37.

 

„Und die Elfen kehren heim, zu deiner Vernichtung.

In fernen Tagen, wenn nicht viele mehr sind.“

Aus einer Prophezeiung zur Vernichtung von Osmege, gesprochen von Fin Marla, Königin der Elfen

 

„NEIIIN!“, schrie Osmege und versuchte, zum Siegelstein zu gelangen, aber der Drache versperrte ihm den Weg. „Warum hast du das getan? Warum nur? Sie sollte doch durch meine Hand sterben, und ich hätte es nicht getan, ich hätte es nicht tun können, nicht sofort. Warum nur?“

Marjcheog wich langsam zurück. In Osmege schrien zehntausende verlorene Seelen, so fürchterlich, dass er sich am liebsten den Kopf abgeschlagen hätte, nur um sie alle zum Schweigen zu bringen. Chelsas verbrannter Leib lag über dem Siegelstein.

„Sieh, was du getan hast, Osmege!“, rief Ledrea anklagend in seinen Gedanken. Auch sie konnte er nicht loswerden, egal, was er versuchte! Zerschmettert von zu viel Schmerz kniete er nieder, und hob den Kristall auf, der in einem halb verkohlten Tuch geborgen unter dem Siegelstein lag. Die seltsame Waffe, die zwischen der betrügerischen Fremden und Chyvile hin- und hergewandert war. Kaum zu glauben, dass das Drachenfeuer sie nicht ebenfalls zerstört hatte.

„Das sollte sie vor mir schützen, nicht wahr? Aber es hat sie nicht vor dem Drachen bewahrt“, sagte er, schrill lachend, ohne zu wissen, warum. In dem rußgeschwärzten Kristall war ein Goldfaden eingeschlossen. Zweifellos irgendeine Elfenmagie, die er nicht verstand. Was sollte er damit jetzt anfangen? Sollte er sich damit vereinen?

Osmege war so mit sich selbst beschäftigt, dass er nur am Rande seines Bewusstseins bemerkte, wie blau schimmernde Energien von Chelsas Körper in den Siegelstein versickerten. Erst, als das Mädchen plötzlich verschwunden war, sich vollständig in Magie verwandelt hatte, blickte er auf. Taumelnd kam er auf die Beine, Schritt für Schritt wich er vor dem Siegelstein zurück, der nun rasend schnell zu rotieren begann.

„Alles verloren, ja?“, wimmerte die Stimme, die zu Onme gehörte.

„Ja. Es ist nun vorbei, Osmege“, erwiderte Maondny traurig. Sie kniete gemeinsam mit Inani neben Pera und Jordre. Die beiden Liebenden hatten sich im Todeskampf umarmt. Sie waren erlöst.

Bevor jemand etwas sagen konnte, gab es plötzlich eine gewaltige Explosion. Osmeges Festung brach auseinander. Die Erde stöhnte, sie bäumte sich auf. Mit ohrenbetäubendem Getöse zerrissen die Felswände. Marjcheog packte Maondny, Inani und die beiden toten Orn und schirmte sie mit seinen gewaltigen Flügeln vor dem Sand ab, der auf sie hernieder regnete. Osmege musste sich selbst beschützen, als alles das, was er einst zu Gestein geformt hatte, wieder zur Wüste wurde. Seine Diener, Gefangenen und Sklaven versuchten zu entkommen, doch für die meisten gab es keine Hoffnung. Als das Beben vorbei war, leuchtete der Siegelstein ein letztes Mal auf, und verging. Der Weltenstrudel wurde sichtbar, seine Magie erfüllte die neu entstandenen endlosen Weiten. Und schon traten Gestalten aus ihm hervor: Die Elfen waren gekommen, Osmege endgültig zu vernichten.

 

~*~

 

Fin Marla trat zu der jammernden Kreatur, die solch lange Zeit Anevy mit Tod und Schrecken überzogen hatte.

„So endet es, Osmege“, sagte sie sanft. „Als wir uns das letzte Mal gegenüberstanden, da wusstest du es bereits, nicht wahr?“

Er blickte nicht hoch zu ihr, wagte es nicht. Er hatte damals versucht, sich mit ihr zu vereinen, sie zu zerstören wie all die anderen Elfen zuvor. Das magische Wort hatte bei ihr versagt, da sie im selben Moment, als er es aussprach, einen ähnlichen Zauber wirkte, der die Magie kontrolliert und wirkungslos zu ihr strömen ließ – als hätte sie einen Pfeil im Flug gefangen. Sie hatte die Energie genutzt, um ihm eine Vision zu schicken von genau diesem Moment, den er nun durchlebte. Osmege wusste es. Er hatte verloren. Der Pfeil, den sie auf ihn zurückgeschleudert hatte, stak nun in seinem Herzen.

Taón kam hinzu und kniete vor Osmege nieder.

„Dies ist für dich bestimmt“, sagte er leise, zog das verbrannte Tuch fort und schloss Osmeges bebende Finger über den Kristall. Dieser zerbrach und Corins Haar berührte die Hand des Orns.

„Die Magie dieser Tochter der Pya gilt dir, Ismege, deinem Hass auf alles Leben, den die Hand deines Vaters in dich einprügelte. Und dir Onme, dem Wahnsinn, der aus deinem zerstörten Geist entstand. Die Jenseitswächter werden euch nicht noch einmal ins Leben schicken, doch eure Seelen sollen getrennt und geheilt mit Geshar fliegen“, flüsterte Maondny mit golden funkelnden Augen.

Taón hob sein Schwert, und erlöste diesen Körper, der zu lange überdauert hatte, zu viele Leben in sich vereinen musste. Der Todesschrei Osmeges hallte über ganz Anevy. Alle Chimären starben im gleichen Atemzug, alle verlorenen Seelen kamen frei. Jegliche Magie, die Osmege jemals gewirkt hatte, verging. Es war vorbei.

 

~*~

 

„Ledrea!“

Die Elfe, die im Zentrum des von ihr erzeugten Magiestrudels ruhte, rührte sich nicht. Die vernichtende Kraft, die sie bis gerade eben noch aus der Unendlichkeit zerren wollte, war fort. Jetzt wollte sie sterben, vergessen, und sonst nichts mehr.

„Komm zu mir, Liebste!“

Widerwillig öffnete sie die Augen. Jandalin war bei ihr, wie war das möglich? Er war doch verloren, verloren wie alles, was sie liebte!

„Komm mit, Ledrea. Osmege ist tot, ich bin frei. Lass einfach los, ich bringe dich zurück.“

„Ein neues Leben, Jandalin? Hatte ich denn nicht bereits genug?“, fragte sie müde.

„Es ist unser Recht, und unsere Pflicht, wir sind Elfen. Komm mit mir! Taón hat eine wichtige Frage, und es gibt etwas zu entdecken, Liebes. Ein Geheimnis, das wir so lange nicht ergründen konnten.“

Sie ließ es geschehen, dass er geistig nach ihr griff, und ihren Seelenleib durch die Unendlichkeit zog, bis sie Licht vor sich sah.

„Geh hindurch, Ledrea. Ich kann dir nicht folgen, ich erwarte dich bei den Wächtern.“ Sie spürte seinen Kuss, bevor Jandalin sie in das Licht stieß und sie erkannte, was

geschehen war: Jandalin war tot. Es war ein Traum gewesen, eine Berührung ihrer beiden verlorenen Seelen, sonst nichts.

Weinend lag sie im Wüstensand, ließ zu, dass Fin Marla und andere Elfen sie umgaben und vergeblich versuchten, ihr Leid zu lindern.

„Du wirst bald von Neuem mit ihm vereint sein“, wisperte Fin Marla neben ihr. „Trink dies, es wird dich einschlafen lassen. Wenn du erwachst, dann bist du in einem neuen Körper wiedergeboren.“

„Doch zuvor, Ledrea, eine Frage“, sprach Taón. „Gestattest du, dass wir einen neuen Tarches erschaffen? Einen Baum der Namen, nach deinem Vorbild? Es würde unserem Volk Trost schenken, schon bei der Geburt eines Kindes zu wissen, wessen wiedergeborene Seele in ihm ruht.“

„Niemals“, krächzte Ledrea, „niemals würde ich in eine Welt zurückkehren wollen, in der kein Tarches auf mich wartet, um mir von denen zu erzählen, die ich liebe …“

„Ledrea?“ Sie sah Fin Marla in jüngerer Gestalt vor sich und wusste, es musste Maondny sein, die sie bislang nur aus wirren Träumen gekannt hatte. Eine junge Elfe stand neben der Traumseherin und blickte kummervoll auf Ledrea herab.

„Dies ist Elory, die Frau meines Bruders Anovon. In ihr wächst ein Kind heran, das bereits bald geboren wird. Das erste Kind nach der Rückkehr unseres Volkes. Es ist auch dein Sohn, Ledrea. Ilberle, dein Erstgeborener. Er ist der Erste, er wird den Anfang machen, so, wie es ihm schon immer prophezeit war. Lass ihn nicht zu lange warten.“

Ledrea nickte nur, erschüttert über die Reichweite der magischen Ströme. Ilberle, der Erste …

Das Gift, das Fin Marla ihr gegeben hatte, nahm ihr das Bewusstsein, und nur wenige Herzschläge später war ihr Leiden beendet.

 

~*~

 

Taón sah auf, als Inani zu ihm trat. „Corin hat auch für dich ein Geschenk“, sagte die Hexe und hielt ihm etwas entgegen. Ehrfürchtig nahm er den Kristall an sich, der sofort zerbrach. Er spürte die Magie, die ihn durchströmte, Heilung und Trost brachte. So viel Schuld lag auf seinen Schultern, für so viel Tod und Verderben. Diese Schuld war nicht auszulöschen, doch die Wunde durfte nun vernarben.

Er brauchte alle Kraft für die Zukunft, Anevy war fast vollständig zerstört, seine drei Völker und fast die gesamte Tier- und Pflanzenwelt so gut wie ausgerottet. Diese Aufgabe ließ sich nicht bewältigen, wenn die Seele vor Trauer und Schuld erstarrt war. Taón schloss die Augen und ließ es geschehen.

„Wir kehren nun zurück nach Enra, Inani und ich“, sagte Maondny, und umarmte ihn ein letztes Mal. Auch dies war ein Schmerz, der kaum zu ertragen war, aber er wusste, er würde sie wiedersehen, sein geliebtes Kind, dem er so Schreckliches angetan hatte.

„Auf bald, Tochter. Wenn die Götter uns lieben, lassen sie uns nicht zu lange warten.“ Taón wusste, es würde lange dauern, und fand nur wenig Trost darin, dass dies nicht an mangelnder Liebe der Götter lag.

 

~*~

 

Inani und Maondny traten in den Weltenstrudel hinein.

„Ich weiß, was du fragen willst. Nein, die Prophezeiung hatte keinen Platz für dich, nicht in dem Augenblick, als meine Mutter sie sprach. Osmege hätte auf andere Weise gespürt, welche Macht in Bedauern und Reue steckt, und Marjcheog hätte auf anderen Wegen erfahren, was seine Aufgabe ist. Ich musste eingreifen, denn mein Wirken in Enra hatte dafür gesorgt, dass Pera und Jordre viel zu jung zum Siegelstein kamen, nicht mächtig genug, um ihren Teil der Prophezeiung zu erfüllen. Trotzdem war ihr Tod nicht sinnlos: Es war auch ihr Sterben, das Osmege wie den Drachen bewegte, und das Chelsa auf den Stein zwang.“

„Werden sie wiedergeboren werden?“, fragte Inani erschöpft. Marjcheogs Schatten war fort aus ihrem Inneren, mit Osmeges Tod war auch der entrissene Teil ihrer Seele zurückgekehrt, der ihr die Bindung an Kyphras ermöglichte. Doch sie fühlte sich so zerschlagen, als hätte sie dafür jeden einzelnen Stein von Osmeges Festung mit eigenen Händen zu Wüstensand zermahlen müssen.

„Ja, sogar recht bald schon. Es ist ungewiss, ob Pera und Jordre sich erneut in Liebe finden, oder ob er sein Herz erneut Chelsa, seiner Gefährtin von einst schenkt. Das wird sich entwickeln … Vielleicht suchen sie sich alle drei auch neue Gefährten. Sie werden frei von allen Prophezeiungen sein.“

„Was wird aus dem Drachen?“

„Er verlässt Anevy in diesem Moment, er kehrt heim zum Weltenschöpfer.“

Mit diesen Worten traten die beiden aus dem Weltenstrudel, was sich kaum anders anfühlte als das Verlassen der Nebelpfade, und sie kehrten in den Tempel von Roen Orm zurück.

„Endlich“, riefen Thamar und Janiel zugleich, die bereits sehnsüchtig auf sie gewartet hatten. Die beiden Frauen nickten einander zu. Sie waren wieder zuhause.

 

 

 

 

 

 

 

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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