19.
„Der Bund zwischen Hexen und ihren Seelenvertrauten ist nicht mit Worten zu erklären. Wer nie einem anderen Lebewesen so nahe war, dass es unmöglich war zu sagen, wo der eine aufhört und der andere seinen Beginn hat, der wird nicht begreifen, was dieser Bund bedeutet.“
Yosi von Rannam, „Töchter der Dunkelheit“
Kythara sank gegen die Mauer. Es hatte sie alles gekostet, Janiel hierher zu tragen, wobei sie nicht einmal sicher wusste, wo hier überhaupt war. Als sie in dem Park erwacht war, allein, abgesehen von Leichen und Inanis Geliebten, der kaum noch einen Funken Lebenskraft besaß, da hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben an Pyas Weisheit gezweifelt. Doch es war keine Zeit für müßige Fragen nach dem Warum, also hatte sie Janiel notdürftig versorgt und dann hinter sich hergezogen, durch ein Loch in der Mauer, hinaus auf die Straße, durch ein zerschlagenes Fenster außer Sicht. Sie befanden sich in einem dämmrigen Warenkeller, voller Fässer und Kisten – das Lager eines Händlers, eines Wirts, vielleicht auch eines Schmugglers. Es war gleichgültig. Sie würden an diesem Ort sterben, der junge Geweihte und sie selbst, wenn nicht schnell ein Wunder geschah. An sich war es ein Wunder, dass sie aus es aus dem Schlosspark heraus geschafft hatten, mehr konnte sie nicht verlangen, nicht von sich, nicht von den Göttern. Sie hatte solch schwere Brandwunden erlitten, es müsste schon eine starke Heilerin direkt bei ihr sein, wollte sie die nächste Stunde überstehen. Kythara musterte den jungen Mann, der zusammengekrümmt neben ihr lag, dem sie bereits alle magische Kraft geschenkt hatte, die sie vergeben konnte, um sein stilles Herz wieder zum Schlagen zu bewegen. Das war einfach, dafür zu sorgen, dass er auch unbeschadet erwachen würde, dazu brauchte es viel Erfahrung und Kraft. Ihr eigenes Leben interessierte sie nicht, sie hatte mehrere Jahrhunderte lang Pya gedient und war zu müde, um noch länger zu kämpfen. Dieses halbe Kind hingegen, noch keine dreißig Jahre alt … Janiel war wichtig. Mit zusammengebissenen Zähnen beugte sie sich über ihn und drehte ihn auf den Rücken. Die Schwertwunde war ernst, er würde innerlich verbluten, wenn ihm niemand half.
Kythara verfluchte ihre eigene Schwäche. Läge sie nicht bereits halb in Geshars Armen, wäre es leicht, den Jungen zu heilen! Wären nicht sämtliche Hexen aus Roen Orm geflohen, hätte sie sich nicht selbst quälen müssen.
„Es ist so gut, dass du Corin gerettet hast, aber hättest du deinen eigenen Leib nicht aus dem Weg halten können?“, flüsterte sie dem Bewusstlosen zu.
Etwas bewegte sich im Dämmerlicht des Raumes. Sie warf sich ohne nachzudenken über Janiel, schützte seinen Kopf mit ihrem Körper. Kämpfen konnte sie nicht mehr, lediglich bis zum letzten Atemzug dieses junge Leben verteidigen, das sie nicht aufgeben wollte. Dann erkannte sie das Pantherweibchens, und sank erleichtert in sich zusammen.
„Wo ist Inani, bist du ihr voraus gelaufen? Sie muss sich beeilen, sonst ist es zu spät für ihren Liebsten“, flüsterte sie der Leopardin zu. Die große Raubkatze kam zu ihr, rieb den Kopf an Janiels Hals, bevor es Kythara mit starrem Blick fixierte. Sie öffnete sich den Gedanken dieser Seelenvertrauten, ihrer Trauer und Sorge.
„Also ist alles verloren“, dachte sie, zu erschöpft, um noch Schmerz zu fühlen. „Ohne Inani ist alles verloren. Und Corin …“
„Solange sie atmet, wird sie kämpfen. Solange ich atme, werde ich kämpfen. Kämpfe du, Hexenkönigin, kämpfe um den Mann. Inani will es“, fauchte die Leopardin in ihrem Bewusstsein.
Kythara nickte und drängte Schwäche und Trauer zurück. Sie konnte weder Inani noch Corin beistehen, doch für Janiel bestand Hoffnung. Vielleicht kehrte Inani um, wenn sie Janiel spürte? Kurz sammelte sie alles, was sie an Erdmagie in sich fand, schenkte dem Verletzten ihre Kraft, bis sich die Welt vor ihr zu drehen begann und sie aufhören musste, bevor ihr das Blut in den Adern verkochte. Es schien ein wenig geholfen zu haben, Janiel atmete ruhiger, die Blutungen verhielten. Überleben würde er nicht, aber zumindest etwas länger durchhalten, womöglich sogar, bis eine Pya-Tochter kam, die ihn heilen konnte. Er schlug die schweren Lider auf und starrte verständnislos in ihr Gesicht.
„Inani …“, wisperte er. „Sie antwortet nicht mehr …“
„Sie lebt“, erwiderte Kythara mühsam. Die Leopardin drängte sich an Janiels Seite. Sie konnte den jungen Mann nicht heilen, ihm keine Lebenskraft schenken, nur mit ihrer Nähe trösten. Wie sollte Kythara ihn retten? Ratlos schaute sie von seinem schmerzverzerrten Gesicht zum Pantherweibchen. Da kam ihr ein tollkühner Gedanke. Was wäre, wenn …
„Was siehst du, nachts in deinen Träumen? Welche Augen verfolgen dich seit du denken kannst, von frühester Kindheit an?“
Er schwieg, zeigte nicht einmal, ob er ihre Frage überhaupt gehört hatte. Kythara packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn grob durch.
„Janiel, es ist wichtig. Denk nach! Was siehst du in der Dunkelheit? Wenn du vor Angst oder Schmerz nicht weiter weißt, was siehst du dann?“
Noch immer starrte er blicklos an die Decke, und wären da nicht die langsamen Atemzüge gewesen, Kythara hätte ihn für tot gehalten.
„Verdammt, Inani hat keinen Schwächling verdient! Sprich mit mir, sonst kann ich dir nicht helfen!“, flehte sie, verzweifelt und wütend zugleich.
„Ein Wolf …“ Die Worte glitten so leise über seine Lippen, dass Kythara nicht einmal sicher war, sie wirklich gehört zu haben.
„Ein Wolf? Janiel? Du siehst einen Wolf?“
„Ein grauer Wolf. Beobachtet mich im Schlaf …“ Langsam wandte er den Kopf zu ihr, betrachtete sie mit starren, leeren Augen. Kythara atmete tief durch und versuchte sich zu sammeln. Ein Wolf als Seelenvertrauter, das war ungewöhnlich. Oder zumindest wäre es für eine Hexe höchst ungewöhnlich gewesen. Janiel war ein Mann, ein Ti-Geweihter, für ihn war ein Wolf schon fast erstaunlich normal.
„Ein Wolf“, wisperte er. „Und ein weißer Vogel, ein großer … größer als Adler … Kenne ihn nicht, nur im Traum …“
Kythara lachte innerlich. Natürlich. Zwei Seelenvertraute, warum wunderte sie das jetzt nicht?
„Konzentriere dich auf den Wolf. Rufe ihn, du brauchst ihn an deiner Seite!“
„Wie?“
Sein Gesicht war aschgrau, bis auf ein helles Dreieck um Mund und Nase. Sie spürte den kalten Schweiß auf seiner Haut, und die Art, wie seine Atmung mal schneller, mal langsamer wurde, verhieß nichts Gutes.
„Bleib bei mir, verflucht!“ Sie schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. „Ruf den Wolf! Halte dich an seinem Bild fest, flehe ihn um Hilfe an. Janiel, hörst du mich?“
Er schloss die Augen, einen Moment lang verfiel Kythara in Panik. War es schon zu spät? Die Zeit lief davon, womöglich hatte Inani ihren Tanz bereits begonnen! Die Leopardin fauchte grollend, sie war ein sicheres Zeichen, dass Inani noch lebte.
„JANIEL?“
„Hör auf mich zu schlagen, ich rufe den Wolf“, wimmerte er fast unhörbar.
Erleichtert sank sie zur Seite. Ihre eigenen Verletzungen fraßen ihre letzten verbliebenen Reserven, sie wusste es. Aber das hier musste sie noch schaffen. Ihr Rabe hüpfte auf ihre Schulter und pickte vorsichtig gegen ihre Wange.
„Schenk mir ein letztes Mal deine Kraft!“
Kythara zuckte zusammen, als sie zuerst ihren Raben, dann eine fremde Präsenz spürte. Mühsam raffte sie sich hoch, innerlich jubilierend: Ein junger Grauwolf stand neben Janiel und leckte winselnd über das Gesicht des Verletzten.
„Kannst du ihn hören, Janiel? Die Gedanken des Wolfes, nimmst du sie wahr?“, drängte sie ihn.
„Ja.“
„Bitte ihn, seine Lebenskraft mit dir zu teilen. Er ist nun dein Seelenvertrauter, zögere nicht, von ihm zu nehmen. Wenn du sterben solltest, ist auch sein Leben beendet, du tust ihm also keinen Gefallen, wenn du ihn schonst.“
Ungeduldig wartete Kythara auf eine Veränderung, auf ein Zeichen, dass Janiels Zustand sich besserte. Sie verlangte viel von einem Mann, der erst begonnen hatte, seine Magie zu verstehen, aber es blieb nun einmal keine Zeit, ihn langsam an den Punkt zu führen. Da heulte der Wolf plötzlich auf, den Kopf weit in den Nacken geworfen und legte sich dann dicht neben Janiel nieder. Er fiepte schwach wie ein Welpe. Der junge Mann regte sich, steif und ungelenk, die tödliche Blässe war verschwunden. Kythara atmete erleichtert auf und nickte ihm zu. Sie fürchtete ein wenig, dass der Besitzer dieses Kellers gleich hereinstürmen würde, doch noch blieb alles ruhig.
„Das war gut, Janiel! Es gibt eine Menge Hexen, die ihrem Vertrauten nie so nahe kommen, dass sie ihre Lebenskräfte miteinander verschmelzen können.“ Ihre Mundwinkel zuckten, als er erschrocken die Lider aufriss. „Keine Sorge, ich hatte völliges Vertrauen darin, dass du es schaffst. Zur Not hätte ich dich geschlagen, bis dir keine andere Wahl mehr geblieben wäre.“
Sie stockte kurz, als eine Schmerzwelle ihr den Atem an, winkte dann lachend seine Sorge ab. „Geht schon. Um dich habe ich Angst, Janiel. Inani braucht dich, und ich brauche Inani. Du wirst erst einmal überleben, aber trotzdem musst du weg von hier. Dein Vertrauter kann dich führen.“ Sie wollte ihm nichts davon sagen, was sie in dem Geist der Leopardin gesehen hatte, es würde Janiel umbringen.
„Ich kann den Nebel nicht öffnen“, flüsterte er abwehrend.
„Ich auch nicht mehr. Folge dem Wolf, er kann dich in die Nebelwelt und raus aus Roen Orm bringen. Wag es nicht zu zögern! Du verschwindest jetzt, ich komme allein zurecht.“ Weder ihr Blick noch ihr Tonfall ließen Diskussion zu. Langsam versuchte Janiel aufzustehen, doch seine Beine versagten ihm den Dienst, immer wieder sank er in sich zusammen.
„Ich schaffe es nicht, Kythara“, flüsterte er schließlich erschöpft.
Matt verdrehte sie die Augen. „Pya, warum strafst du mich?“ Sie stöhnte schmerzgequält. „Los, Janiel, sammle dich. Mann oder nicht, du spürst die Macht der Erde, also kannst du dich auch in dein Seelentier verwandeln. Nimm Wolfsgestalt an, dann wirst du die körperliche Kraft haben, die dir jetzt fehlt.“
Verständnislos schüttelte er den Kopf.
Kythara war sich schmerzlich bewusst, dass nur die mächtigsten Hexen diese Verwandlung leicht schafften, alle anderen oft genug erst nach langen Jahren Übung, Seite an Seite mit ihren Seelenvertrauten. Janiel hatte keine Jahre, er musste raus aus Roen Orm, sofort! Die Sonnenpriester konnten nicht allzu weit sein, vielleicht war der Besitzer dieses Hauses bereits bei ihnen, alarmiert von Wolfsgeheul und Raubkatzenfauchen.
„Komm her, Janiel, nimm meine Hände.“
Er gehorchte, zögernd.
„Hörst du mich?“, flüsterte sie in sein Bewusstsein. Er besaß die Macht, die notwendig war, das spürte sie sofort. Mehr noch, er schien ähnlich stark wie Inani zu sein, und die hatte als halbtotes Kind ihre erste Verwandlung geschafft.
„Hörst du mich, Janiel?“
„Ja.“
„Ich kann dich führen, alles Weitere musst du selbst schaffen. Sieh hin und verstehe …“
Sie spürte, wie er sich staunend öffnete, schickte ihm eine Flut von Gedanken und Emotionen, dazu alle Kraft, die noch in ihr steckte. Entsetzt wollte er sich von ihr lösen, doch sie hielt ihn umklammert, krallte sich mit den Fingern an ihn, ließ die letzten Energien aus sich herausfließen, bis sie nichts mehr zu geben hatte. Zu matt, um auch nur nach Luft zu schnappen, gab sie ihn schließlich frei.
„Kythara …“
Sie hörte, dass er weinte und schenkte ihm ein Lächeln.
„Es ist gut, Janiel. Inani wird dir alles erklären … Ich hoffe es zumindest. Aber nun verwandle dich, junger Wolf und flieh, sonst war alles umsonst. Alles!“
„Ich werde dich nicht enttäuschen!“, versprach er und drückte ihre Hände.
„Ich weiß. Leb wohl, Janiel. Es war mir eine Ehre, an deiner Seite kämpfen zu dürfen, Sohn des Zwielichts.“
Janiel schluckte die nutzlosen Tränen hinunter. Für Trauer, Schwäche, Zweifel war jetzt keine Zeit, das wusste er. Er hielt sich an den Bildern fest, die Kythara mit ihm geteilt hatte, Erinnerungen, wie sie sich mit ihrem Seelentier verband. Wie sie den Raben in sich frei ließ, die Liebe zu ihrem Vertrauten in ihr Bewusstsein floss, bis der menschliche Teil von ihr sich zurückzog und die tierischen Instinkte die Führung übernahmen.
Der Wolf kam zu ihm, stieß ihn mit dem Kopf an. Es würde schwer werden. Immer war sein Verstand wichtiger gewesen als alles andere. Instinkte, Gefühle, selbst sein Körper kamen erst an zweiter Stelle, Denken und Wissen dominierten alles. Das musste er aufgeben.
Aufgewühlt strich er über die Flammenschriften auf seinen Handgelenken, die merkwürdig flackerten, mal grell aufleuchteten, mal so blass wurden, dass man sie kaum noch sah. Inani … Lag sie im Sterben? Warum spürte er sie nicht mehr? Warum kam sie nicht, sondern schickte nur ihre Vertraute?
Janiel umarmte den Wolf und ließ sich fallen. Seine Angst um Inani, die Liebe zu ihr, die Verbundenheit zu dem Wolf vermischten sich und überschwemmten sein Bewusstsein.
Ihr Götter, es war leicht! Nie hätte er geglaubt, wie leicht es sein könnte! Noch bevor er Zeit hatte sich auch nur zu wundern, fand Janiel sich in der Geborgenheit der Erdmagie wieder. Sein Körper streckte sich, bewegte sich auf befremdliche und doch vertraute Weise. Eine Welt von Gerüchen, Farben, fremdartigen Wahrnehmungen erschloss sich seinen Sinnen, seine Sicht änderte sich. Er war ein Wolf. Wie in seinen Träumen.
Winselnd tapste er zu der Frau, die auf dem Boden ausgestreckt lag, leckte ihr Abschied nehmend über die Wange. Sie starb, ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Sie wäre längst tot, wenn ihre Göttin sie nicht halten würde, erkannte er verwirrt. Pya hatte noch eine letzte Aufgabe für sie.
„Lauf, Janiel. Du hast es geschafft, ich konnte den Wolf in dir erwecken. Nun habe ich meine Lebensaufgabe erfüllt.“ Kythara lächelte schwach.
Janiel warf den Kopf zurück und heulte seine Trauer heraus. Sein Seelenbruder fiel mit ein, und in weiter Ferne antworteten noch andere Wölfe, die ihn gespürt hatten. Sie gehörten nicht zu ihm, waren nicht sein Rudel, dennoch verstanden sie seinen Schmerz.
„Der Nebel. Wohin, Wolfsbruder?“, fragte sein Vertrauter schließlich.
„Fort. Berge. Fort von Menschen“, erwiderte Janiel wirr. Er war geschwächt, verwundet, dennoch würde sein muskulöser, ausdauernder Wolfskörper viele Meilen rennen können. Ein winziger Teil in ihm wunderte sich, wie der junge Wolf die Nebelpfade rufen konnte, ohne eigene Magie zu besitzen, aber dieser Teil seines Bewusstseins war ohne Macht. In ihm herrschte das Verlangen zu jagen, vor der Gefahr durch die Menschenpriester zu fliehen und mit seinem Rudel zusammen zu sein. Außerdem war da der Gedanke an jemand, der zu ihm gehörte. Ein Weibchen, er musste es finden … Wenn die Gefahr gebannt war.
Gemeinsam mit seinem Vertrauten rannte er in den Nebel. Fort, nur fort von hier!