach musst du nicht länger leiden, beobachten, auf ewig gefangen.“
Singend berührte Chelsa das qualerfüllte Steingesicht, ließ sich weder von Jordres Fragen noch von Peras Hand aufhalten. Tylen öffnete sich der göttlichen Melodie, sie genoss, wie er Trost darin fand.
„Greift nicht ein“, hörte sie die Elfe sagen.
Chelsa lenkte die Macht der Erde in den Felsen hinein. „Leb wohl, Tylen. Mögen die Jenseitswächter gut zu dir sein.“
Sie spürte seine Dankbarkeit, in dem Augenblick, als die Felswand unter ihren Händen zerbrach. Die Explosion ließ Steine auf sie alle herabregnen, aber niemand wurde getroffen.
Stille folgte.
Das Lied war beendet, Tylen befreit. Ihre Gefährten und die beiden Fremden standen inmitten der Trümmer. Dann erhob sich ein alles durchdringender Schrei.
„Osmege weiß, was du getan hast, Chelsa“, sagte die Elfe lächelnd. „Er zerfrisst sich in Angst und Wut.“
„Inani, könntest du uns noch einmal durch den Nebel bringen? Jordre wird dich führen, er weiß am besten, wie man den Dunklen findet.“
Chelsa ergriff Peras Hand, folgte den anderen ohne zu zögern in den Nebel hinein. Es war Zeit, ihrem Schicksal zu begegnen. Der Siegelstein wartete schon zu lange auf seine Zerstörung.
~*~
Inani schreckte zurück vor dem intensiven Hass, der ihnen entgegenschlug, als sie den Nebel verließen. Sie hatte diese steinernen Hallen bereits in Maondnys Gedanken gesehen, eine Festung, geschaffen aus einer Wüste. Ein runder Stein schwebte in der Mitte dieser riesigen Leere. Magische Energien strömten von ihm aus, stark genug, um auf ihrer Haut zu knistern, obwohl sie ein ganzes Stück entfernt stand. Nicht weniger mächtig war die schlafende Kreatur, die neben dem Siegelstein angekettet lag. Ein Drache, wie sie sofort erkannte, obwohl sie niemals zuvor ein solches Wesen mit wachen Augen gesehen hatte. Seine schwarzen Schuppen glänzten in dem unirdischen Licht, das alles hier erhellte. Inani war wie gebannt von diesem Geschöpf, sie konnte sich nicht von seinem majestätischen Anblick losreißen. Der biegsame, einer gewaltigen Schlange nicht unähnliche Körper lag entspannt am Boden, seine Flügel dicht angelegt. Die Beine waren kurz und mit scharfen Klauen bewehrt. Sie spürte die Mächte von Feuer, Luft und Erde in diesem Drachen, so stark, dass es ihr den Atem nahm. Die Kette, die ihn fesseln sollte, schien mehr Schmuck zu sein. Er könnte jederzeit gehen, wenn er nur wollte. Es ist wohl diese Prophezeiung, die auch ihn bindet … Pya, die Elfen haben sich alle geirrt. Es ist nicht die Natur der Magie, die unbegreiflich ist, sondern die Gabe der Sicht. Sie ist es, die Macht der Prophezeiung, die selbst die Götter in die Knie zwingt!
Wieder spürte sie den Hass, der wie eine Faust gegen ihr Bewusstsein schlug und schaute auf. Osmege war gekommen.
Der Dunkle Orn stand vor dem Siegelstein und starrte sie alle an.
„Seid ihr also zu eurer endgültigen Vernichtung hier versammelt?“, fragte er leise. „Elfen, wiedergeboren in Orn. Ein Elfenmischling, erfüllt von Leid und dem Wissen um zu viele Dinge, die vielleicht niemals geschehen werden. Eine Fremde, erwählt von den Göttern, die nicht hierher gehört und keinen Platz in der Prophezeiung besitzt. Was wollt ihr in meinem Reich?“
„Eine neue Ordnung beginnen, Osmege“, erwiderte Maondny ernst. „Die Zeit der Elfen musste enden, denn sie war Gleichgewicht, das schon zu lange anhielt. Deine Zeit war das Chaos, aus dem der Neubeginn erwachsen wird.
Die Prophezeiung muss erfüllt werden, damit nun neue Ordnung entstehen wird.“
„Muss sie nicht!“, zischte Osmege. Schatten waberten über sein zerstörtes Gesicht, als ein Kampf um das vorherrschende Bewusstsein begann.
„Zerstöre ich die Prophezeiung, kann ebenfalls eine neue Ordnung entstehen. Ich habe die Macht dazu, Elfenmischling, und das weißt du.“ Aus seinen Augen schossen Blitze, auf Chelsa gezielt. Sie regte sich nicht, versuchte weder auszuweichen noch sich zu schützen. Inani stand zu weit entfernt, um handeln zu können. Doch Jordre und Pera sprangen vor, und die vernichtenden Energien trafen sie an Chelsas Stelle. Sie versuchten beide vergeblich, sich magisch zu schützen. Stumm sanken sie zu Boden, nicht tot, aber tödlich verletzt.
Inani wollte zu ihnen eilen, um ihnen zu helfen.
„Bleib!“, befahl Maondny. Erschüttert blieb Inani stehen.
„Und nun du?“ Osmege trat zu der Elfe und musterte sie von oben bis unten. „Unverkennbar Fin Marlas Brut, nicht wahr? Wird sie weinen, wenn ich dich töte?“
„Du kannst mich nicht töten, Osmege.“ Maondny lächelte sanft.
„Deine Kräfte sind weitaus schwächer als die deiner Eltern, und ich bin in den letzten Jahrhunderten gewachsen.“ Wieder waberten Schatten über seine Gestalt, die Stimme veränderte sich leicht. „Warum sollten wir versagen?“
„Finde es selbst heraus. Aber womöglich möchtest du erst einmal meine Freundin kennen lernen?“ Sie wies auf Inani, die in diesem Moment eine gewaltige Präsenz spürte, die fast so stark wie die eines Gottes schien. Eine Stimme erfüllte Inanis Geist mit solcher Macht, dass es sie fast in die Knie zwang.
„Inani … also bist du gekommen.“ Es war der Drache, der zu ihr sprach, obwohl es kein weiteres Zeichen dafür gab, dass er erwacht war.
„Wer bist du?“, fragte Inani verblüfft. Sie fühlte starke innere Verbundenheit zu diesem Drachen, als wäre er ihr Seelenvertrauter, ein Leben lang schon an ihrer Seite. Dabei war sie sich sicher, ihn heute zum ersten Mal zu erblicken.
„Ich bin Marjcheog, der letzte Drache Anevys. In der Nacht, als du zum ersten Mal ein Seelenbündnis schließen solltest, griff Pya in das Schicksal ein und brachte meine Gedanken nach Enra. Seit Jahren bin ich dein Seelenvertrauter, obwohl du mich weder rufen noch spüren konntest. Da ich ein Geschöpf der alten Zeit bin, kannst du mir nicht so nahe kommen wie deinen üblichen Vertrauten. Wenn du stirbst, verliere ich nur einen Gedanken, nicht mein Leben. Ich sehe, du bist bereits einem anderen Wesen der ersten Schöpfung begegnet … Ich bin wie der weiße Vogel in deiner Erinnerung.
Die Allianz zwischen unseren Seelen ist noch nicht vollendet, Inani. Du musst deine Bindungsfähigkeit an die Schlangen aufgeben, denn diese Kreaturen sind mir vom Wesen her zu ähnlich, obwohl sie an die Erde gebunden sind und ich zu gleichen Teilen Feuer, Erde und Luft angehöre. Opfere sie, erst dann kann ich dir nahe sein.“
Inani stand wie erstarrt, sie wusste nicht, ob sie richtig verstanden hatte, was Marjcheog von ihr verlangte.
„Meine Bindungsfähigkeit an Kyphras? Aber … wie soll ich sie opfern? Einen Arm könnte ich abschneiden, aber wie reiße ich mir ein Stück meiner Seele heraus?“
„Du allein vermagst dies nicht. Doch vor dir steht einer, der es nicht nur kann, sondern auch mit Freuden tun wird.“
Inani lauschte den Gedanken des Drachen, während ihr Herz zerbrach. Als Osmege sich ihr zuwandte, war sie bereit. Bereit, zu opfern, was sie mehr liebte als sich selbst.
„Was sollte mich aufhalten, dich zu töten, du hässliches Ding?“, fragte Osmege sanft. „Nur ein einziges Wort, und du bist eine von den verlorenen Seelen.“
„Nun, wenn du meinst, das wäre der klügste Weg“, erwiderte Inani mit einer Gelassenheit, die sie nicht fühlte. „Aber wenn du dich mit mir verschmilzt, wirst du nichts von meinen Fähigkeiten erlangen.“
„Und welche sollten das sein, die für mich interessant sein könnten? Deine Magie erhalte ich auf jeden Fall!“
„Ah, meine Lebenskraft, ja, die kannst du für dich nehmen. Doch was hältst du hiervon?“ Inani verwandelte sich in eine Kyphra. Osmege schrie überrascht auf, als er plötzlich dieses riesige Reptil sah. Nur einen Moment später stand Inani wieder in menschlicher Gestalt vor ihm. „In diesem Körper würdest du kaum Schmerzen empfinden müssen, da Schlangen weniger Knochen haben als Orn. Du würdest weniger leiden, da du die Gedanken der zahllosen Seelen in dir nicht mehr so deutlich wahrnehmen könntest. Eine Kyphra ist giftig und sie kann einen ausgewachsenen Mann ersticken, indem sie seinen Leib zerquetscht.“
„Und wie soll ich diese Fähigkeit von dir nehmen?“, fragte Osmege. Gier leuchtete in seinem Blick, es war deutlich, wie sehr er danach verlangte, sich ebenso leicht wandeln zu können.
„Vereine dich mit dem magischen Muster, das in dem Moment meiner Verwandlung entsteht. Das kostet ein wenig Konzentration, aber dir dürfte das leicht fallen, oder?“
„Und du gibst diese Fähigkeit einfach so weg? Was gibt es zu gewinnen? Glaubst du, ich schone dein Leben dafür?“
Inani lächelte traurig.
„Was ich damit gewinnen will, wirst du anschließend noch sehen. Das ist dein Risiko, Osmege. Deine Entscheidung.“
Er packte sie am Hals und drückte kraftvoll zu. Es kostete Inani alle Selbstbeherrschung, die sie besaß, um ihn dafür nicht in Stücke zu reißen. Beherrschung, die sie leidvoll erlernt hatte …
„Wag es nicht, mich zu betrügen, Weib!“, zischte er. „Los, sag die Wahrheit! Ist es gefährlich, diese Fähigkeit zu stehlen? Warum bietest du mir an, was doch wertvoll für dich ist? Willst du mich betrügen?“
„Nein“, röchelte sie und kämpfte darum, sich nicht zu wehren. Kurz bevor sie erstickte, ließ Osmege sie los und warf sie von sich wie eine Lumpenpuppe. Inani blieb keuchend liegen, es dauerte lange, bis sie sich wieder bewegen konnte. Osmege wartete ungeduldig, lief auf und ab, warf seinen Gefangenen dabei hasserfüllte Blicke zu. Chelsa stand vollkommen still, starrte mit leeren Augen auf ihre sterbenden Gefährten zu ihren Füßen, die um jeden Atemzug ringen mussten. Maondny war völlig entrückt, ein goldener Schimmer lag über ihrer aufrechten Gestalt. Als Inani sich erhob, zerrte Osmege sie zu sich heran.
„Verwandle dich. Sofort!“
Inani begann, sich in eine Kyphra zu wandeln. Zugleich rief Osmege sein magisches Wort. Sie spürte, wie etwas aus ihr herausgerissen wurde, mit so viel Gewalt, dass sie schrie. Nicht vor Schmerz, sondern aus Entsetzen über die Leere, die in ihr zurückblieb, wo zuvor das Wesen der Kyphra war.
Sofort fühlte sie, wie eine andere Macht sich in ihr ausbreitete. Beängstigend und fremd. Der Drache war kein Teil von ihr, nicht, wie die Schlangen es gewesen waren. Sie erinnerte sich nun an seine Gegenwart, wie er damals, als ihre Seelengefährten sich offenbarten, zu ihr gekommen war.
„Fürchte dich nicht. Sieh, was Osmege geschieht!“
Der Dunkle Orn kämpfte sichtlich gegen sich selbst, die Schatten umwallten ihn mit solcher Heftigkeit, dass es schien, als würde er in einen Strudel aus finsterem Licht ertrinken.
„Du hast mich betrogen! Wie verwandelt man sich in eine Schlange?“, brüllte er voller Zorn.
„Oh, das ist leicht. Du musst dich lediglich innerlich diesem Wesen öffnen. Es voller Liebe zu dir lassen, ihm Raum geben, sich in dir entfalten zu können, während du selbst zurückweichst“, erklärte Inani mit kaum verhüllten Spott.
„Ich trage ein ganzes Volk an Seelen in mir! Wie soll ich die alle zurückweichen lassen?“, kreischte Osmege.
„Das ist nicht meine Schuld“, erwiderte sie mit geziertem Lächeln.
Brüllend vor Hass wollte er sich auf die Pya-Tochter stürzen, doch nun trat Chelsa vor.
„Warum hast du ein ganzes Volk in dich aufgenommen, das dir nichts nutzt, sondern schadet, Osmege?“, fragte sie und betrachtete dabei abschätzig dieses zerschlagene, grauenhafte Geschöpf von oben bis unten.
„Ich muss die Orn schützen. Die Elfen wollten meine Leute auslöschen, begreift das denn niemand?“
„Habe ich die Lügen vorhergesehen, die du mir erzählst, und es nur vergessen, Osmege?“, fragte Chelsa verträumt. „Deine Schwäche? Die Schmerzen? All diese Narben in deinem Gesicht …“ Er stand still, wie erstarrt, als ihre Fingerspitzen über seine Wangen strichen, die gewaltsam verschobenen Knochen ertasteten, sanft über sein wirres Haar streichelte. „Du musst unentwegt leiden, nicht wahr?“, hauchte sie kummervoll. „So viel Schmerz ist in dir, du leidest unter den Qualen, die du selbst den unzähligen verlorenen Seelen bereitest. Warum nur wolltest du sie alle in dir tragen? Warum konntest du nicht aufhören, obwohl du von Anfang an wusstest, dass du dich selbst folterst?“
Eine Erinnerung tauchte in ihr auf, die Erinnerung an eine Blume, deren Duft Weisheit und Erkenntnis schenken konnte.
„Du bräuchtest eine Avendemyl, Osmege, dann würdest du vielleicht verstehen, warum du diesen Weg gegangen bist.“
„Wag es nicht“, wimmerte Osmege, doch er konnte sich nicht von ihr losreißen.
Chelsa summte leise, in sich versunken.
„Ich hab mich in Kaleno umgebracht, genau auf dem Platz der Mitte. Wusstest du das? Direkt neben der Avendemyl, die gerade aufgeblüht war. Ich habe Dinge gesehen … Sie waren nicht für mich gedacht. Ich habe dich sterben sehen, Osmege, als ich mir selbst das Leben nahm. Es war traurig, dein Ende, weißt du?“
Tief unter der Erde, in den Ruinen von Kaleno, erblühte in diesem Moment eine einsame Rose, geschaffen von dem Mitgefühl eines jungen Mädchens mit einer zerstörten Kreatur. Ihre Träume von einer lang vergangenen Zeit wandelte die Blume, und zum ersten Mal seit unzähligen Jahren entfaltete eine Avendemyl ihre Blätter – die verlorene Blume. Niemand war da, um ihre Gabe zu huldigen, aber sie kündete dennoch vom Beginn einer neuen Zeit. Chelsa sah es als Vision vor ihrem inneren Auge. Tränen rannen über ihr Gesicht, sie trauerte um Osmege und all das Leid, das sie verursacht hatte. Sie wusste, was sie getan hatte. Als Kind hatte sie ein strenges Verbot gebrochen. Als Frau hatte sie das Schicksal Anevys besiegelt. Es war Zeit, für diese Taten zu sühnen.
Peras schmerzliches Wimmern riss sie aus ihrer Trance.
„Es ist meine Schuld, nur meine. Meine Schuld, was mit euch geschah, Onme und Ismege. Meine Schuld, dass Jordre und Pera sterben müssen. Vergebt mir! Ich bitte euch, vergebt mir!“, rief sie schluchzend und warf sich neben ihren tödlich verletzten Gefährten zu Boden.
„Vergebt mir!“
„Nicht, Chelsa …“, wisperte Jordre, während aus seiner Brustwunde ungehindert Blut sickerte. Er hielt Peras Hand umklammert, sie beide griffen nach Chelsa. „Es war und ist eine Ehre, für dich zu sterben …“
„Tu es, Chelsa. Beende den Weg. Tu es für uns alle“, flehte Pera leise. Sie küsste Chelsas Hand, dann sank sie in sich zusammen, ohnmächtig oder sterbend.
Osmege stand unbeweglich da, und er weinte, erfüllt von dem Schmerz, der ihn schon viel zu lange zerriss.
Auch Inani weinte, als sie all diesen Leid sah, obwohl sie diese beiden Orn nicht kennenlernen durfte. Ihr Tod war so sinnlos!
„Es dient der Prophezeiung!“, widersprach Marjcheog diesem Gedanken verwirrt.
„Das ist mir gleich. Eine Prophezeiung, die eine ganze Welt zu solchem Elend verdammt, ist grausam. Womöglich wäre Osmege ohne diese Voraussage schon lange zuvor gerichtet worden!“
„Vielleicht hätte es aber auch nichts und niemanden mehr gegeben, der ihn hätte aufhalten können. Das werden wir nie erfahren.“
Sie spürte seine Nachdenklichkeit, wie er behutsam in ihrer Seele suchte, um das Mitgefühl und die Trauer zu begreifen, von dem sie bewegt wurde.
„Jetzt verstehe ich, was Fin Marla tatsächlich meinte“, fauchte er. „Ich stimme zu, Inani. Diese Prophezeiung ist grausam.“
„Chelsa braucht dich. Sie wartet auf dich, Marjcheog“, flüsterte Maondny, die zu ihm getreten war. Sie nickte der jungen Orn zu.
Chelsa erhob sich und sprach laut:
„Marjcheog wird frei, sein Feuer frisst die Macht, die du nicht besitzt, gezähmt von der Macht, die er nicht kennt. Und die Elfen kehren heim, zu deiner Vernichtung. In fernen Tagen, wenn nicht viele mehr sind.“
Sie beugte sich noch einmal über Pera und Jordre, wisperte Worte des Abschieds. Dann sprang sie auf den Siegelstein und breitete lächelnd die Arme aus. Ein hoher Ton erklang, klar und durchdringend, als sie zu singen begann, das Lied der Götter, und drehte sich dazu langsam um die eigene Achse. Osmege hinderte sie nicht, er war weiterhin gefangen in dem Sturm viel zu lange unterdrückter Empfindungen. Er trauerte um das, was er geworden war, was er niemals hatte sein dürfen, um all das, was er getan hatte und nicht bedauern konnte.
„Reue …“, flüsterte er.
Chelsa tanzte, wie sie es versprochen hatte, wie die Prophezeiung es verlangte, und kümmerte sich nicht um das Danach.
Osmege reagierte nicht einmal, als Marjcheog sich aufrichtete und die Kette abschüttelte wie einen lästigen Armreif.
„Ich weiß nicht, wie ich diese Aufgabe erfüllen soll“, grollte er. „Noch vor wenigen Augenblicken hätte ich es tun können. Jetzt habe ich durch dich erfahren, was Reue, Schuld und Mitgefühl für ein Leid bedeuten. Wie soll ich es tun?“
„Genauso, wie du es vor einigen Augenblicken getan hättest. Doch diesmal wirst du es bedauern“, erwiderte Inani leise.
„Es ist ein Geschenk, Marjcheog, auch, wenn es dir als Fluch erscheinen mag. Du wirst einer ganzen Welt Hoffnung schenken. Zögere nicht“, sagte Maondny.
Chelsa lächelte ihnen zu, ohne ihr Lied zu unterbrechen, drehte sich singend langsam auf dem Stein, der den Weg zwischen zwei Welten versiegelte.
Marjcheogs Flammen umfingen sie, hüllten sie ein wie ein glühender Umhang. Einen Moment lang wehte ihre Melodie noch in der riesigen Steinhalle nach. Dann herrschte Stille. Der Drache hatte die Steintänzerin von Jahrhunderten
des Leidens durch Wiedergeburt mit dem Tod erlöst.