24.
„Wenn ich nur wüsste, was ich nicht weiß, dann wüsste ich, warum ich zweifle.“
Zitat aus: „Der Ruf des Korabal“, Komödie von Shila von Erten
Aufmerksam beobachtete Chyvile aus einem sicheren Versteck heraus die drei Gefährten, die magisch geschützt schliefen. Wenn sie nur wüsste, ob sie zu ihnen gehen und sie führen sollte, oder lieber weiterhin Osmeges Blick von ihnen ablenken, der inzwischen beinahe wieder zu alter Stärke gefunden hatte – beinahe. Sie wusste, was Ledrea getan hatte, ihr Herz weinte um die unglückliche Elfe. Warum nur hatte es keine andere Möglichkeit gegeben? Zumindest würden Pera und Jordre sich dank Ledrea an ihre vergangenen Leben erinnern, vielleicht brauchten sie bald weder Führung noch Schutz. Chyvile war der Elfe dankbar für ihr Opfer, das Osmeges Aufmerksamkeit fesselte.
Sie schwamm in einen von Osmeges Gedanken, auf der Suche nach Ärger. Es fiel ihr zunehmend schwerer, sich selbst vorzulügen, dass sie keinesfalls den Tod suchte – aber wenigstens schlummerte noch eine Menge Zorn in ihr, nicht die leere Verzweiflung, in der Ledrea geendet war.
„Chyvile! Schon wieder? Du wirst ungeschickt.“ Osmege spottete, doch nicht mit der gewohnten Kraft.
„Oh, ich wollte nur vorbeisehen, wie es dir so geht.“ Sie musste sich, wie erwartet, rasch gegen unzählige Chimären zur Wehr setzen.
„Du willst mich von den drei Orn ablenken? Sei unbesorgt, sobald ich diese Elfe aus ihrem Strudel geholt habe, werde ich dich und deine Freunde von ihrem Elend erlösen.“
„Dann sehe ich ja einem langen, erfüllten Leben entgegen!“ Chyvile fluchte unterdrückt, als sie mehrere Famárkrieger bemerkte, die zu ihr kamen und die Flut der Chimären teilten.
„Entschuldige, Osmege, ich werde mich später weiter mit dir unterhalten, jetzt muss ich kurz etwas erledigen!“
„Was hindert mich eigentlich, dich zu vernichten?“, hörte sie ihn fragen. Es klang nachdenklich, nicht höhnisch, was seltsam genug war. „Warum habe ich dich nicht bereits vor langer Zeit getötet?“
„Ich amüsiere dich. Wenn du mich beseitigst, ist der Widerstand der Famár beendet. Und was willst du danach noch tun?“ Chyviles Gebeinschwert fuhr durch die Chimären, die seltsam zögerlich vordrangen.
„Wenn es keine Famár mehr gibt, ist mein Volk befreit. Dann bedroht niemand mehr die Orn und ich kann sie zu neuer Blüte führen.“
„Das glaubst du selbst nicht!“ Sie schnaubte verächtlich, während sie ihren Kriegern den Befehl zum Rückzug gab.
„Warum sonst sollte ich so unendlich lange Zeit gekämpft haben? Sieh doch, wozu du und die Elfen mich gezwungen haben! Warum sonst sollte ich seit Ewigkeiten diesen Drachen gefangen halten statt ihn zu töten? Ich muss euch vernichten, die Prophezeiung zerschlagen, mein Volk befreien!“
„Na, dann wünsche ich dir viel Erfolg“, fauchte Chyvile und schickte einen magischen Stoß durch die geistige Verbindung, was Osmeges Blut für einen Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes zum Kochen brachte. Unwillig suchte sie sich einen Fluchtweg. Wie sehr sie dieses wahnsinnige Geschöpf hasste! Wie sehr sie es bemitleidete! Es war so ermüdend, dieser unentwegte Kampf …
~*~
Chelsa erwachte als Erste an diesem Morgen, etwas, was ihr nicht gefiel, denn so war sie allein mit ihren Gedanken und Ängsten in dieser schrecklichen, fremden Wildnis. Wie sehr sehnte sie sich nach Merpyn! Dort war sie auch immer allein gewesen, aber zumindest kannte sie sich dort aus. Ein Zuhause, das einzige, das sie besaß. Es hatte ihr Sicherheit gegeben und die Fren hatte sie beschützt. Jetzt war sie dort, wo sie niemals hatte sein wollen und die Elfe war verschwunden. Keine Sicherheit mehr.
Sie betrachtete Jordre. Der junge Mann schlief, er lag dicht genug neben Pera, um sie zu berühren. Das sollte also der Geliebte sein, für den sie – oder eher gesagt, ihr angeblich wahres Ich – so viel Leid auf sich genommen hatte.
Er sieht gut aus.
Sofort schämte sie sich für diesen Gedanken. Jordre war verheiratet, dazu deutlich älter als sie selbst. All das konnte doch nur Unsinn sein! Ledrea war verrückt, das hatte Chelsa selbst in der kurzen Zeit deutlich erkannt. Sora hatte zwar die gleiche Geschichte erzählt, aber die Fren war älter als die Berge und sicherlich auch verrückt.
Ein Irrtum. Es gibt keinen Feind, keine Prophezeiung. Nur einen Wald voller Monster.
Chelsa wandte sich von Jordre ab, bevor sie ihre Finger nicht mehr unter Kontrolle hatte und ihn tatsächlich anfasste. Es hätte ihn sicherlich wütend werden lassen. Alle waren immer wütend auf sie gewesen. Sie war die Fremde, die Nutzlose, das Liebchen der Fren.
Bestimmt wartet irgendwo ein Mädchen mit dem gleichen Namen wie ich darauf, die Welt mit ihrem hinreißenden Tanz zu retten. Ich bin keine Tänzerin.
Wie um sich ihre eigenen Gedanken zu beweisen, sprang Chelsa auf, kletterte auf einen umgestürzten Baumstamm in der Nähe und versuchte es. Keinen echten Tanz, einfach nur ein bisschen vor- und zurückbalancieren. Einen Moment später rutschte sie ab und betrachtete auf dem Boden liegend mürrisch ihre Ziegenledersandalen. Viel zu glatt, die Sohlen, ungeeignet für den Tanz. Eine hartnäckige Stimme sagte ihr, dass der berühmte magische Siegelstein wesentlich kleiner und schmaler als dieser Baum sein würde. Was erwartete man eigentlich von ihr?
Zögernd stieg Chelsa noch einmal hoch. Da war ihr alter Traum von einer Melodie, ein fernes Lied im Auge des Sturms … Mit geschlossenen Lidern stand sie da und horchte in sich hinein, suchte nach diesem Traum. Wo war es nur, ihr Lied? Einen winzigen Moment lang glaubte sie es zu fühlen, spürte, wie sich tief in ihr etwas regte – da krachte plötzlich etwas im Wald, sie schrak zusammen und verlor den Zauber des Augenblicks. Ihr schoss das Blut in die Wangen, als ihr bewusst wurde, wie lächerlich sie aussehen musste. Zum Glück hatte Jordre sie nicht gesehen! Schnell setzte sie sich wieder neben ihre beiden Führer.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Pera leise. Chelsa starrte erschrocken zu ihr hinüber, wandte dann rasch ihr Gesicht ab. Sie mochte Pera, gerade deshalb wollte sie sich nicht vor ihr blamieren.
„Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich eine treue Elfenseele in mir trage und bereit bin, bis zum letzten Atemzug gegen irgendwelche Ungeheuer zu kämpfen, um ein Volk zu retten, dessen letzte Kriegerin sich selbst geopfert hat. Ich weiß nicht, was geschehen wird. Ich weiß noch nicht einmal, wohin wir jetzt gehen müssen, unsere Führerin Chyvile – Jordres Mutter – sollte eigentlich in Merpyn zu uns stoßen.“ Der niedergeschlagene Unterton zeugte davon, dass ihr die Möglichkeit, dass diese Chyvile tot sein könnte, durchaus bewusst war.
„Wir müssen nach Norden gehen“, murmelte Jordre in diesem Moment und schlug die Augen auf.
„Bist du sicher?“
Er nickte, das Gesicht fast weiß vor unterdrücktem Schmerz. „Ich habe davon geträumt, der Weg lag so klar vor mir, als hätte ich nie etwas anderes getan, als ihm zu folgen. Wir müssen zum Kreuzwegsee, um nach Arpen zu gelangen. Dort werden wir Osmege finden.“
Schweigend nickte Pera ihm zu. Chelsa wandte wieder den Blick ab. Sie war ausgeschlossen von den Entscheidungen dieser beiden. Was war Arpen? Eine Provinz? Ein Gebirge? Eine Stadt? Wie weit war es bis dorthin? Schweigend lief sie hinter ihnen her, bis Pera plötzlich zur Seite wies.
„Schaut mal, eine Segendre.“ Die junge Frau kniete vor einer unscheinbaren Pflanze nieder, ein struppiges Gewächs, dem Chelsa niemals Beachtung geschenkt hätte.
„Sie wächst nur auf gutem Boden, der nicht vergiftet ist“, flüsterte Jordre. Chelsa sah die angstvollen Blicke, die diese beiden tauschten und verstand: offenbar war dies Wissen, das sie bislang nicht besessen hatten.
Wenn ich mich auch erinnern könnte, wäre ich nicht mehr so nutzlos. Aber ich bin ja zu jung!
„Kommt, wir trinken nur kurz und dann weiter nach Norden“, entschied Pera und lächelte Chelsa zu. Es war ein gequältes Lächeln.
Sie haben solche Angst, genau wie ich. Es ist einfach Wahnsinn …