13.
„In Mandlabar, so sagt man, gibt es einen Tanz, mit dem junge Krieger ihr Geschick und ihren zeigen. Vier Tänzer müssen sich im Takt einer Trommel bewegen, nach genau vorgegebenem Schrittmuster, ihre Hände und Hälse sind dabei mit Stricken aneinandergefesselt. Anfangs ist es leicht, doch die Trommeln schlagen immer schneller und schneller, und wer nur einen einzigen Schritt versäumt oder stürzt, erdrosselt sich selbst. Am Ende des Tanzes, wenn er gelingt, sind alle vier befreit. Schlägt es fehl, ist mindestens einer von ihnen tot. Oft genug überlebt kein einziger.“
Zitat aus „Zwischen den Welten“, Reiseerinnerungen, von Erim Hargalt, Adliger aus Roen Orm
Janiel legte sein Gebetsamulett in das Altarfeuer und konzentrierte sich. Seine Feuermagie war nie stark genug gewesen, um diese Art der Kommunikation pflegen zu können. Doch er nutzte seine langen Nächte mit Inani nicht nur, um die Freuden der Liebe zu feiern. Sie zeigte ihm vielfältige Wege, verschiedene Energiemuster zu vereinen und dadurch Erstaunliches zu erreichen. Er musste nichts weiter tun, als Erde und Luftmagie zu verbinden und konnte so mit geringem Kraftaufwand mit jedem Sonnenpriester sprechen, wenn er nur wollte. Im Moment musste er den Tempel von Lynthis rufen, um Rynwolf zu besänftigen. Janiel lächelte zufrieden, als er die Gedanken von Tempelvorsteher Famros spürte.
„Wer ruft mich?“
„Janiel, Herr, wie auch gestern schon.“
„Ich habe gefunden, was der Erzpriester sucht.“
„Ist sie wirklich geeignet?“
„Ich habe sie noch nicht selbst gesehen, Janiel, doch man berichtete mir, sie sei eine vornehme, sehr gut erzogene, äußerst sittsame und gläubige Frau. Dazu jung und anscheinend ansehnlich genug, um nicht hässlich genannt werden zu müssen. Uralter Adel, ich hätte nie geglaubt, dass es einen Menschen mit solch einem Stammbaum überhaupt geben kann. Wir haben sie in einem fast völlig vergessenen Anwesen in der Stadt gefunden. Der König wird womöglich nicht viel Vergnügen an ihr finden, aber er kann weder ihre Abstammung noch ihren Reichtum übergehen. Seine exotische Gespielin muss dann eben als Mätresse dienen.“
„Vorzüglich. Bringt sie auf das nächste geeignete Schiff und lasst sie herkommen, so gut beschützt wie nur irgendwie möglich. Es wäre eine Tragödie, wenn die künftige Königin von Roen Orm Opfer von Piraten, Stürmen oder unseligen Vorkommnissen würde.“
Janiel lachte in sich hinein, als er Famros’ Unbehagen spürte. Natürlich hasste der Priester es, sich den Wünschen von Roen Orm beugen zu müssen! Es war schließlich Ilats und Rynwolfs Macht, die so viel Tod und Unglück über Lynthis gebracht hatte. Einen Moment lang musste er die grauenhaften Erinnerungen verscheuchen. Lynthis blieb für ihn eine Wunde, die niemals ganz verheilen würde. Famros gehorchte nur, weil der Mann klug genug war zu wissen, wann man sich unterwerfen musste. Besser konnte es gar nicht laufen! Es war schließlich mühsam genug gewesen, die Hinweise auf diese Adelsfamilie so behutsam auszustreuen, dass es überzeugend und schlüssig wirkte. All die gefälschten Dokumente, die benötigt wurden. Inani, Kythara und er hatten gemeinsam falsche Erinnerungen bei unzähligen Menschen erzeugen müssen, um ein zusätzliches Mitglied in eine alteingesessene Adelsfamilie einzuschleusen, eine Nichte, die vorgeblich den größten Teil ihres Lebens in einem Tempel der Großen Mutter verbracht hatte und deshalb unvertraut sein durfte. Eine Erinnerung an ein kleines Mädchen bedeutete dennoch genug harte Arbeit langer Tage und Nächte, die sich nun auszahlte. Janiel unterbrach die Verbindung und nahm seine Tjuva wieder an sich. Das Feuer verbrannte ihn nicht wie sonst, es schien beinahe, als wolle es ihm dienen.
Anscheinend wird auch meine Herrschaft über dieses Element stärker, seit ich die Erdmagie nicht mehr unterdrücke. Interessant! Ich muss mit Ronlad darüber diskutieren.
Wann immer es möglich war, stahl Janiel sich in den Gottesdiensten davon und unterhielt sich mit dem alten Priester in Kashuum über die Verbindung der Tjuven, oder indem er Flammen und Rauch als Mittel nutzte, um die Reise zu bewältigen. Seit Wochen schlief er kaum noch, doch Inanis Magie und seine eigene Kraft stärkten ihn.
Er hörte Rynwolfs fast lautlosen Schritt, zeigte aber nicht, dass er die Nähe des Priesters bemerkt hatte, sondern fuhr gekonnt zusammen, als dessen Hand sich auf seine Schulter legte.
„Herr!“
„Konntest du Lynthis erreichen?“
„Ja, Herr. Eure duldsamen Lektionen tragen endlich Früchte“, sagte Janiel unterwürfig, verneigte sich tief vor Rynwolf, zeigte Demut und Ehrfurcht in seinem niedergeschlagenen Blick, als er sich wieder aufrichtete. „Famros berichtet von einer geeigneten Frau, sie wird so schnell wie möglich nach Roen Orm gebracht werden. Noch etwa zwei Wochen, Herr, dann könnt Ihr Ilat die Stirn bieten.“
„Zwei Wochen sind lang, diese Hexe hat in einem Monat die halbe Stadt für sich eingenommen!“, schrie Rynwolf voller Zorn. „Ich hätte diese Frau vernichten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte!“
„Vergebt mir, Herr, es ist meine Schuld gewesen. Wir hatten sie in unserer Gewalt …“
„Schon gut, Janiel. Ich wollte dich nicht an diese finstere Stunde erinnern, wir haben beide unter dieser Hexe leiden müssen.“ Rynwolf musterte Janiel intensiv. „Du machst nun endlich unglaubliche Fortschritte, viel schneller, als ich es je zu träumen gewagt hätte. In dieser schweren Zeit bist du tatsächlich der einzige Mann, dem ich noch traue.“
Janiel neigte den Kopf, aus Sorge, sich zu verraten. Neuerdings sprach Rynwolf ihm sein Vertrauen aus, lobte ihn vor allen anderen, war freundlich, auf väterliche Weise besorgt. All das hatte Janiel jahrelang ersehnt, alles hätte er dafür gegeben … Und nun, wo er diese Anerkennung nicht mehr brauchte, sie gar nicht haben wollte, bekam er sie im Überfluss. Es schmerzte, zerrte an seinem Gewissen. Rynwolf war kein böser Mensch, wenn er doch nur einsehen könnte, dass er sich in vielen Dingen irrte, dass es bessere Wege gab, Ti zu dienen, Roen Orm zu dienen!
„Du zuckst noch immer vor mir zurück?“ Rynwolf legte beide Hände auf Janiels Schultern und beugte sich vor, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Sehe ich da Zweifel? Angst?“ Janiel wand sich, um zu entkommen, blickte angestrengt zur Seite.
„Ich war stets hart zu dir. Zu hart, das weiß ich heute. Als du Garnith’ Fängen entkommen warst, dachte ich, Härte wäre der beste Weg, klare, strikte Regeln, die dich lehren sollten, ein guter Priester zu sein. Garnith war ein großer, ein brillanter Mann, aber der Wahnsinn seiner letzten Jahre hätte dich beinahe zerstört. Ich sehe mittlerweile ein, dass ich nachgiebiger hätte sein müssen. Geduldiger. Weniger Strafen verhängen, wenn dein fiebriger Verstand mal wieder auf Wanderschaft ging, sondern Nachsicht mit deinen Ängsten und Zweifeln haben.“
Janiel ballte die Fäuste, um die Tränen zu verbergen, die sich ungewollt sammelten. Warum nur? Warum musste Rynwolf ihn quälen? Es war doch längst zu spät für all das!
„Zweifle nicht an dir selbst, Janiel. Du bist noch jung, du kannst alles erreichen, jetzt, wo du dich Ti geöffnet hast! Sieh, was du in so kurzer Zeit lernen konntest! Ich brauche dich an meiner Seite. Die Hexe will mich vernichten, aus Rache, weil ich eine ihrer Schwestern getötet habe. Sie ist bereit, Ilat wie eine Marionette zu benutzen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Gefahr, das ist dir auch klar, Janiel, liegt darin, dass Ilat keine Marionette ist, sondern ein unberechenbarer, launischer Mann, schneller gelangweilt als ein kleines Kind.“
Janiel wartete angespannt, wohin das Gespräch führen würde. Irgendetwas wollte Rynwolf von ihm … Ob seine aufwühlenden, so freundlichen Worte von vorhin wirklich ernst gemeint gewesen waren? Oder sollten sie nur als Mittel zum Zweck dienen, um Janiel für sich zu gewinnen?
„Ilat mag dich, Ti weiß warum. Gewiss bist du ein einnehmender junger Mann, aber eigentlich mag Ilat niemanden, nicht einmal sich selbst. Nutze diesen Vorteil. Geh zum König, es werden sich Vorwände finden. Wenn Ilat gerade nicht sein neuestes Spielzeug begafft, plant er immer noch einen Großkrieg! Geh zu ihm. Biete ihm dein Ohr, sei sein Vertrauter. Finde heraus, was er will, was er braucht, was er fürchtet. Finde seine Schwachpunkte. Es wird nicht reichen, eine adlige Dame zu präsentieren, damit er die Hexe aus seinem Bett tritt, er benötigt Druck, massiven Druck! Du bist bereit für solch ein Wagnis, nicht wahr?“
Janiel nickte stumm und begegnete ganz kurz dem brennenden Blick des Priesters.
„Es ist möglich, dass die Hexe versuchen wird, ihre Klauen an dich zu legen“, presste Rynwolf mühsam beherrscht im Zorn hervor. „Schon einmal hat sie deinen Geist verwirrt, sei gewappnet! Sie weiß, du stehst mir nahe, sie wird die Gelegenheit suchen, über dich an mich heranzukommen.“ Er packte Janiels Kinn, zwang ihn, zu ihm aufzuschauen. „Sie wird dich nicht töten, dafür ist sie zu klug. Aber sie wird gewiss versuchen, dich zu verführen, sei es mit magischen Trugbildern, mit falschen Versprechungen oder mit ihrem Körper. Ich verlange, dass du dich auf ihr Spiel einlässt.“ Rynwolf atmete schwer, sein Blick bohrte sich bis in Janiels Innerstes. „Ich habe dich beobachtet, du bist ein kluger, sehr geschickter Mann. Lass die Hexe glauben, sie könnte dich umdrehen! Gib dich ihr hin, wenn du sie damit ablenken oder von ihren Plänen erfahren kannst. Horche sie aus! Ich weiß, du wirst ihr standhalten, dein Glaube an Ti ist unerschütterlich.“
„Herr!“ Janiel versuchte, sich aus dem Griff des Erzpriesters zu befreien, der ihm beinahe den Kiefer brach.
„Fürchte dich nicht. Egal, was Garnith dir einreden wollte, Leidenschaft und körperliche Liebe sind keine Sünde, nur Maßlosigkeit. Ti wird dich nicht verstoßen, selbst wenn du das Zusammensein mit der Hexe genießen solltest. Lass dich davon nicht verwirren, es sind lediglich normale Bedürfnisse deines Leibes. Du wirst kaum einen älteren Geweihten finden, der unentwegt keusch lebt. Es wäre auch ein Fehler, da diese Bedürfnisse, werden sie unterdrückt, den Geist von wichtigeren Dingen ablenkt.
Richtig angewendet, kann Leidenschaft eine Waffe gegen die Hexe sein. Sie ist maßlos, völlig verdorben, und darum kannst du sie besiegen.“
Er gab Janiel frei, der keuchend in die Knie ging. „Bring dieses Opfer, Janiel. Nicht nur für mich, auch für dich selbst, für deine Brüder, für ganz Roen Orm. Es wird helfen, die Hexe zu bezwingen.“
„Ja, Herr“, wisperte Janiel und ließ sich aufhelfen. „Ich werde tun, was Ihr wünscht. Ilats Vertrauen erschleichen und mich der Hexe hingeben, sollte sie danach verlangen. Vielleicht kann ich über sie noch mehr Schwachpunkte des Königs finden.“
Er fuhr zusammen, als Rynwolf ihn in eine Umarmung zog, die seine kaum verheilten Rippen zu zermalmen drohte. „Ich wusste, du wirst all meine Erwartungen übertreffen!“, flüsterte der Erzpriester. „Nun geh. Bereite dich vor, damit du so schnell wie möglich in den Palast kannst!“
Rynwolf blickte dem jungen Geweihten nach, der beinahe im Laufschritt zur Treppe eilte.
Ob ich zu viel verlange? Bin ich zu weit gegangen? Janiel fürchtet die Hexe, möglicherweise ist er noch nicht stark genug … Aber er muss sich ihr stellen, sonst wird er nie zu Selbstvertrauen finden. Hoffentlich ist es nicht zu viel! Ich stoße ihn in die Arme dieser Schlange, die ihn gezeichnet hat, wenn er nun an mir zweifelt? Mich dafür hasst, dass ich ihm das antue? Wenn ich nur wüsste, was der Junge plant, er hintergeht mich immer noch, ich spüre es.
Rynwolf seufzte tief. Es wurde Zeit, dass er sich einen weiteren Verbündeten zulegte, und dafür kam nur ein einziger Mann in Frage.