1.

 

„Wage alles und sieh dann, was es zu gewinnen gibt!“

Sprichwort der Famár

 

Rastlos drehte Ilat sich in seinem Bett herum. Es war viel zu heiß, um an Schlaf auch nur zu denken, und seine Gedanken liefen unentwegt im Kreis. Noch immer hielt Rynwolf ihn mit Versprechungen hin. Wäre es nach ihm, Ilat, gegangen, hätte er längst ein paar Provinzfürsten als Geiseln genommen. Oder Krieg gegen irgendjemanden begonnen, egal wen. Er musste raus, raus aus diesem Gefängnis namens Roen Orm! Auf einem Pferderücken, das Schwert in der Hand, quälten ihn keine Gedanken. Keine Stimme, die von Versagen flüsterte. Kein Verlangen nach Blut und Schmerz.

Etwas Kaltes, Feuchtes, streifte seine Wange. Ärgerlich schlug Ilat die Lider auf. Nebel? In seinem Schlafzimmer?

Er schloss die Augen wieder. Lästig, diese Träume. Man sollte nicht spät abends schweren Branntwein trinken. Zumindest nicht mehr als sechs Becher.

„Nun sieh mich endlich an!“, befahl eine spöttische Stimme. Ilat dachte kurz nach. Er kannte diese Stimme, es war keine von seinen eigenen. Die Stimme einer Frau. Widerwillig gehorchte er und blickte auf. Dort saß tatsächlich eine Frau, viel zu hübsch, um eine seiner von Trunkenheit erzeugten Einbildungen zu sein. Falsch. Viel zu schön, um wirklich zu sein. Jammerschade!

„Inanna, oder?“, murmelte er.

„Dicht dran, mein König.“ Die rothaarige Gestalt an seinem Bett lächelte sanft. Doch, er kannte sie, sie war die Tochter einer Hexe.

„Imare?“, versuchte er es noch einmal und gab dann missmutig auf. Wen interessierten Namen?

„Inani. Du kannst allerdings jeden anderen Namen wählen, der dir gefällt“, beschied sie ihm lachend. Ilat verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte die Erscheinung an. Wenn seine Träume immer solche rassigen Weiber hervorbringen würden, könnte er sich glatt das Aufwachen abgewöhnen!

„Ich will dir den einen oder anderen Vorschlag machen, der dir gefallen könnte, Ilat.“ Sie drehte sich ein wenig, was ihm einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté gewährte, und das mit Absicht, wie ihr Lächeln bewies. Er griff nach ihr, aber sie schlug ihm auf die Finger.

„Ah ah, nicht so hastig, werter König“, rief sie lachend. „Es ist kein Zeichen mangelnder Bildung, dass ich dich duze oder so wenig Respekt und Angst vor dir zeige. Du weißt genau, was ich bin, nicht wahr?“

Ungeduldig verdrehte Ilat die Augen. „Du bist eine Hexe, ja. Na und? Muss ich mich jetzt fürchten?“, fragte er gelangweilt.

„Ein bisschen vielleicht. Ich kann dich auf tausend verschiedene Arten quälen und töten, wenn ich das will.“ Ihre Iriden schimmerten in einem noch tieferen Blau als zuvor, nur ganz kurz, als sie ihre Hand auf seinen Bauch legte. Intensiver Schmerz durchzuckte Ilats Körper, von solcher Gewalt, dass er nicht einmal schreien konnte. Nur einen Moment später lag er zusammengekrümmt auf dem Boden und rang keuchend um Atem, blind vor Tränen. Er wusste nicht, wie er dorthin gekommen war, wusste nur, die Schmerzen waren fort, und einen Herzschlag lang war er bereit alles tun, damit sie niemals wiederkämen. Doch Ilat war kein Mann, der sich leicht einschüchtern ließ. So würdevoll wie es ihm möglich war rappelte er sich auf, starrte finster auf die Hexe nieder, die ruhig auf seinem Bett saß – seinem Bett! – und ihn beobachtete.

„Wenn du mich zu Tode foltern wolltest, hättest du nicht aufgehört“, knurrte er, zitternd vor kaum beherrschtem Zorn. „Du willst etwas von mir, Hexe. Also, ich lausche!“

„Heirate mich, Ilat. Mach mich zu deiner Königin und lass zu, dass ich Rynwolf vernichte. Er ist der Mörder meiner Mutter, ich will ihn sterben sehen. Die Zeit ist reif dafür, ich bin stark genug geworden, mich mit ihm zu messen.“ Sie trat dicht an ihn heran. „Du bekommst meinen Körper, Ilat. Ich ertrage großen Schmerz und kann mich selbst heilen, du könntest mit mir spielen, ohne dich je zurückhalten zu müssen. Du gewinnst mit mir eine Königin, die das Volk anbeten wird, und meine Magie wird deine Feinde zerschmettern. Gib mir den Thron an deiner Seite, und all das hier ist dein.“ Sie zerriss achtlos ihr Kleid, nackt stand sie vor ihm. Ilat verschlug es den Atem. Die adligen Damen, die für gewöhnlich seine Laken wärmten, waren entweder magere junge

Mädchen oder üppige weiche Frauen. Dieser Körper hingegen war sichtlich nur an einer Stelle weich und üppig und ansonsten von oben bis unten eine einzige sinnliche Verlockung. Gelassener Spott lag in dem eisblauen Blick, Intelligenz, große Kraft, verborgener Schmerz. Ilat studierte das schöne Gesicht, seine Faszination war mittlerweile größer als die sexuelle Gier.

„Du trägst bereits großen Schmerz in dir“, sagte er nachdenklich und ergriff ihre Hände. Irgendetwas an ihren Handgelenken war seltsam, die Haut schien makellos, und doch prickelte es in seinem Nacken, als er sie dort berührte. „Du verbirgst dich hinter deinem Spott und deiner Magie, um deine Narben nicht zeigen zu müssen.“ Er stellte sich hinter sie, fuhr zärtlich über ihre schmalen Schultern. Spürte die harten Muskeln, die sich unter seinen Fingern anspannten. Das hier war eine Kriegerin, so widersinnig es klingen mochte. Frauen kämpften nicht, sie wurden beschützt. Für Hexen galten wohl andere Regeln.

„Du gibst dich mir hin, wenn ich dir zu deiner Rache verhelfe?“, fragte Ilat, während er wieder vor sie trat, ganz dicht an sie heran. Er strich mit dem rechten Zeigefinger über ihren Hals hinab, zwischen ihre Brüste. Ihr Blick verhärtete sich, dennoch spürte er keine Angst und sie zuckte nicht zurück. Oh ja, sie würde sich ihm darbieten. Nicht aus Lust, und auch nicht mit jener selbstzerstörerischen Gleichgültigkeit, die Ilat schon bei einigen Frauen erlebt hatte. Frauen, die unter der Hand von Männern gelitten hatten, bis sie einen Schutz um ihre Seele legen konnten, durch den kein äußerer Schmerz mehr drang. Diese Hexe hatte gelitten, zweifellos, und der Schutzring um ihre Seele war aus unzerstörbarem Stahl. Aber es war kein Mann, der ihr das angetan hatte. Sie würde anders auf ihn reagieren, wenn dem so wäre. Diese Härte … Und noch etwas anderes. Sie liebte einen Mann, er spürte es. Sie war verliebt und begann trotzdem dieses Spiel mit einem wahnsinnigen König. Faszinierend, gewiss.

„Sag mir, wovor du Angst hast“, befahl er. Die Hexe zögerte. Einen Moment lang wirkte sie jung, beinahe mädchenhaft, und verletzlich. Sie sah kurz zu Boden, danach hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

Ja, sie musste ihm ihre Angst offenbaren, das war ihr klar.

Ilat genoss diesen winzigen Anblick von Schmerz und die Macht, die er nun besaß. Sie wollte etwas, das nur er ihr geben konnte, darum musste sie sich beugen.

„Sag es mir, sonst kannst du gehen!“

„Ich fürchte mich davor zu lieben, geliebt zu werden und diese Liebe zu verlieren“, bekannte sie tonlos.

Ilat nickte. „Also bist du unangreifbar für mich, denn ich kann dich nicht lieben, und du wirst wohl außer Mitleid und Verachtung nichts für mich fühlen. Was ist mit dem Mann, den du liebst?“

Sie zog die Augenbrauen hoch, versuchte aber nicht zu leugnen, was Ilat so deutlich erkannt hatte.

„Er fürchtet sich davor, dass er meine Liebe nicht verdient haben könnte und sie dadurch verlieren wird.“

„Ein Zweifler also? Und, hat er sie verdient, deine Liebe und Aufmerksamkeit?“

„Mehr als du“, parierte Inani in dem gleichen spöttischen Tonfall, mit dem er gefragt hatte.

Ilat seufzte. Er konnte sie nicht beherrschen, es war deutlich spürbar, dass sie nicht gelogen hatte und nur diese einzige Schwäche besaß. Diese Hexe war ihm mehr als ebenbürtig, so etwas hatte er noch nicht erlebt. Ob ihm das gefiel, konnte er nicht entscheiden.

„Vielleicht will ich dich gar nicht?“, sinnierte er und zog sich einen Schritt von ihr zurück. Inani stutzte, einen Moment lang überrascht, doch sie ließ sich von ihm nicht täuschen.

„Was dein Körper will, Ilat, ist nicht zu übersehen“, sagte sie leichthin. „Verlangst du mehr? Weder meine Seele noch mein Herz stehen zu Gebot. Du kannst diesen Leib als Spielzeug haben, sobald er von Roen Orms Krone geschmückt wird, du kannst dir meine Magie nutzbar machen und die Welt unterwerfen. Was willst du noch?“

„Nichts mehr“, murmelte er. Schwermut überflutete sein Bewusstsein, schwarzes, hoffnungsloses Nichts. Er wollte nicht denken. Am liebsten hätte er Inani genommen, sofort, mit Gewalt, sie getötet und sich so seine Ruhe gesichert. Er wusste, dieser Frau war er nicht gewachsen, und sie würde mehr von ihm verlangen, als er geben konnte. Sollte er sie wegschicken? Konnte er ein solches Angebot ausschlagen?

Nein. Er wollte spielen. Er brauchte alles was sich bot, um sich vor der großen Leere in seinem Inneren abzulenken. Die Stimmen fernzuhalten, die ihn quälten, wann immer er nüchtern war.

Erschöpft taumelte Ilat zu seinem Bett und ließ sich schwer niederfallen.

„Ich kann auf Rynwolf nicht verzichten, ich plane Krieg,

einen großen, wichtigen Krieg. Es würde zu Unruhen kommen, wenn der Erzpriester jetzt stirbt, so wie damals bei Garnith. Schlimmer noch, denn durch den nahenden Tod meines Vaters waren alle abgelenkt.“ Er musterte sie vorwurfsvoll. „Wart ihr das auch, ihr Hexen?“

„Garnith starb durch meine Hand“, grollte sie, und für einen Moment lang leuchteten ihre Augen wie Bernstein. „Ich war es, die ihn über Jahre hinweg in den Wahnsinn trieb, aus Rache für das, was er Unschuldigen angetan hatte. Sei unbesorgt, Ilat, Rynwolf würde weder heute noch morgen sterben. Gewähre mir deinen Schutz und lasse dich ein auf mein Spiel. Es wird dir gefallen, es beinhaltet Gewalt, Intrigen, Lügen und Täuschung. Sei auf meiner Seite, wir werden viel Spaß haben. Wenn du mich hast, wirst du keinen Rynwolf mehr brauchen, um Krieg führen zu können.“ Nun schnurrte sie wieder wie ein Kätzchen, diese kleine Bestie, schmiegte sich an ihn, biss spielerisch in seine Schultern. Ilat seufzte erneut. Nein, er konnte dieses Angebot nicht ausschlagen. In den Krallen dieser Raubkatze umzukommen war vielleicht nicht die schlechteste Art zu sterben …

„Es sei“, sagte er. „Rynwolfs Tod und der Thron dieser Stadt als Bezahlung für jegliche Art von Kurzweil und Macht, die du mir bieten kannst.“

„Roen Orm“, flüsterte Inani, Triumph glühte in dem stolzen Gesicht.

„Roen Orm“, bestätigte Ilat. Oh ja, er hatte die ewige Stadt an eine Hexe verkauft, ohne zu wissen, ob sie ihm wirklich geben würde, was sie versprach. Es war ihm gleichgültig, sollte sie eben untergehen, diese Stadt! Aber möglicherweise gab es doch einen Weg, Inani in die Knie zu zwingen? Sie zu zerbrechen? Eventuell, indem er jenen Mann fand, dem ihr Herz gehörte?

Nur wer wagt, kann gewinnen!

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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