2.

 

„Friede. Wir betreten euer Gebiet nicht, ihr achtet unsere Grenzen. Wer sich nicht daran hält, wird umgebracht und ist schuld an der neuen Fehde.“

Traditionelle Worte zum Schluss eines Waffenstillstandes zwischen zwei Loy-Sippen

 

 

Eiven starrte orientierungslos in das Blätterdach über seinem Kopf. Avanya und er waren die ganze Nacht lang gewandert, sie befanden sich mittlerweile tief im Gebiet der Bussard-Loy. Es war zu gefährlich, hier tagsüber unterwegs zu sein, deshalb hatten sie sich ein Versteck zum Schlafen gesucht, Eiven in der Krone eines dicht gewachsenen Baumes, Avanya unter einem Busch. Es musste später Nachmittag sein, entschied Eiven. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Ob sich Loy in der Nähe befanden?

Ein unterdrückter Schrei trieb ihn hoch. Avanya!

Mit einem Satz war er am Boden, eilte lautlos in die Richtung, aus der nun Gelächter zu hören war, und duckte sich in den Schutz des Unterholzes, sobald er sein Ziel erreicht hatte. Vier junge Loy-Krieger, offenbar eine Patrouille, umringten Avanya. Es schien, als hätte Durst Eivens Gefährtin aus ihrem Versteck getrieben, denn die Gruppe befand sich neben einer Quelle, die an dieser Stelle unter den Wurzeln eines gestürzten Baumes entsprang.

„Was bist du überhaupt?“, rief einer der Krieger in dem Moment, als Eiven in Hörweite kam und stieß Avanya dabei hart gegen die Schulter. Eiven kochte das Blut in den Adern, er kannte diesen Tonfall. Diese Gewissheit, ein hilfloses Opfer vor sich zu haben. Die Vorfreude auf die Angstschreie, die man diesem Opfer noch entlocken wollte. Er klammerte sich an einen Baumstamm, um nicht blindlings auf die Loy zu springen und sie mit bloßen Händen zerreißen zu wollen. Wenn auch nur einer von ihnen es wagen sollte, Avanya zu verletzen, würde es Tote geben! Bislang beschränkte es sich auf Spott und raue Späße, die Avanya mit brütender Gelassenheit ertrug. Eiven hatte nur eine ungefähre Vorstellung von ihrer Kampfkraft. Sie war extrem schnell und wendig, dazu ausdauernder und stärker, als ihr zerbrechlicher Körper vermuten ließ, dies alles hatten die Kämpfe gegen die Saduj bewiesen. Ob die kleine Kriegerin es mit vier jugendlichen Loy aufnehmen konnte? Ob die Beinverletzung, die zumindest ihre Fähigkeit zu laufen nicht einschränkte, sie in

irgendeiner Weise behindern würde?

„Ich bin eine Nola“, sagte Avanya laut.

Ihre helle, kristallklare Stimme trug weit, Eiven zuckte unbehaglich zusammen. Hoffentlich lockte sie nicht noch weitere Loy an, sonst wäre alles verloren!

„Eine Nola? Und was sonst? Nolas sind Geschichten, sonst nichts!“

„Hm, ich weiß nicht, sieh sie dir an, Lishar, ein Mensch ist sie auf jeden Fall nicht“, mischte sich einer der Krieger ein, der bislang das Treiben seiner Gefährten nur still beobachtet hatte.

Eiven wusste, es gab nur geringe Aussicht, diese Begegnung unblutig zu beenden. Wenn überhaupt, dann musste er jetzt hervortreten, solange sie noch zweifelten, bevor die jungen Krieger sich gegenseitig zu Dummheiten aufschaukeln konnten.

„Sie ist eine Nola, wer Augen hat zu sehen, kann sie nicht für irgendetwas anderes halten!“, sagte er, während er langsam, mit erhobenen Händen, auf die kleine Gruppe zutrat. Alle vier Krieger wirbelten herum, zwei bedrohten ihn sofort mit ihren Speeren, während die beiden anderen Avanya im Blick hielten. Die Nola verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Eiven, als hätte sie ihn nie zuvor gesehen. Ob sie sich wunderte, dass er ihr gegen seine eigenen Artgenossen beistand?

„Wie viele hocken noch dort im Gebüsch?“, fragte Lishar gereizt und presste die Metallspitze seines Speeres gegen Eivens Brust.

„Niemand mehr. Ich begleite die Nola nach Roen Orm.“

„Und das ausgerechnet durch unser Gebiet?“ Lishar verstärkte den Druck minimal, die Spitze drang durch Eivens Lederweste, verletzte ihn aber nicht. Noch nicht.

„Ich bin Eiven von der Adlersippe. Es gibt keinen geeigneteren Weg nach Roen Orm als durch euer Gebiet. Wir sind nachts gewandert und wollten eigentlich jede Berührung mit den Bussarden vermeiden.“

„Du bist der Bastard, nicht wahr?“ Der zweite Krieger, der Eiven bewachte, hob seinen Speer, drückte mit der Waffe gegen die Wange seines Gefangenen, zwang ihn so, den Kopf zu drehen.

„Haben sie dich ausgestoßen? Sollen wir dein Elend sofort beenden?“ Er zog den Speer ein Stück hinab, wobei er oberflächlich Eivens Haut aufritzte, von der Schläfe hinab bis zum Kinn.

„Lasst ihn in Ruhe!“, grollte Avanya drohend. Sofort hoben ihre Wächter die Waffen, bereit, sie bei der geringsten Bewegung zu töten.

„Ich bin kein Ausgestoßener.“

„Du bist allein in feindlichem Gebiet. Was solltest du sonst sein, Bastard?“, fragte Lishar höhnisch.

„Soweit ich weiß, sind die Bussarde keine Feinde der Adler. Und ich bin nicht allein, ich begleite die Nola“, erklärte Eiven mit erzwungener Ruhe.

„Mir gefällt die ganze Sache nicht“, murmelte der stille Krieger, der bei Avanya stand. Offenbar war er der Anführer der Gruppe, denn die anderen drei Krieger blickten ihn sofort an.

„Was denkst du, Triyak?“

„Wenn er wirklich ein Begleiter ist, würde seine Geschichte schon Sinn ergeben, es gibt keinen besseren Weg nach Roen Orm. Wir Bussarde sind die einzige Sippe, mit der die Adler beinahe verbündet sind, durch das Gebiet der Falken oder der Eulen zu gehen wäre Selbstmord. Um Erlaubnis zu fragen hätte womöglich den Frieden gefährdet; man würde auch gewiss nicht gleich mehrere gute Krieger auf Monate, vielleicht sogar Jahre wegschicken. Außerdem war Niyam von der Adlersippe jahrelang in der großen Stadt, ohne ein Ausgestoßener zu sein.“ Triyak schritt auf Eiven zu und musterte ihn intensiv.

„Dagegen spricht allerdings, dass wir zahlreiche Gerüchte von einem vermissten Adlerkrieger gehört haben“, sagte Lishar. „Die meisten Gerüchte behaupten, es wäre der widerliche Bastard, der verloren gegangen ist. Wer kann uns sagen, ob du nicht einfach feige von deiner Sippe abhauen willst, und die Nola nur zufällig deinen Weg kreuzte? Sie ist zwar ein bisschen arg klein geraten und bleich wie Vogeldreck, aber vielleicht gefällt einem Bastard so etwas ja?“ Lishar senkte seine Waffe, drückte seinen Speer in Eivens Haut, knapp unterhalb des rechten Schlüsselbeins – nicht tief, trotzdem blutete es sofort. Eiven ballte die Fäuste, ließ sich den Schmerz allerdings sonst nicht weiter anmerken.

Plötzlich stöhnte jemand hinter ihnen; sie wirbelten alle zugleich herum. Avanya presste ihr Schwert in den Nacken des Loy, der einen Moment zuvor noch ihr Wächter gewesen war, nun hingegen bewusstlos am Boden lag.

„Wenn euch sein Leben irgendetwas bedeutet, lasst ihr jetzt die Speere fallen und hört auf das, was Eiven zu sagen hat“, befahl sie mit eisiger Stimme. Ihre Perlenaugen schossen tödliche Blitze. Verblüfft starrten alle sie an, Eiven eingeschlossen. Lishars Miene verfinsterte sich.

„Wenn dir das Leben des Bastards irgendetwas bedeutet, solltest du Miro freilassen!“ Er verstärkte den Druck auf seine Waffe, Eiven zischte leise vor Schmerz.

„Lishar“, begann Triyak, hob die Hand, wohl, um den jüngeren Krieger von Dummheiten abzuhalten. Doch in diesem Moment rauschte es plötzlich über ihren Köpfen, der Himmel verdunkelte sich, bevor die Flügelpferdstute mitten unter ihnen landete. Sie schritt zu Avanya hinüber, witterte kurz an dem bewusstlosen Loy zu ihren Füßen, drückte dann ihren Kopf gegen die Schulter der Nola. Avanya lehnte sich an den mächtigen Körper der Stute und streichelte ihren Hals. Entgeistert starrten die Bussard-Loy auf dieses Geschöpf, das ebenso Legende war wie die Nola selbst. Avanya ließ zu, dass die Stute sie mit sich drängte, fort von Miro, und schritt gemeinsam mit ihr zu Eiven hinüber. Die Krieger ließen hastig ihre Waffen sinken und wichen von Eiven zurück, bis die Flügelstute zwischen den beiden Gruppen stand – Eiven und Avanya auf der einen Seite, die vier Bussarde auf der anderen.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Triyak schließlich heiser.

„Wir haben diesem Flügelpferd geholfen, jetzt hilft es uns. Wir beide wollen nicht gegen euch kämpfen oder euren Familien schaden, wir wollen einfach nur so schnell wie möglich durch euer Gebiet gelangen und nach Roen Orm ziehen“, erwiderte Eiven.

„Ihr könnt gehen“, sagte Triyak entschieden. „Haltet euch nördlich. Wenn ihr nicht zu lange pausiert, seid ihr noch vor Sonnenuntergang in den Großen Ebenen, ohne in die Nähe unserer Wohnbäume zu geraten.“

„Triyak!“, murrte Lishar, doch der ältere Krieger schüttelte ungeduldig den Kopf.

„Eiven mag sein was er will, ein Feigling ist er nicht. Wer sich mit nichts als einem lächerlichen Messer im Gürtel freiwillig vier Wächtern stellt, um einer Sippenfremden beizustehen, ist entweder wahnsinnig oder sehr mutig. Wahnsinn habe ich bei ihm nicht gesehen.“ Er nickte Eiven anerkennend zu.

„Außerdem erzählen alle Legenden, dass Flügelpferde nur denen helfen, die es verdient haben, oder? Geh, Eiven, nimm die Nola mit dir. Es soll nicht die Schuld der Bussarde sein, dass der Frieden mit den Adlern zerbricht, oder die Finsternis der Legendenzeit sich wiederholt.“

Das Flügelpferd schnaubte leise und senkte den Kopf vor Triyak.

Eiven nahm Avanya bei der Hand und zog sie mit sich Richtung Norden, den Blick fest auf die Krieger gerichtet, bis er sicher war, dass niemand sie hinderte zu gehen.

 

Als die beiden verschwunden waren, erhob sich die Flügelpferdstute in die Luft. Miro war mittlerweile aufgewacht und starrte dem wunderschönen Geschöpf hinterher.

„Was bei allen Sturmwinden war das?“, rief er keuchend.

„Der Beginn einer neuen Zeit. Oder die Rückkehr der alten Zeiten. Wer weiß das schon?“, murmelte Triyak erschüttert.

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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