23.
„Ruhe in Tis Armen. Möge der gütige Herrscher des Lichts sich deiner annehmen.“
Abschlusssegen der Ti-Priester für die Toten
Thamar spürte, wie der riesige weiße Vogel ihn studierte, in seinen Gedanken und Erinnerungen wühlte. Dies war kein Raubtier, das eine mögliche Beute anvisierte, obwohl es fast wie ein übermannsgroßer weißer Adler aussah.
„Zeige den Stein des Kindes!“, befahl der Vogel irgendwann. Thamar löste sich aus seiner Starre. Sofort kam ihm die Feuerwand wieder in den Sinn, und er fuhr herum. Die Flammen waren näher gekommen, doch langsamer als befürchtet.
„Hier ist es sicher. Der Zorn des Vulkans erreicht uns nicht. Zeig mir den Stein!“
„Gib ihm Avanyas Kristall, schnell!“, drängte Maondny. Thamar hatte beinahe vergessen, dass sie bei ihm war. Er zog den Kristallanhänger heraus, der wie ein Nola geformt war und hielt ihn dem Vogel hin.
„Maondny, wo sind wir? Wann sind wir? Was soll ich denn tun?“, stammelte er fassungslos, und betete, dass er nicht gegen dieses Geschöpf kämpfen musste. Der Vogel betrachtete den Kristall, ohne von Thamars Geist abzulassen; Erinnerungen flackerten durch sein Bewusstsein, aufgewirbelt von der Macht die größer war als alles, was er je erfahren hatte. Es trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. Es schmerzte, es machte ihm Angst, und wäre er nicht durch die Hexen an solche Angriffe gewöhnt, hätte er es nicht ertragen können.
„Du bist in Enras Vergangenheit“, sagte Maondny behutsam, als der Vogel ihn freigab. Ihre Stimme half ihm, sich von dem geistigen Angriff zu erholen. „Dies ist einer der Ahnherren der Loy und Nola. Der Vulkanausbruch ist eine Folge des Einschlags von Pyas Splitter, der vor wenigen Minuten erfolgt ist. Dieses Geschöpf, das keinen Namen hat, den wir begreifen könnten, wird mit den Seinen den Splitter zerstören, wenn es uns nicht glauben will. Es spürt die Macht des Artefakts und empfindet es als Gefahr. Wir sind für ihn im Moment nur ein Rätsel, möglicherweise eine weitere Bedrohung, die er auslöschen sollte.“
„Und was kann ich tun, um das zu verhindern?“
„Wehre dich nicht gegen sein Bemühen, dich zu verstehen, mehr kannst du nicht tun.“
„Maondny …“ Thamar spürte ihre Unsicherheit, und er hasste es. Sie wusste für gewöhnlich immer, was zu tun war. Wenn sie schon nicht sicher sein konnte, was geschehen würde, wer sonst?
„Ich habe von Anfang an siebenunddreißig Möglichkeiten für diese Situation gesehen. Mittlerweile sind es rund viertausend denkbare Abläufe, und kein einziger dominiert. Thamar, ich weiß nicht, wie es weitergehen wird“, flüsterte sie hektisch. „Es sieht zumindest nicht so aus, als würde er uns den Kopf abbeißen.“
„Ihr kennt wahrhaftig meine Kinder!“, rief das Wesen ungläubig, beinahe ehrfurchtsvoll, und strich mit dem Flügel über das Amulett. Der Bergkristall leuchtete hell auf. „Gib dies dem Kind der Erde zurück. Es wird erkennen und verstehen. Es schmerzt zu sehen, wie viel Blut zwischen die kommt, die zusammen geboren wurden.“
„Loy und Nola haben wirklich gemeinsame Vorfahren?“, fragte Thamar zweifelnd.
„So ist es. Sieh, dort vorne ist ein Wesen der Tiefe“, erwiderte Maondny.
Ein dunkles Geschöpf glitt auf Thamar zu, das wie eine Mischung aus riesiger Schlange und beinlosem Saduj aussah. Er brauchte all seinen Mut, um nicht schreiend wegzulaufen, als sich diese Kreatur ebenfalls über ihn beugte und magisch nach seinen Erinnerungen griff. Das schlangenartige Wesen war ihm so nah, dass Thamar es hätte berühren können. Es roch nach feuchter Erde und Rauch und war von einer Aura vernichtender Macht umgeben.
„Fürchte sie nicht. Sie ist mein Gefährtin, Freund unserer Kinder“, sagte der Vogel. Er drückte seinen Schnabel gegen den Kopf des schlangenartigen Geschöpfs und stieß eine Reihe heller, weittragender Rufe aus.
„Aus der Verbindung dieser Geschöpfe des Himmels und der Erde sind die Flügelpferde und die Chyrsk entstanden, die Nola, Loy und Saduj. Sie alle sind Geschwistervölker, wissen aber nichts mehr
voneinander. Die Saduj haben ihre Seelen verloren, sie sind nichts als Raubtiere. Lediglich ihr Hass auf alle Nola, Loy und Flügelpferde und ihre panische Angst vor Höhlen weisen noch auf die gemeinsame Vergangenheit, auf Kriege voller Zorn und schwerer Verluste.
Die Chyrsk verbargen sich in unerreichbaren Tiefen, als Pyas und Tis Macht diese Welt segnete, und so haben sie keinen Anteil an der Magie gefunden. Diese Wesen hier erhielten ihre Magie direkt vom Weltenschöpfer, darum sind sie sehr mächtig. Sie konnten allerdings wenig davon an ihre Kinder weitergeben.
Das Wissen der Chyrsk ging verloren, das einst ähnlich reich war wie das der Nola in unserer Zeit. Es ist eine traurige Geschichte, was aus den Kindern dieser Liebe geworden ist, doch nicht ohne Hoffnung“, sagte Maondny auf geistigem Wege. Thamar spürte, dass sie ihre Gedanken vor allem an diese beiden so furchterregenden Geschöpfe richtete. Er sah weitere schlangenartige und geflügelte Wesen, die auf sie zukamen. Der weiße Vogel beugte sich wieder über ihn.
„Wir werden den Splitter der göttlichen Mutter nicht anrühren, obwohl er großes Leid und Tod über uns brachte. Wir werden ihn nur verstecken, wie wir es nach der Zerstörung tun wollten. Ich nehme dich mit, Freund meiner Kinder. Gemeinsam werden wir unserer neuen Bestimmung begegnen.“
„Was … Maondny?“ Thamar wagte nicht, sich zu wehren, als der Vogel sich in die Luft erhob und eine seiner riesigen Klauen nach ihm ausstreckte.
„Fürchte dich nicht, so ist es richtig. Er wird dich beschützen, das Opfer, das er zu bringen bereit ist, sichert dein Leben.“
Er schrie vor Angst, als die Klaue sich um ihn schloss und ihn von Maondny fort trug.
„Ich liebe dich, Thamar. Dir wird nichts geschehen, bitte, vertraue mir noch ein einziges Mal!“
„Verstehe, was ich tun muss, Freund meiner Kinder“, dröhnte nun die Stimme des Vogels in seinem Kopf. „Das Geschöpf, das dich herbrachte, könnte dich auch zurückbringen in deine Zeit und Welt. Aber in ihren funkenglühenden Gedanken sah ich, dass du sterben würdest in dem Augenblick, sobald dein Körper sich vom Splitter der Götter trennt. Ich werde dich beschützen, durch alle Zeitalter, um mit dir gemeinsam zu erwachen in der Welt, die noch kommen wird. Ich verlasse mein Volk, um meine Kinder mit dir gemeinsam retten zu können. Sie bat mich um dieses Opfer und ich werde es voller Freude darbringen, für die Götter und aus Dank für das Wissen, was ihr beide uns geschenkt habt.“
Thamar klammerte sich an die Krallen des riesigen Vogels.
„Darum wusste Maondny nicht genau, was geschieht? Weil es nicht
sicher war, dass du dein Volk verlässt? Weil ich hätte sterben können?“
„Ja. Sie konnte es dir nicht vorher sagen, wie groß die Gefahr wirklich für dich war, sonst hätte Angst dich zu sehr gelähmt. Ich hätte dann gewiss deine Gedanken nicht verstanden und dich getötet. Ich bin stolz, dich beschützen zu dürfen, Herrscher der Elemente!“
Dieser Titel verblüffte Thamar so sehr, dass er nicht einmal wagte, ihn zu hinterfragen.
Der Vogel landete elegant auf einem Felsen hoch über dem Meer, wo er Thamar behutsam ablegte.
„Du musst dich mir anvertrauen. Ich weiß, dass du keine eigene Macht besitzt und nicht im Wasser atmen kannst. Wehre dich nicht, ich werde deinen Leib lebendig halten.“
„Oh, wenn du mir nur kurz sagst, was jetzt auf mich zukommt, ich meine, ich bin an magische Angriffe aller Art gewöhnt, aber ich weiß gerne vorher …“, begann Thamar ebenso hastig wie vergeblich. Der Vogel streifte mit dem Flügel über sein Gesicht. Starke magische Energie pulsierte durch Thamars Adern, nahm Besitz von seinem Körper und Geist. Er konnte sich nicht mehr bewegen, weder sprechen, nicht einmal klar denken. Leider nahm es ihm nicht die Angst, darum durchlitt er einen Anfall schierer Panik, der ihn womöglich endgültig um den Verstand gebracht hätte, wäre da nicht Maondnys Stimme gewesen:
„Bald wirst du schlafen, und was eine Ewigkeit ist, in nur einem Moment durchleben. Vertraue mir, ich liebe dich und werde dich bei jedem deiner Schritte und allem, was folgen wird begleiten. Du bist nicht allein.“ Thamar spürte ihre Nähe, ihr vertrautes Bewusstsein, und seine Seele fand zur Ruhe. Gleichgültig was geschah, er liebte Maondny und vertraute ihr blind.
Der Vogel ergriff ihn erneut und stürzte sich die Klippen hinunter, kopfüber in das dunkle Wasser. Thamar spürte nichts davon, weder Kälte noch Schmerz. Fasziniert sah er etwas auf dem Meeresgrund leuchten und erkannte den Splitter der Pya. Lebendige Macht strahlte von ihm aus, ansonsten war er ein dunkler, glatter Felsen, wie es unzählige hier unten gab. Nichts erinnerte an die verkrüppelte, tote Eiche, die einst aus ihm werden würde – geworden wäre.
„Unsere Magie wird ihn verstecken für alle, die nicht wissen, was er ist. Er wird für diejenigen, die ihn bewusst sehen, die Form annehmen, die sie erwarten zu finden. Dieser Splitter ist nichts, was sterblich Geborene begreifen können“, sagte der Vogel. Von überall tauchten nun Wesen der Tiefe wie auch die geflügelten Himmelsgeschöpfe auf, von denen einige durchaus weit entfernte Ähnlichkeit mit einem Loy besaßen. Sie umringten den Splitter, begleiteten den Vogel mit klagenden Lauten. Thamar erschrak, als er dem Splitter näher kam und sah, dass etwas in ihm eingeschlossen war.
„Das bist du. Etwas von dir wird für alle Zeiten in diesem Splitter bleiben und schlafen. Sieh hin, auch ich bin bereits dort.“
Tatsächlich – Thamar sah sich selbst in diesem pulsierenden Stein, in tiefem Schlaf, sicher geborgen in den Klauen des Vogels, der ebenfalls ruhte. Der klagende Abschied der Geschöpfe hallte dumpf durch das Wasser. Die Trauer riss ihn mit, sie bewegte sein Herz. Gerne hätte er mit ihnen gerufen, doch da er es nicht konnte, versuchte er, sie seine Gedanken von Dankbarkeit und Bedauern fühlen zu lassen.
„Sie wissen, was du empfindest. Auf bald, Geliebter“, flüsterte Maondny. Der Vogel berührte den Splitter. Thamar blieb ein winziger Augenblick, in dem er über diesen mystischen, bizarren Moment lachen konnte. Man trug ihn zu seiner eigenen Beerdigung, er nahm Abschied von denen, die zurückblieben und wartete nun geduldig auf seine Wiedergeburt in der Zeit, aus der er gekommen war. Dann erstrahlte seine Welt in gleißendem weißblauem Licht, und er wusste nichts mehr.