9.
„Was uns trennt, ist mehr als nur Körperlichkeiten oder Lebensweisen. Zwischen unseren Völkern gibt es keine Gemeinsamkeit, nur Hass und Tod.“
Überliefertes Zitat aus einem Gespräch zwischen Egmolis, Anführer der Nola, und einem Loy-Sippenführer, ca. 580 n. Gründung der Stadt
Es war bereits dunkel, als Avanya und Eiven die Großen Ebenen erreichten. Avanya war froh darüber, nach allem, was Eiven ihr erzählt hatte, wollte sie dieses Gebiet nicht sehen. Offenes Grasland, ohne Grenzen, mit nur wenigen Bäumen, wie sollte sie das ertragen? Schon in den Wäldern hatte sie Schwierigkeiten, mit der Weite zu leben, hatte sich allerdings leidlich daran gewöhnt. Dieses Problem wollte sie auf Morgen verschieben, dann war es immer noch früh genug dafür.
„Lass mich deine Wunde ansehen, du hast viel Blut verloren“, sagte sie. Eiven hatte beharrlich geschwiegen, seit sie von der Loy-Patrouille entkommen waren, den ganzen restlichen Tag keinen Moment Ruhe zugelassen, bis sie endlich dem Gebiet der Bussarde entkommen waren. Sie hatte gehofft, das angespannte Schweigen würde jetzt, wo sie keine weiteren Loy mehr zu fürchten hatten, nachlassen, aber dem war nicht so.
„Unnötig“, brummte er knapp und entzog sich ihrer Hand. Avanya konnte gut in der Dunkelheit sehen, gut genug, um sich Sorgen über die Blutmenge zu machen, die Eivens Weste tränkte. Vermutlich war es nicht so schlimm, dass ein ausgewachsener Loy in Gefahr geriet, sie konnte sich allerdings nicht sicher sein. Vergiftet war Lishars Speer wohl nicht gewesen, dennoch konnte sich die Wunde entzünden, wenn sie nicht versorgt wurde.
„Eiven“, begann sie wieder, doch er unterbrach sie sofort.
„Mit mir ist alles in Ordnung.“ Mit einem Satz verschwand er in dem Baum, unter dem sie angehalten hatten.
Avanya wippte einen Moment lang auf den Fersen und starrte wütend in die dunkle Höhe.
„Es tut mir leid, dass ich uns in Gefahr gebracht habe“, sagte sie dann leise und lehnte sich gegen den Baumstamm, um das Gefühl der Verlorenheit, das sie plötzlich zu überwältigen drohte, ertragen zu können.
„Ich hatte ein Geräusch gehört und wollte sehen, ob wir in Gefahr sind. Drei Loy standen da neben der Quelle und unterhielten sich angeregt, ich wollte hören, über was. Auf die Idee, dass noch einer von denen herumlaufen und mir auflauern könnte, bin ich erst gekommen, als es schon zu spät war.“
Sehnsüchtig blickte sie in die Baumkrone, wo sie Eivens Silhouette gerade noch ausmachen konnte. Er rührte sich nicht, gab keinerlei Antwort. „Ich wollte mich ein bisschen herumschubsen lassen und weglaufen, wenn sie einen Moment lang nicht aufgepasst hätten. Nola sind sehr gut darin, sich zu verstecken, wenn sie wissen, dass sie verfolgt werden. Zuvor bist du gekommen, ich hatte wirklich Angst um dich, mehr als um mich selbst – ich bin doch nur eine komische kleine Gestalt für diese Krieger gewesen, du hingegen ein Feind!“
Als weiterhin Schweigen die einzige Antwort war, hieb Avanya mit den Fäusten gegen den Baumstamm.
„In die Abgründe mit diesem sturen Steinkopf von Loy!“, knurrte sie wütend.
„Maulwürfe klettern nicht auf Bäume“, fuhr sie halblaut fort und musterte den Stamm von oben bis unten. Kalte Schauder jagten über ihren Rücken. „Heißt nicht, dass sie es nicht könnten, wenn sie wirklich müssten. Sie tun’s nur einfach nicht.“ Mit diesen Worten umklammerte sie einen tiefhängenden Ast und zog sich in die Höhe. Sie war selbst überrascht, wie leicht es ihr fiel, ihre Arme waren stark genug, sich rasch nach oben zu arbeiten, und es war dunkel genug, dass sie sich einreden konnte, der Boden wäre ganz nah. Entschlossen kämpfte Avanya sich bis hinauf zu dem Ast, auf dem Eiven sich niedergelassen hatte. Der junge Loy hatte nichts von ihrer Annäherung bemerkt, so versunken war er in seine eigenen Gedanken. Er verlor beinahe das Gleichgewicht, als sie ihn plötzlich ansprach.
„Avanya? Aber was machst du denn hier oben?“
„Zu dir kommen!“, zischte sie und klammerte sich leicht panisch an den Hauptstamm des Baumes, unfähig, sich zu Eiven hinüberzuschwingen. „Und erwähne bitte nie mehr ein Wort, das mich daran erinnert, nicht auf festem Boden zu stehen, verstanden?“
„Bei allen Sternen und Sturmwinden, sind Nola immer so starrsinnig?“, fragte Eiven verblüfft. Er bot ihr die Hand zur Hilfe, doch als er sah, dass sie bewegungsunfähig feststeckte, weder hinauf- noch runter konnte, packte er sie kurz entschlossen, riss sie gewaltsam von ihrem Platz los und trug sie zurück zum Boden. Er spürte, wie sie zitterte und drückte sie fest an sich. Es fühlte sich gut an, jemanden im Arm zu halten, besser, als er sich je erträumt hatte.
„Warum kletterst du auf einen Baum, wenn du solche Höhenangst hast?“, fragte er, schwankend zwischen Lachen und Ärger.
„Damit du mit mir reden musst“, fauchte sie, schlug gegen seine Schultern, klammerte sich dann aber hastig an ihn, obwohl sie längst in Sicherheit war. „Oder hast du mein zartes Stimmchen einfach nicht gehört, so hoch in deinem luftigen Nest?“
„Doch! Selbstverständlich habe ich dich gehört, ich wusste nur nicht, was ich sagen sollte.“ Eiven setzte sich bequem zurecht und lehnte sich gegen den Baum. Es überraschte ihn, dass Avanya sich immer noch an ihn drückte, seine Umarmung zu suchen schien. Ihr ruhiger Herzschlag verriet, dass sie sich von ihrem Schreck erholt hatte. Sollte er sie von sich schieben? Eigentlich fühlte es sich viel zu gut an, ihre Nähe und Wärme zu spüren …
„Ich hatte solche Angst um dich, Avanya“, bekannte er zögerlich. „Angst, sie könnten dir etwas Ähnliches antun wie es meiner Mutter widerfahren ist … oder mir.“ Scham brannte heiß in seinem Inneren, kaum erträglicher Schmerz einer Wunde, die noch viel zu frisch war. Niemals hatte Eiven darüber sprechen wollen, niemandem von dieser Schande erzählen, aber diese Nola hatte eine ganz eigene Art, seine innere Abwehr zu stürmen. Er wartete regelrecht auf Avanyas Abscheu, dass sie von ihm abrückte, ihn nie wieder berühren wollte, ihn, der so entehrt und beschmutzt worden war. Erstaunlich, wie sehr dieser Gedanke schmerzte. Doch wie schon zuvor weigerte sich dieses seltsame Wesen, seiner finsteren Erwartung gerecht zu werden; stattdessen schlang sie die Arme nur noch nachdrücklicher um ihn.
„Ich hasse sie“, flüsterte sie an seiner Schulter. Sie saß auf seinen Schenkeln, und in dieser Haltung war der knappe halbe Schritt Größenunterschied zwischen ihnen weniger bedeutsam. Eiven, der nie berührt worden war, außer, um bestraft oder fortgestoßen zu werden, fühlte sich regelrecht zerrissen. Ein Teil von ihm genoss diese Nähe so sehr, dass er Avanya nie wieder loslassen wollte. Ein anderer Teil fühlte sich unbehaglich und wollte irgendwo sein, egal wo, nur nicht hier. Ein dritter Teil fürchtete, dass sie ihn nur mit Freundlichkeit locken wollte, um anschließend noch härter und grausamer zuschlagen zu können.
„Ich hasse diejenigen, die dir das angetan haben, Eiven. Es gibt kein Wort in Nileri oder Roensha, das meinen Hass wirklich ausdrücken kann.“ Sie hob den Kopf und blickte zu ihm hoch. Sie schimmerte wie schon zuvor von innen heraus, stark genug, dass er die zornigen Tränen auf ihren Wangen erkennen konnte. „Ich hasse sie. Ich hasse Lishar für den Schmerz, den er dir zugefügt hat, und diesen anderen Loy, der meinte, dein Gesicht zerschneiden zu dürfen.“ Sie streckte sich und fuhr behutsam über den Schnitt an seiner Wange.
„Es ist nichts, ein Kratzer“, stammelte er, erschüttert von der Wut, die er in ihr spürte. Wut, die nicht gegen ihn, sondern gegen seine Widersacher gerichtet war.
„Für deine Haut ist es nur ein Kratzer, ja. Etwas, das heilen wird, ob mit oder ohne Narbe. Ein bisschen Schmerz, der leicht auszuhalten ist. Aber es ist noch mehr, Eiven. Es ist ein Zeichen, dass sie dich quälen durften. Sie hätten alles mit dir tun dürfen, dieser Schnitt wäre nur der Anfang gewesen, ohne Triyak und das Flügelpferd.“
„Sie sind nicht grausam“, murmelte Eiven, bemüht, sein Volk zu verteidigen. „Es gibt Gesetze.“ Er wusste, dass diese Gesetze ihn nicht geschützt hätten. Vor Folter vielleicht, doch nicht vor dem Tod.
„Sie sind grausam. Die Loy wie auch ihre Gesetze“, sagte Avanya fest. „Aber wenigstens verstecken sie das nicht, wie die Nola. Deine Leute sind grausam zu ihren Feinden und allen Schwachen. Meine Leute sind gleichgültig zu ihren Familien und höflich zu jenen, die sie nicht besiegen können. Ein besiegter Feind braucht auf keine Gnade zu hoffen, muss allerdings keinen Schmerz fürchten.“ Sie schluchzte unterdrückt auf. „Bei meinem Volk geht es nur um die Gruppe als solche, jeder muss gehorchen, der Einzelne bedeutet nichts. Einen eigenen Willen darf man nur haben, wenn alle Pflichten und Aufgaben erfüllt sind und man nichts tut, was anderen schaden könnte. Ich war immer eine Außenseiterin, weil ich gerne in der obigen Welt gewandert bin, Menschen belauscht, Roensha gelernt habe. Man hat es mir erlaubt, weil es einen möglichen Nutzen für die Gemeinschaft besaß.“
„Avanya …“ Hilflos streichelte er über ihr wirres Haar und rang vergeblich um Worte.
„Ich liebe mein Volk, Eiven. Trotz all ihrer Grausamkeit und ihrer Gesetze, die keine Ausnahmen, keinen Ungehorsam erlauben, trotz ihres Glaubens, dass sie besser und zivilisierter sind als alle anderen Rassen, ich liebe sie. Und ich hasse sie. Über dein Volk weiß ich nicht genug, aber was ich erfahren habe, hasse ich, und ich liebe es. Diese Bussarde hatten das Recht, dich zu quälen, nur weil du auf dem falschen Fleck Waldboden gestanden hast. Meine Familie hatte das Recht, mich zu verstoßen, nur weil ein gutherziger Krieger sich um meine Verletzungen kümmern wollte, die er mir nicht einmal selbst zugefügt hat.“ Sie tastete vorsichtig über die Ränder der Wunde, die Lishars Speer an seiner Brust verursacht hatte, hielt jedoch sofort inne als sie spürte, wie er sich unter ihren Fingerspitzen anspannte. „Niemand aber, am allerwenigsten jemand aus deiner eigenen Sippe hatte je das Recht, dich so zu verletzen, dass du anschließend die Berührungen eines Freundes fürchten musst“, wisperte sie und suchte offen seinen Blick.
Eiven konnte und wollte ihr nicht ausweichen.
Er verstand dieses wundersame Geschöpf nicht, das so zerbrechlich
und doch so stark war, so tief verwundet und doch so heiter und
gelassen. Avanya versteckte ihren Schmerz nicht hinter einer Maske
von Unerschütterlichkeit, wie Roya, sondern litt offen, und
versuchte gleichzeitig, seinen Schmerz zu lindern.
Bevor er begriff, was seine Hände vorhatten, hob er bereits Avanyas
fremdartig schönes Gesicht an und strich mit den Daumenkuppen über
ihre Tapras. Ihre Haut war weich und warm wie ein Blütenblatt.
Alles an ihr erinnerte an eine Blume. Oder mehr noch an einen
jungen, biegsamen Baum. Wie die Weide, schlank und zart und
trotzdem erfüllt von Kraft.
„Ich habe nachgedacht“, flüsterte er heiser. „Meine Mutter hat mich nicht oft in ihrer Nähe geduldet, konnte es allerdings nicht immer verhindern. Ja, du hast Recht, Avanya. Loy haben ähnliche dunkle Hautfärbungen an Stirn, Schläfen und Hals, so wie du. Es fällt nur nicht so auf.“
Sie kam ihm halb entgegen, suchte den Kuss nicht weniger verzweifelt als er selbst. Eiven staunte über die Süße, die Zartheit ihrer Lippen, über das innige Gefühl der Geborgenheit, das ihn durchströmte. Nähe, die er niemals gekannt hatte. Nähe, die jeden Widerstreit in ihm zum Schweigen brachte. In diesem Gefühl verlor er sich, für lange Zeit, unfähig, etwas anderes wahrzunehmen als Avanya, die warm und lebendig in seinen Armen lag.
Als sie sich atemlos trennten, konnten sie beide nicht sprechen, umarmten sich nur, voller Angst, es könnte nur ein Traum gewesen sein, ein Irrtum, ein Versehen.
„Können sie sich so geirrt haben?“, fragte Avanya schließlich leise. „Die Überlieferungen, meine ich. Können sie alle falsch sein? Nola wie Loy glauben doch fest daran, dass es zwischen uns nur Feindschaft, Verachtung und Hass geben kann.“
Eiven zuckte die Schultern. „Du hast Lishars Worte gehört. Wie nannte er dich? Arg klein geraten und bleich wie … egal.“ Er grinste schief. „Meiner Meinung nach leidet er an einem bedauerlichen Sehfehler. Meiner Meinung nach ist es völlig gleichgültig, was irgendwelche Überlieferungen und Legenden behaupten. Vielleicht sind wir beide, du und ich, Ausnahmen. Oder Verrückte. Meiner Meinung nach können sich darüber Leute Gedanken machen, die mehr Zeit haben als ich.“ Er begann, jedes winzige Tapra auf Avanyas Stirn einzeln zu küssen, überrascht davon, wie richtig es sich anfühlte, und wie leicht es war. Wie sich Avanya an ihn schmiegte und sich nicht im Geringsten von ihm abgestoßen fühlte. Sie brachte die Scham und jegliche Angst in ihm zum Schweigen. „Mir ist es egal, ob du hell oder dunkel, Loy oder Nola bist. Du bist mir nah, das reicht als Antwort“, flüsterte sie. Sie schloss vertrauensvoll die Augen. „Wenn die alten Legenden nicht mehr ausreichen, wird es wohl Zeit für neue“, sagte sie voller Wärme und gab sich seinem Kuss hin.