28.

 

„Lasst uns mit dem Ende beginnen. Irgendwann müssen wir ja mal damit anfangen, auch, wenn es für viele nicht das Ende werden wird, das sie sich erhofft haben.“

Zitat aus „Der Ruf des Korabal“, Komödie von Shila von Erten

 

 

Ilat blickte missmutig auf seine Soldaten, die sich vor Roen Orms Toren aufgereiht hatten. Noch war es dunkel, aber die Dämmerung stand kurz bevor. Niemand hatte in dieser Nacht geschlafen, auch er selbst nicht. Fast zweitausend Mann standen bereit, gegen rund vierhundert Priester zu kämpfen, sobald die Sonne aufging. Die meisten von ihnen waren kampferprobt, gegen Elfen wie in der Seeschlacht gegen Lynthis, und dennoch war Angst allgegenwärtig spürbar. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Es war schwer, gegen Sonnenpriester in die Schlacht zu ziehen, wenn man selbst nichts besaß, um sich gegen die Magie zu schützen. Niemand rechnete damit, zur Mittagsstunde noch zu leben. Ilat überlegte, ob er den Männern etwas Aufmunterndes sagen sollte, etwas darüber, dass Gott wusste, wer für die gerechte Sache kämpfte und wer nicht. Doch diese Lüge wollte nicht einmal ihm über die Lippen gehen, also schwieg er und wartete. Nur zu genau wusste er, die Männer blieben nur so ruhig, weil er, Ilat, bereit war, Seite an Seite mit ihnen zu sterben.

Noch wenige Minuten bis zum Sonnenaufgang. Ilat zog sein Schwert, so nutzlos es auch war. Es würde sich gut anfühlen, mit einem Schwert in der Hand abgeschlachtet zu werden. Oder magisch verbrennen zu müssen.

Zumindest behaupten das alle Heldengesänge, also versuchen wir sie, ob sie die Wahrheit sprechen!

 

~*~

 

Rynwolf trat an der Spitze seiner Priesterschaft durch Roen Orms verwaiste, unbewachte Tore. Die Stadtgarde hatte sich Ilats Soldaten angeschlossen, freiwillig oder auch nicht. Er spürte die Unsicherheit seiner Männer. Viele von ihnen hatten Verwandte oder Freunde auf Ilats Seite. Gegen Elfen oder Hexen zu kämpfen war das eine, von Schiffen aus Feuerkugeln auf fremde Feinde regnen zu lassen keine zu harte Prüfung. Aber wehrlose Menschen zu töten, deren Gesichter sie tagtäglich im Gottesdienst gesehen hatten, das war nahezu unerträglich. Zudem trugen sie noch immer schwer an dem Tod ihrer Brüder, die nicht aus dem Hexennebel zurückgekehrt waren.

„Verschont jeden, der sich uns ergeben will“, rief Rynwolf ihnen zu. „Sie befolgen Befehle, gegen die sie sich nicht wehren können, gehorchen einem König, der vom Finsterling besessen ist. Versucht so viele wie möglich lebend zu überwältigen. Vor allem Ilat darf nicht getötet werden, überlasst ihn mir.“

Er schaute zu Cero, der mit seinen eigenen Soldaten an seiner Seite stand. „Das gilt vor allem für dich, Neffe. Halte dich mit deinen Leuten zurück, ihr geratet nur zu leicht in Gefahr. In der Hitze des Gefechts wird es schwer für meine Priester, euch von Ilats Männern zu unterscheiden.“

Etwas funkelte in Ceros Blick, das Rynwolf Angst einjagte.

Ob er mich betrügt? Das darf nicht sein! Ich brauche ihn, er ist der einzige Mann, der Ilat ersetzen kann. Cero, lass mich nicht im Stich!

Er nickte unauffällig einem seiner Priester zu. Der Geweihte hatte die Aufgabe, Cero magisch auszuschalten, ohne ihn zu verletzen. Rynwolf durfte nichts riskieren, das Leben seines Neffen war zu wichtig. Auch, wenn er diesem Mann nicht mehr unbesehen vertrauen konnte, ohne ihn wären Kämpfe und Unruhen in Roen Orm durch nichts mehr zu verhindern, sobald Ilat gestürzt war – mit etwas Glück schon heute.

 

~*~

 

Cero sah nicht, was sein Onkel tat, aber er spürte die Blicke des Geweihten, der neben Rynwolf stand.

„Fächert auseinander“, befahl er seinem Hauptmann. „Ich werde wahrscheinlich magisch angegriffen werden, ihr könnt mir nicht helfen. Haltet euch abseits und wartet auf mein Zeichen.“

Ruhe kehrte ein. Alle Soldaten und Priester hatten Stellung bezogen, jetzt galt es lediglich, auf Tis Erwachen zu warten, dann würde es losgehen. Einige Minuten noch. Die Zeit streckte sich, folterte die Unglücklichen, von denen eigentlich niemand dort sein wollte, wo er sich gerade befand.

Jeder Atemzug ein Jahrhundert, jeder Herzschlag ein Äon. Ewigkeiten, die zu rasch verfielen, das Unerbittliche, Unausweichliche näher brachten. Mit jedem Atemzug, jedem Herzschlag ein wenig näher.

 

~*~

 

Thamar öffnete die Augen. Über ihm rauschten die Blätter der gewaltigsten Eiche, die er jemals gesehen hatte, ein Baum, der bis in den Himmel zu ragen schien. Die magischen Energien, die von ihm ausstrahlten, knisterten in seinen Haaren.

„Deine Welt riecht fremd für mich“, sagte der Vogel in seinen Gedanken.

„Für mich ist es ebenfalls fremd hier. Als ich in den Zeitstrom ging, war dies noch ein verkrüppelter, toter Baum.“

„Thamar, Liebster …“

Er hatte sich noch nie so sehr gefreut, Maondnys Stimme zu hören.

„Ich habe überlebt, die Reise zu dir wie den langen Schlaf innerhalb des Splitters“, sagte er laut. Bewusst vermied er, die Eiche zu intensiv zu betrachten, nach dem Körper des Vogels und seinem eigenen zu suchen, die irgendwo in diesem gewaltigen Baumstamm eingeschlossen geblieben waren und für alle Zeiten dort schlafen würden.

„Nicht für alle Zeiten, Freund meiner Kinder. Wenn diese Welt dereinst vergeht und Pya nach dem Splitter greift, wird sie uns freisetzen. Für dich wird es lange nach deinem Tod geschehen und du wirst es nicht bewusst miterleben. Für mich wird es sein, als würde ein vergessener Gedanke wiederkehren.“

Thamar seufzte nur. „Kann ich jetzt diesen Baum berühren, ohne dass irgendetwas Fürchterliches geschieht? Ich sollte dir doch einen Zweig von ihm bringen, Maondny.“

„Du kannst ihn ohne Sorge berühren, da du bereits mit ihm verschmolzen bist. Aber du musst nicht in die Höhe klettern, dein Gefährte wird den Zweig für dich holen, Liebster.“

Der Vogel breitete seine gewaltigen Schwingen aus, flatterte kurz auf und kehrte nur einen Moment später mit einem blühenden Ast im Schnabel zurück.

„Wenn du erlaubst, werde ich ihn für dich tragen, und dich dazu, Freund. Deine Gefährtin sagt, dass du an einen Ort in der Nähe gebracht werden musst, um dein Schicksal zu erfüllen. Wenn ich dich dorthin fliege, geht es etwas rascher. Ich spüre, dass ich dort jemandem begegnen werde, der schon lange auf mich wartet. Seine Seele ruft nach mir.“

„Zu Ronlad in den Tempel?“, fragte Thamar verblüfft. Er kannte keinen anderen erwähnenswerten Ort in der Nähe. Im Umkreis von dreihundert Meilen gab es keine einzige größere Stadt!

„Nein, Liebster. Es sind einige Tage vergangen, seit du den Splitter berührt hast, vieles ist inzwischen geschehen. Du musst nach Roen Orm, deinem Bruder begegnen.“

„ROEN ORM?“

„Roen Orm.“

 

~*~

 

Noch immer gab es kein Zeichen, dass die Sonne sich erheben wollte, obwohl nahezu alle Wartenden bereits völlig zerrüttet waren. Ilat genoss die angstvolle Spannung, sie berauschte seine Sinne besser als jeder Wein. Egal, wie dieser Tag enden würde, es würde ein guter Tag werden, das wusste er schon jetzt. Als Nebel aufwallte, blickte Ilat milde interessiert auf. Sollte Inani sich etwa zeigen? Sie hatte sich ja ganz schön Zeit gelassen!

Ein Schrei erhob sich aus hunderten von Kehlen, als zahllose Frauen aus dem Nebel schritten, begleitet von Vögeln, Katzen und Schlangen. Die Hexen waren gekommen! Doch Inani war nicht unter ihnen, erkannte Ilat, als sie vor ihm Stellung bezogen.

„Ich bin Melliare, Ilat, du erinnerst dich vielleicht an mich“, sprach eine dunkelhäutige Frau ihn an.

„Du hast für mich getanzt, selbstverständlich erinnere ich mich. Hast du die Illusion nicht mittlerweile satt?“

„Ich stamme tatsächlich aus dem Waldgebirge, mein Äußeres ist keine Illusion.“ Die Hexe starrte hasserfüllt auf die Reihen der Sonnenpriester.

„Inani ist noch nicht bei uns, aber sie hat unseren Ruf beantwortet. Wir können nicht an deiner Seite kämpfen, Ilat, die Weisung unserer Königin war eindeutig. Doch kämpfen werden wir, und unsere Feinde sind die gleichen wie deine.“

„Und trotzdem kämpfen wir nicht Seite an Seite?“, fragte

Ilat unruhig. Wenn die Hexen sich einmischten, würden möglicherweise doch noch einige der Soldaten heil nach Roen Orm zurückkehren. Nu zu welchem Preis?

„Der Feind deiner Feinde ist nicht immer dein Freund, Ilat“, erwiderte Melliare mit glühendem Blick. „Dass wir gegen die Priester kämpfen, bedeutet nicht, dass wir dich retten wollen.“

Sie rief etwas über die Schulter, und die Hexen – gewiss einige hundert von ihnen, genug, um den Priestern die Stirn zu bieten – nahmen Aufstellung, abseits der Schlachtlinie zwischen Rynwolf und Ilat.

Der Himmel färbte sich rot, dort im Osten. Nur ein ganz klein wenig.

Ilat seufzte wieder. Nun war auch er von unerträglicher Anspannung erfüllt. Verfluchte Hexen!

 

~*~

 

„Wo sind wir hier?“, fragte Janiel neugierig.

„In den Großen Ebenen. Ich muss jemanden abholen, bevor wir die Söldner einsammeln gehen.“

Inani blickte sich suchend um, doch sie fand keine Spur von Avanya und Eiven. Gewiss hatten die beiden ihre Reise längst fortgesetzt, sie konnten ja nicht wissen, ob Inani überhaupt noch einmal wiederkehren würde, nachdem sie zur Königin ausgerufen worden war.

„Witterst du den Geflügelten?“, fragte sie den jungen Wolf an Janiels Seite, der sie mittlerweile bereitwillig als Rudelmitglied angenommen hatte.

„Ja. Er und das Steinwesen sind nah.“ Der Wolf sprang voraus, begierig, sich seinen Rudelführern zu beweisen, und knurrte eifrig, als er kurze Zeit später Eiven und Avanya gestellt hatte.

Die beiden hatten ihre Waffen gezogen, eher verblüfft als ängstlich, dass ein einzelner Wolf sie angreifen wollte.

„Inani!“ Avanya fiel ihr um den Hals, mit überraschender Kraft für ein solch puppenhaftes Wesen. „Ich bin so froh … ich kann nicht sagen, wie froh … Was Corin für Eiven getan hat, ist einfach unglaublich!“, stammelte sie lachend. „Gehen wir nach Roen Orm? Und wer ist das? Kommt Thamar auch? Er hat doch überlebt, nicht wahr? Und bist du wirklich die Königin der Hexen?“

Amüsiert schob Inani die Nola von sich. „Ich wusste nicht, dass du dermaßen schnell reden kannst! Ah, ja, wir gehen nach Roen Orm, vorher müssen wir aber noch ein paar Leute abholen. Die dazugehörigen Geschichten erfahrt ihr dann später. Hoffe ich.“

„Und wenn nicht?“ Eiven trug zwei Schwerter um die Hüfte geschnallt, wie Inani erst jetzt bemerkte. Offensichtlich hatte er sich bei den gefallenen Sonnenpriestern bedient. Im Moment musterte er misstrauisch Janiel, der sich das gelassen gefallen ließ.

„Wir ziehen in die Schlacht, Eiven. Vor den Toren der ewigen Stadt sammeln sich in diesen Minuten die verschiedensten Heere. Sollte ich am Ende nicht mehr da sein, um euch alles erklären zu können, wird sich irgendjemand anderes finden. Zur Not Maondny, an die Avanya sich vielleicht aus Thamars Erzählungen erinnerst. Oh – Thamar lebt, und du wirst ihm vermutlich begegnen.“ Während sie noch sprach, öffnete Inani bereits die Nebelpfade und winkte ihren Gefährten zu.

Avanya und Eiven blickten sich einen langen Moment lang an, dann folgten sie ihr zögerlich.

„Das verspricht spannend zu werden “, murmelte der junge Loy.

 

~*~

 

„Nun gilt es“, murmelte Ilat. Tis Antlitz war über sie gekommen wie eine unheilvolle Verheißung. Die Sonnenpriester rückten vor, folgten Rynwolf allerdings zögerlicher, als zu vermuten gewesen wäre. Die Hexen hielten sich ruhig, wirkten ein wenig verloren – ihnen fehlte die Anführerin. Ilat schlug mit dem Schwert gegen seinen Schild, dass es weithin hallte. Sofort griffen die Soldaten dieses Beispiel auf, hieben im Gleichklang gegen ihre Eisenschilde, ihren einzigen nutzlosen Schutz gegen magische Feuerkugeln.

„Roen Orm! Roen Orm! Roen Orm!“, hallte es dazu aus tausenden Kehlen.

„Für Ti! Ich wandle im Licht!“, brüllte die Priesterschaft zurück. Ihr Vormarsch beschleunigte sich, doch da wallte der gefürchtete Nebel auf. Ein Panther und ein Wolf rannten Seite an Seite heraus, dicht gefolgt von einem Loy, der eine schimmernde kleine Gestalt auf dem Rücken trug und sich rasch in den frühmorgendlichen Himmel schraubte. Alle starrten ihn verblüfft an, wie er dort über ihren Köpfen kreiste. Dann war es eine kurze Weile lang still, jeder hielt den Atem an. Wer würde nun aus dem Nebel schreiten? Gewiss, der Panther war bekannt, es konnte also nur Inani sein, aber war sie es allein, oder brachte sie noch mehr wundersame Geschöpfe mit sich?

Rauer Kriegsgesang kündigte ein Heer an, lange bevor Inani an der Spitze von diszipliniert marschierenden Soldaten sichtbar wurde. Die Ankunft der Hexenkönigin wurde von den Dunklen Töchtern mit lauten Rufen begrüßt. Die Schar von ungefähr tausend Männern, die sie mit sich brachte, gruppierte sich in Schlachtordnung auf einem kleinen Hügel, rechterhand von Ilats Soldaten und außer Reichweite der Sonnenpriester. Ein Hüne mit langem blondem Haar befehligte diese fremde Gruppe. Mit offenem Mund betrachtete Ilat diesen Aufmarsch von Kämpfern, die ihrer Kleidung nach ein zusammengewürfelter Söldnerhaufen aus sämtlichen Winkeln Enras waren. Sie bewegten sich dennoch so sicher, dass sie gewiss schon lange Zeit miteinander kämpften und marschierten. Wer waren diese Männer, und was im Namen der Weisheit wollten sie hier, bei seiner kleinen privaten Auseinandersetzung mit dem Erzpriester?

Ilat fühlte sich leicht überfordert mit den verschiedenen Heerscharen, die wohl jede ihren eigenen Grund hatte, gekommen zu sein.

Inani schritt anmutig auf ihn zu, so vollkommen gelassen, als wäre dies der Ballsaal seines Schlosses, kein Schlachtfeld.

„Hallo Ilat“, grüßte sie ihn respektlos und küsste flüchtig seine Wangen. Ihre Stimme hallte magisch verstärkt über die gesamte Ebene. „Unsere Versammlung hier ist kein Zufall, wie du dir zweifellos denken kannst. Es fehlt noch ein letzter Mitspieler, dann sind wir vollzählig.“

„Wir spielen jetzt aber nicht Narren und Krieger, Inani, oder?“, fragte Ilat beinahe flehentlich.

„In gewisser Weise schon. Lass es dir erklären. Wir Hexen werden uns um Rynwolf und die seinen kümmern. Der Erzpriester gehört mir, mir und Janiel.“ Sie wies zu dem jungen Geweihten hinüber, der sich bei den Hexen postiert hatte. Ilat wusste nicht, ob er froh oder wütend darüber sein sollte, dass der kleine Verräter noch lebte. Er entschied sich spontan für Freude. Tote würde es heute noch genug geben!

„Damit deine Leute nicht an Langeweile leiden müssen, habe ich ihnen eine gut ausgebildete Söldnertruppe mitgebracht. Im Augenblick wird sie noch von Kyl befehligt – du erinnerst dich vielleicht? – aber das wird sich gleich ändern. Fragen, soweit?“

Ilat runzelte die Stirn. Der groß gewachsene, muskulöse Krieger dort drüben auf dem Hügel war ihm völlig unbekannt, doch der Name weckte Erinnerungen.

„Thamars Freund!“, flüsterte es plötzlich hinter ihm, von mehreren Soldaten gleichzeitig.

„Thamar? Nach all der Zeit kommt jemand, um meinen Bruder zu rächen?“, fragte Ilat ungläubig.

„Nicht ganz.“ Lächelnd wies Inani in die Höhe, wo in diesem Moment der Loy aufschrie und hastig zur Seite flog.

Eine gewaltige Gestalt verdunkelte den Himmel, der größte Vogel, der jemals von sterblichen Augen gesehen worden war landete zwischen den versammelten Armeen, die zurückweichen mussten, um ihm Platz zu machen. Der Boden bebte leicht, der Sturmwind, den die Schwingen erzeugten, ließ mehr als einen Mann stürzen. Der weiße Vogel öffnete eine seiner Klauen und ein Mensch, winzig im Vergleich zu ihm, richtete sich langsam auf.

Ilat schloss die Lider. Er schwankte einen Moment lang. Viele Jahre waren vergangen, sie hatten aus dem Jungen, der mehr tot als lebendig entkommen war einen Mann geformt. Doch das Gesicht war unverkennbar, selbst auf diese Entfernung. Es verfolgte ihn jede Nacht in seinen Träumen, ließ ihn niemals ruhen.

„Thamar!“, wisperte er.

„So ist es.“

Ilat starrte in die bernsteinfarbenen Raubtieraugen der Hexe, die er so sehr begehrte. Katzen kannten kein Mitleid, sagte man sich. Diese Katze aber wusste davon. Er spürte ihr Bedauern, als sie sich reckte und seine Stirn küsste.

„Egal, wie dieser Tag endet, Ilat, ich werde weinen“, flüsterte sie ihm zu. „Gemeinsam mit dem Blut der Krieger wird das Blut jener fließen, die Brüder sein sollten. Am Ende dieses Tages wird entschieden sein, wer Roen Orms Krone trägt und wer nicht. Solltest du fallen, Ilat, sei gewiss: Ich habe dich niemals geliebt, dennoch werde ich um dich weinen.“

Er blinzelte, umfasste sein Schwert mit entschlossenem Griff.

„Dann war mein Leben nicht vollkommen vergeudet“, erwiderte er grimmig.

 

~*~

 

Inani schritt zögernd auf den riesigen Vogel zu, der mittlerweile neugierig um sich blickte. Die Magie, die von diesem Geschöpf ausstrahlte, raubte ihr regelrecht den Atem.

„Dich habe ich in meinen Visionen gesehen, Erwählte der göttlichen Mutter“, sprach der Vogel sie an. Inani neigte ehrfürchtig den Kopf.

„Maondny warnte mich zwar vor, welche Wende das Schicksal Thamars genommen hatte, doch du bist mehr, als Worte und Gedanken jemals beschreiben könnten.“

„Du bist ebenfalls eine Freundin meiner Kinder. Sag es mir, Tochter der Dunkelheit, brauchst du den Loy und die Nola für deinen Kampf? Sonst bringe ich sie erst einmal fort, ich sehne mich so sehr danach, mit ihnen zu reden. Sie sind doch meine Kinder.“

Inani wollte antworten, aber in diesem Moment spürte sie Janiels Gedanken. Der Vogel blickte ebenfalls auf, er war noch mit ihrem Geist verbunden, sodass er hörte, was ihr Geliebter sagte: „Inani, dieses Geschöpf … Ich kenne es, aus meinen Träumen!“

Verwirrt schaute sie zu ihm hinüber, sie begriff seine Aufregung nicht. Der Vogel kam ihrer Erwiderung zuvor:

„Ich sah dich, Erwählter des Ti. Nun weiß ich, dass du es bist, den ich spürte, als ich diese Welt betrat. Wir beide sind zu verschieden, um eine echte Seelenverwandtschaft einzugehen. Dennoch, Janiel, du und ich, wir sind verbunden. Wann immer du meine Kraft brauchst, weil dein Wolfsbruder dir nicht beistehen kann, werde ich zu dir eilen, und ich werde mich deines Wissens bedienen, um diese Zeit zu verstehen.“ Er drehte den Kopf zu Inani und berührte sie leicht mit der Spitze seines gewaltigen Schnabels.

„Dieser Bund kann dich nicht einschließen, obgleich du sonst alles mit ihm teilst. Es ist kein Seelenband wie zwischen dir und der Raubkatze, sondern ein geistiges Bündnis. Nun geh, dein Kampf wartet nicht!“

Mit diesen Worten flog der Vogel auf und verschwand in der Richtung, in die es kurz zuvor Eiven und Avanya gezogen hatte.

Leicht verwirrt schüttelte Inani den Kopf, riss sich dann aber zusammen und umarmte Thamar, der sie amüsiert beobachtet hatte.

„Deine Armee erwartet dich!“, sagte sie zu ihm. „Sie haben dich ebenso sehr vermisst wie ich.“

„Sie haben mich also nicht vergessen?“

„Nein. Dein Freund hat die Männer bei schlechter Laune gehalten, sie sehnen sich nach dir und deiner liebenden Hand.“

Lächelnd drückte er sie an sich, grüßte Janiel kurz mit einem kameradschaftlichem Nicken, und schritt dann zu seinen Soldaten hinüber.

 

~*~

 

Inani rieb sich die Hände und fixierte Rynwolf, der in knapp zweihundert Schritt Entfernung stand. Sein Hass war bis hierher zu spüren.

„Sollen wir?“, fragte sie Janiel.

„Ich kann es kaum erwarten.“

„Wird unser Schild halten?“

„Einige Minuten lang bestimmt.“

„Also auf! Schwestern, Janiel und ich haben einen magischen Schild gewirkt, der uns für kurze Zeit vor Feuermagie bewahrt. Nutzt die Gelegenheit, greift an! Denkt daran, tötet die Priester nur, wenn es absolut unumgänglich ist, um euer eigenes Leben zu schützen.“

Sie schrie gellend den Schlachtruf der Dunklen Töchter in den Morgenhimmel, dann rannte sie los, gefolgt von einer Sturmflut zorniger Hexen. Es hatte begonnen.

 

 

 

 

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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