3.
„Ich stand vor dem Splitter der Pya. Es war ein Baum, nichts als ein schlichter Baum. Eine Eiche, verkrüppelt und augenscheinlich tot.“
Übersetzung eines nagaurischen Dokuments
Thamar stand bereits seit dem Morgengrauen vor der toten Eiche. Er wusste, dies war ein Splitter von der Flöte Pyas. Das Dokument hatte ihm die genaue Beschreibung geliefert, wie er hierher finden konnte, es war so leicht gewesen.
„Wie die Götter sagten, fand ich den Baum.“
Er kannte den gesamten Text auswendig, jedes einzelne Wort, das er übersetzt hatte.
„Ich wusste nicht, was geschehen würde, wusste nur, ich soll ihn berühren, wenn Ti und Pya gemeinsam am Himmel wachen. Also wartete ich, bis Pyas Auge erschien. Dann berührte ich den Baum und verlor alles, was ich war, alles was ich bin, alles, was ich hätte sein können.“
Thamar wartete geduldig auf ein Zeichen von Maondny. Wenn sie nicht zu ihm sprechen wollte, würde er ebenfalls warten, bis Sonne und Mond am Himmel scheinen würden, obwohl die Wolken so dicht waren, dass er diesen Zeitpunkt vermutlich gar nicht bestimmen konnte. Immer vorausgesetzt, der Mond würde heute schon am Tag aufgehen wollen. Eigentlich war er auch sicher, dass dies nicht das war, was Maondny beabsichtigt hatte. Der nagaurische Fremde war durch Raum und Zeit geschleudert worden, tausende Jahre in die Zukunft, aus keinem anderen Grund, als ihm, Thamar, eine Botschaft zu hinterlassen, wo der Splitter zu finden war. Der bloße Gedanke an dieses Schicksal zerriss sein Herz! Maondny wollte ihn allerdings nicht auf eine ähnliche Zeitreise schicken, sie wollte, dass er einen Splitter dieses göttlichen Artefakts zu ihr brachte. Zumindest glaubte er das.
„Maondny, sprich mit mir, ich bin hier!“, dachte er. „Selbst, wenn ich jetzt noch auf den richtigen Augenblick warten muss, bitte, sprich mit mir. Ich habe Angst vor diesem Splitter. Es scheint nur ein Baum zu sein, aber wenn man ihm nahe ist, spürt man einfach, er ist so viel mehr!“
„Das ist er, Thamar, er ist viel mehr.“
Ihre Stimme beruhigte seine aufgewühlten Sinne, erleichtert atmete er auf.
„Nur wer weiß, was er ist, kann ihn sehen. Vor einem Monat hättest du an diesem Splitter vorüber schreiten können, in seinem Schatten schlafen, und ihn niemals bemerkt. Kein Tier, kein Lebewesen, nicht einmal Regen oder Staub kann zu ihm vordringen. Neben mir und dir selbst könnte nur noch Ronlad diesen Ort finden und den Splitter erkennen.“
Thamar lächelte bei der Erwähnung des alten Sonnenpriesters. Er hatte Janiel zum Tempel von Kashuum begleitet und den jungen Geweihten persönlich Ronlad vorgestellt, bevor er weitergezogen war. Hastig schob er den Gedanken an Janiel und Inani beiseite. Was diese beiden planten, war jenseits von Irrsinn und Tollkühnheit!
„Es entspricht Inanis Natur. Auf diesem Weg kann sie zerstören, was jene bedroht, die sie beschützen will. Sie benutzt ihr eigenes Leben ohne Rücksicht als Waffe. Es ist auch für Janiel wichtig, er muss die Fesseln der Vergangenheit abstreifen, um sich seinem wahren Ich zu stellen.“
„Werden sie sterben, Maondny?“, fragte er, ohne mit einer Antwort zu rechnen.
„Ich weiß es nicht, Thamar. Wirklich nicht. Alles kann geschehen.“
Thamar konzentrierte sich auf den Baum vor ihm. Dieses verkrüppelte, tote Ding strahlte schwache Magie aus, er kannte dieses prickelnde Gefühl auf der Haut. Für ein Artefakt von göttlicher Macht eigentlich ziemlich wenig, um genau zu sein.
„In wenigen Minuten wird Pya das Auge von Ti teilweise verdunkeln, Thamar. Eine unvollständige Sonnenfinsternis, die auf Grund der dichten Wolkendecke kaum zu beobachten ist. Pya wird selbst blind sein in dieser Zeit, geblendet von dem Feuer ihres Himmelsbruders, dem sie wiederum die Sicht auf Enra versperrt. In diesem Zeitraum schläft die Magie. Sie verschwindet nicht gänzlich, eine Hexe, die im Nebel wandert, wird nicht ihren Weg verlieren, ein Sonnenpriester, der gerade das Feuer beschwört, nicht ohne Flammen zurückbleiben. So etwas würde nicht einmal bei einer vollständigen Sonnenfinsternis geschehen. Aber sie alle werden spüren, dass ihre Kräfte schwinden. Dieser Splitter wird seine ohnehin schon sehr geringe Energie für diesen kurzen Moment verlieren, und du kannst ihn berühren, ohne von seiner Kraft in den Strom der Zeit geschleudert zu werden.“
„Und dann? Was soll ich tun, was wird geschehen?“, drängte Thamar, als sie zögerte, weiterzusprechen.
„Der Splitter wird dich in sich aufnehmen, Thamar. Wenn Pya und Ti sich voneinander lösen, wird seine Magie wieder erwachen.
Dein Körper wird an diesem Ort bleiben, dein Geist hingegen wird in den Zeitenstrom wandern. Dort werde ich auf dich warten“, flüsterte sie mit einem furchtsamen Ton in der Stimme.
„Mit welchem Ziel? Was soll dadurch erreicht werden?“
„Ich werde dich zurück an den Anfang aller Dinge dieser Welt führen. Es ist nur möglich, weil wir beide einander vertrauen. Ich kann dich vor dem Wahnsinn bewahren und davor, in der Unendlichkeit verloren zu gehen. Dort, am Anbeginn der Zeit, ist etwas geschehen, das den Splitter beinahe zerstört hätte. Wir beide gemeinsam können dies verhindern. Wenn das gelingt, gelangst du zurück zu deinem Körper, und du wirst dich von einem lebendigen, blühenden Baum lösen können. Von ihm nimmst du einen Zweig und bringst ihn mir. Es ist ein mächtiges Werkzeug reinster Magie, das einen neuen Zugang zur Heimatwelt der Elfen erschaffen kann.“
Wie erschlagen starrte Thamar auf die tote Eiche.
„Was bedeutet es für Enra, wenn der göttliche Splitter von Neuem zu voller Blüte erwacht?“, fragte er.
„Für Enra nichts, keinerlei spürbare Veränderung, denn er gibt kaum Energien ab und nimmt nichts von dieser Welt für sich. Für die göttlichen Geschwister bedeutet es sehr viel. Nur wenn die Splitter lebendig sind, kann irgendwann einmal die Flöte der Pya wieder erklingen und die himmlische Sphärenmusik den Schöpfer beglücken. Für mich bedeutet es alles.“
„Falls es nicht gelingt?“
„Dann, Thamar, bleiben die Elfen auf Enra gefangen. Unsere Heimatwelt wird untergehen, du wirst sterben, die Sphärenmusik verloren sein und das Schicksal aller Menschen dieses Zeitalters kann sich nicht erfüllen. Was allerdings nur bedeutet, dass sie ein neues Schicksal erfahren werden.“
Er lachte bitter, ohne zu wissen warum. All dies überstieg sein Begriffsvermögen.
„Maondny, nur noch eines: Haben die Götter wirklich vor tausenden von Jahren schon gewusst, dass es irgendwann ein Prinzlein geben könnte, der sich in eine Elfe verliebt, die von ihrem Vater in den magischen Zeitenfluss geschickt wurde und genau deshalb in der Lage ist, diesen Splitter zu retten?“
„Nein.“ Auch sie lachte, womöglich war es das einzige, was in diesem Wahnsinn noch sinnvoll war. „Es war eine winzige Möglichkeit unter unzähligen anderen. Die Götter wollten lediglich dafür sorgen, dass alles bereit ist, sollte sich diese unbedeutende Gelegenheit tatsächlich bieten. Gleichzeitig haben sie noch viele, viele andere Schritte unternommen, mit denen dieses oder jenes mögliche Schicksal gefügt, gehindert oder vorbereitet wird. Fast alle diese Schritte waren umsonst, doch das ist es nun einmal, was die Unsterblichen tun.“
„Sich gegen das göttliche Gesetz hemmungslos einmischen und unser Leben zerstören, statt es nur zu beobachten, meinst du?“
„Genau das meine ich. Aber tröste dich, normalerweise beobachten sie wirklich nur.“
Einen Moment lang schwiegen sie beide. Dann fragte sie verzagt: „Wirst du es tun, Thamar? Wirst du das Wagnis auf dich nehmen? Du hast die Wahl, es ist dein Leben. Du kannst dich umdrehen und fortgehen.“
„Maondny …“ Aufgewühlt schüttelte er den Kopf. „Glaubst du wirklich, ich würde dein Volk der Verdammnis überlassen? Und glaubst du, ich könnte auch nur einen Moment lang daran denken, auf die Begegnung mit dir zu verzichten? Sollte ich alles richtig verstehen, werden wir durch die Unendlichkeit reisen. Also, selbst wenn es für mich nur einige Augenblicke sein werden, unsere Seelen werden sich niemals wieder vollständig aus dem magischen Zeitenstrom lösen, nicht wahr?“
„So ist es. Ein Teil von uns wird für alle Zeiten dort zusammenbleiben können, während auf anderen Ebenen des Bewusstseins das Leben weitergeht. Du wirst diese ewige Reise tatsächlich nur als wenige Minuten empfinden und nichts davon spüren, dass etwas von dir zurückbleibt, das muss dir klar sein“, sagte sie warnend.
„Das ist mir gleich. Wenn ich weiß, dass irgendetwas von mir für alle Zeiten bei dir sein kann, das ist ein wunderschöner Gedanke.“
Er spürte ihre Freude, ihre tiefe Liebe, die sie mit ihm verband. Für sie wollte er alles wagen, es gab kein Opfer, das zu groß sein könnte.
„Sei bereit, die Finsternis hat begonnen. Du wirst spüren, wann der richtige Moment da ist.“
Thamar fühlte eine seltsame Schwere in sich. Der Wind hatte sich gelegt, er starrte in den Himmel, konnte jedoch nicht erkennen, wo die Sonne stand. Die Magie, die von dem
toten Baum ausstrahlte, wurde immer geringer, bis dieses Prickeln vollständig verschwunden war.
„Jetzt!“, flüsterte er und trat einen Schritt vor. Einen Herzschlag lang hörte er etwas, ferne Musik, von solcher Vollkommenheit, dass er aufschreien wollte vor Glück. Dann war da Finsternis, Stillstand, und er wusste nichts mehr.