22.

 

„Erkläre mir nicht das Wie oder Warum. Sag einfach nur, dass es niemals aufhören wird!“

Zitat aus: „Der Ruf des Korabal“, Komödie von Shila von Erten

 

 

„Wir müssen irgendwann beginnen“, flüsterte Maondny widerstrebend.

„Ich hab’s nicht eilig.“ Thamar vergrub den Kopf an ihrer nackten Schulter. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass er nur empfinden und wahrnehmen konnte, was Maondny ihm an sinnlichen Eindrücken bot. Es störte ihn nicht, sie war alles, was er wollte, begehrte, brauchte. Er war sogar froh, dass er im Zeitenstrom nur eingeschränkt empfindungsfähig war, sonst wäre er möglicherweise an der Nachricht über Corins Tod und Kytharas nahendem Ende zerbrochen.

„Ich weiß, dass du es nicht eilig hast.“ Sie lächelte schelmisch, der schönste Anblick, den er sich vorstellen konnte. Thamar stahl sich rasch einen Kuss, überglücklich, dass es ihm endlich gestattet war. Sie beide hatten sich eine Ewigkeit genommen, um die Liebe zu feiern, die sie so lange hatten unterdrücken müssen. Thamar wusste nicht, wie oft sie sich mit Körper und Seele vereint hatten, häufig genug jedenfalls, dass er im Moment satt und zufrieden war.

„Auch ich habe es nicht eilig, mein Liebster. Trotzdem müssen wir irgendwann beginnen.“

„Ich würde gerne Inani und Janiel beistehen, Maondny, aber das kann ich nicht, oder? Es würde sicher den Verlauf des Schicksals ändern?“

„Nein, würde es nicht. Doch du kannst nicht zu ihnen sprechen. Auf sehr komplizierte Weise bist du im zurzeit überall und nirgends zugleich. Würde man einen Suchzauber auf dich wirken, würde er an jeden Ort Enras führen, an dem du jemals gewesen bist.“

Er lachte über ihren zerknirschten Gesichtsausdruck, weil sie ihm wie so oft mit Rätseln auf eine klare Frage geantwortet hatte, und stand auf. Es wunderte ihn längst nicht mehr, dass er sofort wieder seine Kleidung trug. Das hier war ein Ort, an dem die Gesetze des Lebens nichts galten.

Ohne zu zögern ließ Thamar sich von Maondny an die Hand nehmen und in die seltsame Leere hineinführen. Sie hatte Recht. Es war Zeit zu beginnen, was auch immer seine Aufgabe hier sein mochte.

Schon nach wenigen Schritten musste er allerdings innehalten und die Schönheit dessen bestaunen, was sich plötzlich vor ihm entfaltete: ein silberner Strom inmitten tiefer, endloser Schwärze, der sich mäanderförmig im Nichts dahinschlängelte, gekrönt mit glitzernden Lichtpunkten. Beständig tauchten neue Lichter auf, manche tanzten über dem Silberband, andere versanken in den trägen Fluten.

„Ist das …?“ Er vergaß, was er hatte fragen wollen, überwältigt von dem, was sich ihm offenbarte.

„Ja. Das ist der magische Zeitenstrom von Enra“, sagte Maondny. „Die Lichter sind die Lebenskraft all jener Kreaturen, die diese Welt bevölkern.“

Wie gebannt starrte Thamar auf das Leuchten und Funkeln. Wie schön es war, wie vollkommen! Er wusste, dass er um jeden Funken, der verglühte, hätte trauern müssen, denn dies war ein Leben, das unwiderruflich verloren ging. Doch er konnte nicht, konnte nicht einmal wirklich begreifen, was er hier sah. Er fuhr zusammen, als Maondny ihn umarmte und so seinen Blick von dem Zeitenstrom trennte.

„Man verliert sich zu leicht darin, mein Liebster“, sagte sie, während sie ihn sanft auf seine geschlossenen Lider küsste. „Du siehst wenig von dem, was dieser Fluss wirklich bedeutet, du würdest den Verstand verlieren, wenn du erkennen müsstest, worin ich hineingeboren wurde. Selbst dieses schwache Abbild könnte dich allerdings zerstören, falls du es zu lange betrachtest.“

Verwundert streichelte er über ihre tränennassen Wangen. „Es gibt noch mehr als das?“, wisperte er voller Ehrfurcht.

„Aber ja, viel mehr! Das hier ist wirklich nur ein kleiner Ausschnitt des Gesamtmusters, ein Seitenarm von Enras Fluss. Ich lebe beständig in den Strömungen von Enra und Anevy, und halte dabei noch ein wenig die anderen Welten unter Beobachtung.“ Sie stellte sich hinter ihn und verdeckte seine Augen. „Ich lasse dich für einen Herzschlag das gesamte Muster erkennen, so, wie ich es sehe, ja? Nur diesen einen Moment, du bist schon lange genug an diesem Ort, um es ertragen zu können.“

Er nickte, versuchte sich innerlich zu wappnen für das, was kommen würde, doch es war unmöglich: Als sie ihre Hände wegzog, enthüllte sich etwas, das über jedes Begreifen hinausging. Purpurne und goldene Nebelspiralen kreisten umeinander, überall um ihn herum, durchzogen von gleißenden Strömungen. Die Lichtpunkte entfalteten sich zu unendlich vielen Lebewesen, er sah sie werden und vergehen, sah ihr Handeln, ihr Irren, ihre zahllosen Entscheidungen, die den gesamten Strom beeinflussten. Immer wieder setzte sich das Bild neu zusammen, pulsierte mal rascher, mal langsamer, ein Muster im ewigen Tanz, im Takt einer fernen Melodie.

Dann verglühte das Leuchten, und der Moment war vergangen. Thamar fand sich am Silberstrom wieder, in Maondnys Armen. Er weinte besinnungslos, überwältigt von all diesem Leben und seinem Schicksalstanz. Maondny wiegte ihn ein, streichelte sein Haar, flüsterte beruhigend auf ihn, bis er sich irgendwann gefasst hatte.

„Wie kannst du das alles nur ertragen?“, wisperte er.

„Die Götter haben mich beschützt. Sie verschleierten das Muster, führten mich Schritt für Schritt näher heran, bis ich bereit war, es zu erkennen.“ Sie zog ihn weiter, während sie sprach, durch die schwarze Unendlichkeit. Erst jetzt wurde Thamar bewusst, dass sie stromabwärts wanderten. Er hatte befürchtet, dass es eine Ewigkeit dauern würde, an den Anfang, die Quelle aller Dinge zu gelangen, doch nur wenige Schritte später hielt Maondny bereits an.

„Schließ die Augen. Wir sind angekommen und tauchen nun ein in eine Zeit, die schon lange vergangen ist.“

Willig ließ er sich führen. Es traf ihn wie ein Schlag, als plötzlich alle Sinne wieder zu Leben erwachten, er konnte hören – Wind, Fauchen und seltsame Laute, die ihn zutiefst verängstigten. Er konnte riechen – Rauch, feuchte Erde und zu viele fremdartige Eindrücke, um sie benennen zu können. Er fühlte Hitze, spürte den Boden unter seinen Füßen beben, und die Nähe von Kreaturen, die deutlich größer waren als er selbst. Unwillkürlich riss er die Lider auf und starrte auf ein Inferno.

„Was ist er?“ Das waren keine Worte, die Frage drängte sich als Flut von Bildern in sein Bewusstsein. Völlig erschüttert, zu betäubt, um noch Angst spüren zu können, wandte

Thamar den Blick von der Flammenwalze, die auf ihn zugerollt kam, und stellte sich der gewaltigen Kreatur, die sich hinter ihm befand.

 

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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