39.

 

„Nicht Neues in dieser Welt, alles ist ein ewiger Kreis der Wiederholung. Kein Wort, das nicht schon tausend Mal gesprochen, kein Schicksal, das nicht schon tausend Mal gelebt wurde. Was ist es nur, das die Götter fesselt, wenn sie uns beobachten? Sehen, wie wir immer wieder die gleichen Fehler begehen? Hoffen sie, dass wir irgendwann lernen? Lassen sie uns deshalb so vieles von Neuem durchleben? Führen uns zurück auf Wege, die längst beschritten waren?“

Zitat aus: „Hinter dem Thron“, von Arelt von Roen Orm, Erzpriester des Ti

 

Nachdem sie eine Nacht geruht hatten und Frieden in Roen Orm eingekehrt war, sammelten sich die Gefährten im Thronsaal des Palastes. Maondny hatte ihnen mitgeteilt, dass es eine letzte Aufgabe für die Herrscher der Elemente gab, gespannt warteten sie, was heute geschehen würde.

„Cero, bleib du bitte zurück und beruhige alle, die nach Thamar und Janiel verlangen. Sag ihnen, dass sie beide die Hexenkönigin in die Welt des Zwielichts zurückgeleiten, von wo aus sie herrschen wird. Wer es genauer wissen will, darf ruhig erfahren, dass weder die Elfen noch die Hexen in Roen Orm leben werden und sowohl der künftige König als auch Rynwolfs Erbe vor Sonnenuntergang heimkehren“, erklärte Maondny.

„Wohin geht die Reise?“, fragte Inani neugierig.

„Zur Adlersippe. Eiven muss den Larcima übergeben, so wie die Nola den Anhänger erhalten haben.“

„Warum müssen Janiel und Thamar dabei sein? Sie haben nichts mit den Loy zu schaffen, und so groß scheint diese Aufgabe nicht zu sein, dass es zusätzliche Krieger braucht“, hakte Inani nach.

„Wartet ab. Es ist von großer Bedeutung, dass die Herrscher der Elemente ein letztes Mal zusammen marschieren. Danach wird jeder von uns seine eigene Aufgabe übernehmen müssen, im Dienste des Gleichgewichts.“ Maondny lächelte traurig, und sie erschauderten alle. Etwas Großes würde geschehen, das war gewiss.

Inani öffnete schweigend den Nebel, und nur Augenblicke später standen sie inmitten der Siedlung, umschwärmt von aufgescheuchten Loy-Kriegern.

„Rührt sie nicht an! Ich kenne sie alle!“, schrie Niyam und verhinderte damit einen Angriff mehrerer junger Wächter. Eiven zuckte leicht zusammen, als er sich Nalvat und Misham gegenüber sah, beachtete sie allerdings mühsam beherrscht nicht weiter, sondern reckte den Larcima in die Höhe.

„Dies ist der Gedankenstein, den unser Volk vor so langer Zeit verloren hat!“, verkündete er laut.

Murmelnd wichen alle zurück. Auf ein Wort von Niyam hin schufen alle Platz für Laremo, den Sippenführer, der zu ihnen kam. Der alte Loy wollte den Larcima an sich nehmen, doch Eiven hielt ihn zurück.

„Du wirst nichts sehen, es sei denn, du hältst ihn gemeinsam mit der Nola Avanya. Es braucht zwei verschiedene Nachfahren der Ersten, um die Magie zu wecken.“

Zögernd streckte Laremo den Stein Avanya entgegen, zu verblüfft, um zu hinterfragen, wer die Ersten waren, und erstarrte, als auch er erfuhr, was vor so langer Zeit gewesen war. Währenddessen trat Roya zu ihrem zweitgeborenen Sohn. Sie betrachtete ihn so offen, wie sie es noch nie getan hatte.

„Ich kann nicht gut machen, was ich versäumt habe. Ich will dich nicht mit einer Bitte um Vergebung beleidigen. Das einzige, was ich dir zu sagen habe, ist: Ich habe dich niemals lieben können, aber es war kein Hass, dass ich dich leben ließ. Ich wollte dich nicht quälen. Es tut mir leid, was dir angetan wurde. Niyam hat es mir erzählt, ich habe ihn dazu gezwungen. Nur mir, das schwöre ich. Ich hoffe, du wirst zu uns zurückkehren. Es würde mich glücklich machen.“

Er erwiderte den Blick. Zum ersten Mal in seinem Leben hielt er ihr mühelos stand.

„Ich hoffe, du wirst dein Glück auf andere Weise finden, Mutter. Ich werde niemals wieder unter euch leben. Niemals. Ich hasse dich nicht, wenn dir das ein Trost ist.“

Er wandte sich um, gerade rechtzeitig, um das Gesicht von Fanven zu erkennen. Mishams Vater fixierte ihn voller Hass, und schleuderte seinen Speer, genau auf Eivens Herz zu. Niemand konnte mehr rechtzeitig reagieren, die Distanz war viel zu gering, als das Eiven hätte ausweichen können. Nicht einmal Inani wäre fähig, das Schlimmste zu verhindern.

Doch Maondny war bereits in Bewegung gewesen, noch bevor die Waffe Fanvens Hand verließ. Die Elfe trat in die Flugbahn des Speers und fing ihn mit ihrem eigenen Körper auf. Er durchschlug ihre Brust und schleuderte sie mehrere Schritte zurück, bis sie zu Boden fiel.

„NEIN!“

Janiel schaffte es gerade noch, Inani zu packen, bevor sie Fanven in Stücke zerfetzen konnte. Er hielt sie umklammert und hinderte sie mit Magie und körperlicher Gewalt daran, sofort Rache zu nehmen.

„NEIN!“

Thamar riss die sterbende Elfe in seine Arme, vollkommen fassungslos. Eiven löste sich aus seiner Starre, wollte sich auf Fanven stürzen, doch Niyam riss ihn herum.

„Warte, Junge! Warte, bis Laremo entscheidet, warte!“, brüllte er, nicht weniger erschüttert als alle anderen.

„Lass mich los“, bat Inani unter Tränen und legte einen lähmenden Bann über Fanven, der die allgemeine Verwirrung zur Flucht nutzen wollte. Dann warf sie sich neben Maondny nieder, riss den Speer aus der Wunde und legte die Hände auf, um Heilmagie zu wirken.

„Tu es nicht“, flüsterte die Elfe. „Du musst mich gehen lassen.“

„Maondny, nein!“ Thamar zwang sie, ihn anzusehen. „Tu mir das nicht an, du kannst mich nicht zurücklassen!“

„Ich muss es, Liebster, vergib mir“, wisperte sie schluchzend. „Die Götter haben ein Abkommen mit mir geschlossen, schon vor vielen Jahren, als ich dich rettete: Sie ließen mich in zwei Welten mit dem Schicksal spielen, ohne mich zu hindern. Als Gegenleistung musste ich versprechen, eine Aufgabe zu übernehmen, in einer fernen Welt, zu der es von hier aus keinen magischen Strudel gibt. Um dorthin zu gehen, muss ich sterben und wiedergeboren werden.“

„Das kann nicht sein! So grausam können sie einfach nicht sein!“, brüllte Thamar und vergrub das Gesicht an ihrer Schulter. Er wusste, er konnte sie nicht länger halten. Sie würde gehen, wohin sie wollte, wie sie es stets getan hatte.

„Verzweifelt nicht! Ein neues Zeitalter liegt in euren Händen, ihr seid die Herrscher der Elemente! Avanya, komm her“, flüsterte Maondny mit brechender Stimme.

Die Nola sank neben ihr nieder, ebenso entsetzt wie alle anderen.

„Nimm eine meiner Tränen, forme daraus einen Kristalltropfen, unzerstörbar von Zeit und Gezeiten.“

Gehorsam legte Avanya einen Finger an Maondnys Wange, fing eine der Tränen auf und wandelte sie zu einem durchsichtigen Kristall.

„Gib ihn Thamar. Liebster, in dieser Träne ist ein wenig von meiner Macht gefangen. Du wirst nicht zum Seher, doch du wirst in Zukunft spüren, welcher Weg der bessere für dich ist. Dieser Kristall wird nur für dich wirken, und wir werden durch ihn verbunden sein, solange du lebst.“

Sie bäumte sich in seinen Armen auf, gequält von dem Kampf gegen den nahenden Tod.

„Meine Gedanken werden zu euch finden, meine Freunde, über den magischen Gezeitenstrom kann ich stets zu euch sprechen. Ich werde nicht länger körperlich bei euch sein, aber ich bleibe euch nahe.“

Ihr Blick fiel auf Eiven, der von Kummer zerrissen auf sie nieder starrte.

„Es war nicht deine Schuld, also nimm sie nicht auf dich, sie gehört dir nun einmal nicht! Ich hätte auf unzähligen Wegen aus dieser Welt schreiten können. Ich wählte diesen, damit dein Leben bewahrt bleiben konnte. Nimm dieses Geschenk als das, was es ist, und nutze es weise.“

Es dauerte noch einige Minuten, in denen sie still in Thamars Armen lag, dann starb sie.

Die Loy hielten respektvoll Abstand von den Trauernden, sie verstanden nicht wirklich, was hier alles geschehen war.

Irgendwann trat Niyam an Inani heran und berührte sie leicht an der Schulter.

„Bitte, löse den Bann über Fanven. Er muss verurteilt werden“, sagte er leise. Wie betäubt nickte sie, wischte sich die Tränen ab und hob die magische Lähmung auf. Thamar ließ sie in Janiels Obhut zurück und stellte sich selbst an Eivens und Avanyas Seite. Fanven sah wie versteinert aus.

Laremo ergriff das Wort: „Es ist unerträglich, dass in der gleichen Stunde, in der uns das Wissen um die Vergangenheit zurückgebracht wurde, so viel Leid entstanden ist. Ich kann nicht über Fanvens Schicksal urteilen. Eiven, der Hass von Royas ehemaligem Gefährten sollte dich töten, und hat den Tod über eine Sippenfremde gebracht, die unter dem Schutz der Gastfreundschaft stand. Richte du über ihn!“

Eiven starrte den Mann an, der so sehr von Hass zerstört war. Er wusste, es war sein Recht, Fanvens Tod zu fordern, und es wäre eine Gnade für diesen Loy. Aber wäre es auch das Beste für die Sippe?

Nacheinander blickte er in all diese vertrauten Gesichter, zuletzt in das von Misham. Sein Halbbruder hielt ihm nicht einen Herzschlag lang stand, er senkte den Kopf. Eiven wusste, es würde Misham endgültig zerbrechen, wenn er seinen Vater verlor. Dies war seine Gelegenheit zur Rache … Doch die wollte er längst nicht mehr. Er spürte Avanyas Hand, die sich in seine schob und ihm Trost schenkte. Er wusste, dass alle Loy sich darüber wunderten, und lächelte in sich hinein. Ja, so war es richtig. Es gab nichts mehr, was ihn hier hielt, und es gab keinen Grund, verbrannte Erde zu hinterlassen.

„Fanven war ein Werkzeug der Götter. Er diente, um der Elfe Geleit in die nächste Welt zu verschaffen, auch, wenn er dies nicht wusste. Diese Tat ist nicht mit Blut fortzuwaschen. Es gibt nichts, was ich von ihm fordere.“

Er trat dicht an Fanven heran.

„Du wirst zweifellos den einsamen Tod suchen, um der Schande zu entgehen, von allen verachtet zu werden. Tu es. Es gibt keinen leichten Weg für dich.“

Als er sich abwandte, sah er die Bewegung aus dem Augenwinkel – gerade noch rechtzeitig, um den Dolch beiseite zu schlagen, den Fanven auf ihn zielte.

Nur einen Moment später sank Fanven sterbend zu Boden. Roya hatte das Messer geworfen, das den Tod über ihren einstigen Gefährten brachte.

„Nun hat es ein Ende“, flüsterte sie, und schritt davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

 

Misham blickte Eiven hinterher, als die kleine Gruppe sie schließlich verließ. Das Entsetzen über den Tod seines Vaters betäubte ihn, er konnte nicht denken noch fühlen – außer Angst. Jene Angst, die ihn umtrieb, seit Eiven verschwunden war. Misham wagte nicht zu fragen, ob sein Halbbruder jemals wiederkehren würde, um ihn für all seine Verbrechen anzuklagen. Dieser Friede würde ihm wohl niemals vergönnt werden.

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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