10.

 

„In den Waldgebirgen leben Menschen, die eine seltsame Art waffenlosen Raufkampfes pflegen. Ti’qua nennen sie, was wie ein harmloser Tanz aussieht, doch durchaus tödlich ist. Mit gezielten Schlägen und Tritten können die Kämpfer ihren Gegner lähmen oder schwer verletzen. Es scheint mir allerdings, diese Kunst dient eher der körperlichen Ertüchtigung und als Vorbereitung auf den Waffenkampf und die Jagd, denn im Kriegsfall nutzen diese Menschen Speere, Pfeil und Bogen.“

Keran von Brawinma, „Von Krieg und Waffen“, Standardwerk

 

Inani lächelte in hunderte von Gesichtern. Roen Orms Hochadel hatte sich versammelt, um die Fremde anzugaffen, die so vollkommen überraschend als Verlobte des Königs präsentiert worden war.

„Waldgebirge … genauso sieht sie aus, wie eine Wilde!“

„Man sagt, ihre Familie hätte Ilat eine Mitgift versprochen, die dem Gesamtwert von Roen Orm in Edelsteinen entspricht!“

„So viele Diamanten und Rubine gibt es in ganz Enra nicht, aber ICH habe gehört, dass tausend unbesiegbare Krieger in ihrem Gefolge sein sollen.“

„Wozu brauchen wir Krieger, wir haben selbst die beste Armee der Welt. Nein, ich denke, es steckt ein ordinärer Liebeszauber dahinter.“

„Sie soll kein einziges Wort unserer Sprache verstehen, kannst du dir das vorstellen?“

„Sie ist schön, ich würde sie auch gerne …“

Inani versteckte ihr amüsiertes Lachen hinter ihrem riesigen Fächer aus Paradiesvogelfedern. Es war so unglaublich wohltuend, endlich wieder in Roen Orms intrigantem Adelspulk mitmischen zu dürfen! Jedes Detail ihrer reich verzierten Garderobe war sorgsam durchdacht, von den schweren goldenen Ohrgehängen über die langen Schmuckstäbe, die ihr aufgetürmtes Haar zusammenhielten, der Hauch von halbdurchsichtigem Nichts, der ihren Körper in farbenfrohen Schleiern umhüllte, bis hinab zu den Juwelen, die ihre bloßen Füße zierten. Alles stellte Reichtum, Schönheit und fremdartige Macht zur Schau, um jene zu blenden, die nichts anderes sehen wollten.

Sie saß sehr aufrecht auf einem unbequemen Stuhl zu Ilats Linken, der sich entspannt in seinem Thron zurücklehnte und das Spiel in vollen Zügen ebenso genoss wie sie. Erst, wenn Inani gekrönt wurde, durfte sie auf dem verwaisten Königinnenthron Platz nehmen.

Musik spielte auf, doch Ilat winkte ungeduldig, und verunsichert ließen die Musiker ihre Instrumente sinken.

„Meine Verlobte hat eine Spielerin in ihrem Gefolge, ich bin sicher, sie verzehren sich beide danach, Roen Orm zu zeigen, wie man in Kashuum tanzt“, verkündete der König. Inani schenkte ihm ein gereiztes Lächeln, verborgen hinter dem Fächer.

„Ich habe keine Spielerin dabei!“, flüsterte sie ihm zu.

„Sind Hexen nicht dafür bekannt, überall auftauchen zu können?“, erwiderte er grinsend. „Na los, ruf eine deiner finsteren Schwestern her, die dich unterstützen kann, ich will dich tanzen sehen. Oder überfordert das deine Kräfte?“

„Sei vorsichtig, Ilat, du weißt nicht, wen oder was ich alles rufen kann.“

Mit diesen fast lautlos gewisperten Worten erhob sie sich, und verließ unentwegt lächelnd den Ballsaal.

„Hast du ihren Duft bemerkt? Fremdartig, nicht wahr? Süß, aber nicht zu schwer, so ein Parfüm will ich auch!“

„Und ihr Fächer! Ob es wirklich Vögel mit solchen Federn gibt?“

Inani war fast enttäuscht, als sie die aufgeregt plappernden Damen nicht mehr belauschen konnte, es war unterhaltsam. Sie eilte durch die endlosen Gänge des Palastes zu ihren eigenen Räumen. Im Moment wurde sie von niemandem beobachtet, da alle sie auf dem Ball glaubten, trotzdem wollte sie vorsichtig bleiben, auf unfreundliche verborgene Augen und magische Regungen der Priester achten. Ilats Herausforderung gefiel ihr, wenn sie näher darüber nachdachte. Oh ja, an diesen Abend würde Roen Orms Adel noch lange denken!

„Kythara, schick mir Melliare her!“, bat sie, als sie sich sicher fühlte. Ihre mandeläugige Ti’qua-Ausbilderin war geradezu vollkommen für das, was Inani vorschwebte. Rasch erklärte sie Kythara, was Ilat verlangt hatte und wie sie dieser Herausforderung zu begegnen gedachte.

„Ich werde deine alte Freundin Ellenar noch dazu schicken, sie ist sehr geschickt mit der Flöte. Vielleicht sollten die beiden sich dauerhaft in dein Gefolge einfügen, solange du dein Spiel treibst?“ Inani hatte eine ganze Reihe Junghexen als Gefolgsdamen, die ihrer Tarnung dienten, doch keine erfahrenen Hexen.

„Melliare und Ellenar sind erfahren genug, sich nicht erwischen zu lassen und als Schlangenhexen können sie sich leicht verstecken, wenn es ungemütlich wird“, sagte Kythara.

„SOBALD es ungemütlich wird, es ist ja nur eine Frage der Zeit.“ Inani erlaubte sich ein sorgloses Kichern. „Ja, schick sie mir beide, ich sorge schon für die Illusion bei Ellenar.“

„Deine Luftmagie ist schwach, gib auf dich acht, Inani.“

„Für heute Nacht wird es reichen, glaub mir, niemand wird lange auf die Flötenspielerin blicken.“

Sie wartete ungeduldig, bis einige Minuten später zwei ihrer Schwestern durch den Nebel traten. Die beiden hatten sich bereits in passende Gewänder gehüllt, ähnlich exotisch wie das von Inani, nur weniger ausgeschmückt, wie es Dienerinnen gebührte. Ellenar kicherte ausgelassen, als sie im Spiegel beobachtete, wie Inani ihr blasses Gesicht mit der Illusion einer dunkelhäutigen Waldgebirgsschönheit überdeckte.

„Ein Glück muss ich nur spielen, ich glaube, vor so vielen Leuten würde ich keinen Tanz schaffen!“ Inani umarmte ihre einstige Freundin kurz. Ellenar war niemals zuvor in Roen Orm gewesen, doch gerade das würde ihre Glaubwürdigkeit steigern – schließlich sollte sie aus einem fernen Land stammen, da war Unsicherheit und ein wenig Angst durchaus angebracht. Inani spürte, dass sie nichts mehr mit dieser Frau verband, mit der sie einst zusammen die Kampfausbildung genossen hatte. Bedauerlich, aber das war wohl der Lauf der Dinge.

„Denk einfach daran, Ellenar, kein Wort auf Roensha sprechen und immerzu lächeln, das ist alles. Wenn einer der Männer dir zu nahe rückt, plappere auf Is’larr los. Er wird gezwungen sein, dir zu lauschen, auch, wenn er keine Silbe versteht. Irgendwann wird er schon verschwinden!“

Währenddessen hatte Melliare zwei große Körbe aufgestellt. Einer von ihnen mit Pythons gefüllt, ihren Seelentieren.

„Rufe deine Kyphras“, forderte sie herrisch.

Es fiel Inani schwer, die Schlangen zu sich zu bitten. Noch immer schmerzte die Narbe, die der Verlust ihres Vertrauten hinterlassen hatte. Doch die Schlangen waren wichtige Dekoration für ihren Tanz heute Abend, und sie wollte schließlich keinen neuen Vertrauten wählen sondern nur spielen. Es dauerte eine Weile, bis ein halbes Dutzend Kyphras durch den Nebel, den sie den Tieren öffnete, zu ihr gekommen war. Willig glitten die Schlangen in den leeren Korb hinein, sie spürten, was von ihnen erwartet wurde. Es überforderte ihre einfachen Reptiliensinne nicht. Melliare und Ellenar ergriffen die Körbe.

„Bereit?“, fragte Inani und lief zur Tür. Sie wusste, Ilat wartete inzwischen ungeduldig.

„Wir werden lächeln, wenn es sein muss, bis wir auf dem Scheiterhaufen stehen!“, erwiderte Melliare auf Is’larr, und ihre Augen funkelten voller Vorfreude.

 

Die Menge raunte aufgeregt, als die drei anmutigen, fremdartig aussehenden Frauen durch die Saaltür schritten, angeführt von Inani. Sie versanken in einen tiefen Knicks vor Ilat.

„Gefällt dir, was du siehst?“, fragte Inani auf magischem Weg. Er nickte ihr nur zu, doch sie sah, wie sehr ihn dieser Anblick erregte. Inani wusste, er wollte sich schon jetzt nicht mehr beherrschen. Einerseits reizte es ihn, dass sie ihm Grenzen zog, ihn erregte, ohne sich ihm wirklich darzubieten. Willige oder wehrlose Frauen gab es überall für ihn. Anderseits wollte er nicht mehr warten, bis sie seine Königin war. Nur die Angst vor ihrer vernichtenden Macht hielt ihn noch auf Abstand, dessen war sie sich bewusst. Die Ungeduld machte ihn reizbar und hinderte ihn daran, allzu viel nachzudenken. Genau das, was Inani mit ihrem albernen Schauspiel hatte erreichen wollen.

Ellenar stellte ihren Korb mitten im Saal auf den Boden und sah sich etwas verunsichert um. Die Adligen wichen vor ihr und dem bedrohlichen Zischeln aus den Körben zurück.

„Los, nimm die Flöte und spiel etwas, das zu den Schrittfolgen passt!“, befahl Melliare in der geheimen Sprache. Die junge Hexe riss sich zusammen, zückte die lange, hölzerne Gebeinflöte, kniete sich elegant zu Boden und begann zu spielen.

Inani und Melliare griffen in die Körbe und hoben je eine ihrer Schlangen in die Höhe. Die Zuschauer kreischten vor Angst und Faszination, beobachteten wie gebannt, als die Schlangen sich langsam um Arme und Brust der Frauen wanden. Die nahmen noch je eine weitere Schlange an sich und hielten die schweren, geschmeidigen Körper der Reptilien in den Händen.

Die übrigen Tiere glitten aus ihren Körben heraus, als hätten Ellenars Klänge sie gelockt, und schlängelten sich unruhig zischelnd über den Boden, zwischen die bloßen Füße der Hexen. Nun war alles bereit, Inani und Melliare nickten einander lächelnd zu und nahmen die Grundhalten des Ti’qua, des waffenlosen Kampfes ein: Die Knie leicht gebeugt, die ausgestreckten Arme vor dem Körper geöffnet.

Ellenar veränderte nun ihre einfache Weise, wob komplexere Klangmuster hinein, erhöhte das Tempo. Inani begann, Melliare zu umkreisen. Mit tiefen Ausfallschritten, hob und senkte sie die nervös zischelnde Kyphra dabei im Takt, schaffte es stets, graziös über die Schlangen am Boden hinwegzuschreiten. Melliare folgte den Bewegungen, die nichts anderes waren als die Grundmuster des Kampfes. Da sie aber langsamer vorgingen, ihre Hüften kreisen ließen und die vier Schlangen mit in die Abfolgen nahmen, sich außerdem nicht gegenseitig zu schlagen oder treten versuchten, sondern lediglich die Schlangenleiber in Berührung brachten und sich dann wieder lösten, wirkte es wie ein Tanz. Ein hypnotischer, beängstigender Tanz, der wenig mit den braven Gruppentänzen gemein hatte, mit denen die Adligen sich auf ihren Bällen amüsierten. Inani genoss die erregte Spannung, die sich schon bald über die Menge legte. Immer rascher eilten Ellenars Finger über die Flöte, immer hitziger wurde der Tanz. Schließlich sank Melliare zu Boden, gab ihre beiden Pythons frei, die sich gehorsam, als wären sie gezähmt, in den Korb zurückschlängelten. Inani kniete über ihrer Partnerin, zuckte zu den nun aufpeitschenden, schrillen Tönen vor und zurück. Sie ließ den Kopf ihrer Kyphra über den schlanken, starken Körper der dunkelhäutigen Frau gleiten. Ellenar beendete das Lied mit einem hellen Klagelaut, Inani brach über Melliare zusammen. Die Schlangen wanden sich nicht länger hin und her, sondern kehrten sofort zu den Körben zurück, während die beiden Hexen noch einen Augenblick liegen blieben, schwer atmend und in Schweiß gebadet.

Totenstille senkte sich über den Saal. All diese herrschaftlichen Adligen waren schockiert, fasziniert und zugleich abgestoßen von dem, was sie gerade gesehen hatten. Endlich löste sich die Starre, und vereinzelt begannen die Zuschauer zu klatschen. Inani erhob sich und zog ihre Schwestern mit sich auf die Füße. Mit ungebrochenem Lächeln verneigten sie sich vor ihrem Publikum, trippelten vor bis zu Ilats Thron und warteten dort in tiefem, ehrerbietigem Knicks auf das Urteil des Königs.

Ilat umklammerte die Armstützen des Throns mit beiden Händen. Er starrte auf die drei Hexen, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er sie verdammen oder hungrig über sie herfallen wollte.

Unsicher verhielten die Adligen den Applaus, sie wussten nicht, was nun folgen würde. Wenn Ilat sich beleidigt fühlen sollte, könnte das Vergnügen bereits beendet sein. Bei diesem König wusste man nie, was man zu erwarten hatte.

Mühsam räusperte er sich und setzte sich ein Stück zurück.

„Das war einzigartig“, murmelte er schließlich. Seine Worte wurden durch den Saal getragen, von Ohr zu Ohr, und befreit brandete der Applaus von neuem auf.

Inani verließ mit den beiden anderen Hexen den Saal, unentwegt lächelnd und winkend.

„Ein wunderbares Spiel. Meinst du nicht auch?“, fragte sie Rynwolf höhnisch. Der Erzpriester, der so still dastand wie die Säule, an der er lehnte, schenkte ihr einen mörderischen Blick, doch er schwieg. Er war sichtlich ebenso wütend und ungeduldig wie Ilat. Genauso, wie Inani es beabsichtig hatte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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