40.

 

„Ordnung ist die Abwesenheit von Chaos. Ordnung herrscht, wenn alles sich genau dort befindet, wo es hingehört. Ordnung ist immer unsichtbar und leichter zu zerstören als jedes andere Element dieser Welt. Nur ein Hauch, und schon war alle ordnende Mühe umsonst.“

Zitat aus „Pflicht und Freude der Haushaltsführung“, Ratgeber, von Luanna von Barrand

 

 

Die alte Hexe seufzte erschöpft. Ja, sie hatten Ordnung über Enra gebracht. Vieles war überraschend leicht gewesen. Thamar war von Roen Orms Bürgern wie von allen Adligen des Kontinents mit offenen Armen empfangen worden, vor allem, nachdem Cero sich zu ihm bekannte. Er heiratete in seinem zweiten Jahr auf dem Thron eine Gräfin aus Lynthis – diesmal eine echte Dame, keine Hexe – um den Frieden zu sichern. Mit dieser Frau verband ihn keine Liebe, nur die Pflicht; doch nach einigen Jahren entwickelte sich zumindest Freundschaft zwischen ihnen. Sie hatten mehrere Kinder, die von keinem blutrünstigen Gesetz bedroht wurden. Zeit seines Lebens blieb er seelisch mit Maondny verbunden und ihre Kristallträne nutzte ihm in zahlreichen Momenten, die richtige Entscheidung zu finden. Sie schließlich mit ihm ins Grab gelegt. Die Hexen wirkten weiterhin im geheimen, am Königshof wie auch an vielen anderen Orten, um ihre Ziele zu erreichen. Inani sorgte dafür, dass alle so genannten Tempel der Heiligen Mutter von Töchtern des Lichts übernommen wurden, damit auch jene, die nicht von Pya erwählt waren, ihre magischen Kräfte und Fähigkeiten entwickeln durften. Die ehemalige Königin Rosanna half ihr dabei unermüdlich, solange sie lebte.

Janiel hatte einen schweren Stand als Erzpriester, aber indem er seine größten Kritiker allesamt für einige Wochen zu Ronlad nach Kashuum schickte – manche auch dauerhaft –, konnte er eine Eskalation verhindern und den Boden für neue Ideen bereiten. Er musste Roen Orm nach einigen Jahrzehnten verlassen, als es zu viele Sonnenpriester gab, die seine Illusion vom alternden Mann durchschauen konnten. Er blieb ewig jung, wie es sonst nur den Hexen gegeben war. Gemeinsam mit Inani kehrte er im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zurück in die ewige Stadt und wurde schließlich zu einer Legende unter den Geweihten. Er erneuerte die Bruderschaft des Ti von innen heraus, und ein Zeitalter des Glaubens und friedvoller Götterverehrung begann. Magische Fähigkeiten waren weder Schande noch das einzige, was einen Priester kennzeichnete. Thamars Nachfahren unterstützten ihn und Inani, gemeinsam arbeiteten sie auf das Ziel hin, die Provinzverwaltungen Enras behutsam von der Macht abzuschneiden, neue Gesetze und gesellschaftliche Normen zu erschaffen, bis ein politisches Gleichgewicht entstand, in dem das Land wachsen konnte und der Friede gesichert war.

Avanya und Eiven gelang es gemeinsam mit dem weißen Vogel, die Erinnerungen aller Völker an das zu wecken, was einst gewesen war. Der Krieg mit den Chyrsk wurde beendet, es kam zu vorsichtigen Annäherungen zwischen Nola und Loy. Da die Kulturen beider Völker sich zu stark voneinander getrennt hatten, blieb es dabei, aber es war ein guter Stand, der erreicht wurde, von dem alle profitierten. Die Flügelpferde, die noch in Enra verblieben waren, zeigten sich wieder offen, den Nola wie den Loy. Avanya und Eiven kehrten beide niemals zu ihren Familien zurück, doch ihre Kinder wurden zu wichtigen Botschaftern. Diese Geschöpfe mit perlmuttweißer Haut und den Flügeln der Loy wurden überall mit Hochachtung empfangen, in Roen Orm genauso wie in den Wäldern der Loy und den Städten in den Tiefen der Erde. Avanya lehrte die Chyrsk, Tunnel und Höhlen zu erbauen, die nicht einstürzen konnten, zeigte außerdem den Menschen von Corbul, wie man Brennsteine abbaute, ohne sich und das Land dabei zu zerstören. Innerhalb weniger Jahrzehnte war aus dem winzigen Städtchen eine wichtige Handelsmetropole gewachsen. Eiven half den Chyrsk, Nahrung anzubauen, und brachte Heilung über jene Wälder, die für Kriegsflotten gerodet worden waren.

 

Inani hatte irgendwann beschlossen, dass sie Mutter werden wollte, und eine Hexengeburt erzwungen. Man verstieß sie dafür vom Thron der Hexen, weil die Dunklen Töchter es nicht hinnehmen wollten, dass mittels Magie ein von Pya gesegnetes Kind geboren wurde. Gekümmert hatte sie das wenig, nach Jahrhunderten im Dienst der Göttin war Inani es längst müde geworden, sich um die Belange der Hexen zu sorgen. Wie groß war die Überraschung für sie und Janiel gewesen, als sie entdeckten, dass sie eine wiedergeborene Seele aufzogen! Ylankas Seele lebte in ihrer Tochter Felara, die Mutter von Corin. Felara wurde später zur Hexenkönigin, und auch sie erzwang eine magische Geburt, wofür man sie allerdings nicht zu verstoßen wagte.

 

Inani blickte auf, als sie Schritte hörte. Loéys war gekommen. Lächelnd setzte sie sich neben Janiel nieder. Sie hatte ihm bereits am Morgen den Todeskuss gegeben, noch bevor sie nach den Hexenschwestern rief. Pya sorgte dafür, dass sein Leichnam erst zu Erde zerfallen würde, wenn auch Inani soweit war. Der weiße Vogel hatte sich zuvor von ihm verabschiedet und angekündigt, dass er Enra verlassen und zum Weltenschöpfer zurückkehren wollte. Seelenvertraute hatten Janiel und sie seit langer Zeit nicht mehr an sich gebunden, damit niemand für sie sterben musste, wenn sie ihre Lebensaufgabe als erfüllt ansahen. Inani hatte im Laufe ihres unglaublich langen Lebens mehrere Kyphras und Leoparden an ihrer Seite gehabt, und niemals hatte sie Marjcheog vergessen können.

 

~*~

 

„Nun ist es also soweit“, sagte Loéys leise. Sie war so stolz, dass sie ihrer Großmutter das letzte Geleit geben durfte, auch, wenn sie sich ein wenig davor fürchtete, dieses gewaltige Leben in sich aufzunehmen. Inani legte ein schweres Buch auf den Tisch. Loéys freute sich – sie hatte gehofft, dass Inani jenen seltenen Zauber wirken würde, der die Erinnerungsflut unmittelbar vor dem Todeskuss auf Pergament bannte.

„Meine Chronik, Loéys. Verwahre sie gut, in ihr sind alle Gedanken und Erinnerungen aufgezeichnet, mein ganzes Leben. Und nicht nur mein eigenes.“

„Ich werde sie hüten.“ Tief bekümmert küsste Loéys Janiels Stirn. Sie hatte ihren Großvater stets verehrt. Diese Welt würde ärmer sein ohne diese beiden!

„Loéys, zwei Dinge noch, bevor ich endlich ruhen will. Zum einen bitte ich dich, vom Ritual abzuweichen.“ Sie stellte ein Körbchen voller gesponnener Haarfäden bereit. „Du wirst in meinen Gedanken finden, was du dazu wissen musst, ich bitte dich, mir diese Hoffnung erfüllen.“

Loéys nickte, es wunderte sie keineswegs, dass Inani nicht auf gewöhnliche Weise von Enra gehen wollte. Diese Hexe hatte niemals etwas auf dem gewohnten, traditionellen Weg begangen.

„Zum zweiten: Wie du weißt, hat deine Seele bereits einmal gelebt.“

„Ja, ich weiß. Ich war Corin, deine beste Freundin in deiner Jugend.“

„So ist es. Wundere dich nicht, wenn du Corin in meiner Erinnerung findest und feststellst, dass du wenig mit ihr gemeinsam hast. Du bist ganz und gar einzigartig.“

Inani ließ sich in die Arme ihrer Enkelin fallen, gemeinsam sprachen sie die heiligen Worte:

„Vergangen ist die Nacht, verronnen ist die Kraft, verdorrt die Seele, verfallen der Leib. Gib den Todeskuss und setze mich frei, Schwester der Dunkelheit. Binde meine Augen, nimm mein Haar. Vollbringe mein Lebenswerk, und ich werde sitzen zu Füßen der Göttin, erwarte dich dort, bis auch du zu uns kommst.“

 

 

 

 

 

 

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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