31.

 

„In Kaleno, der Weihestätte der Elfen, befindet sich der Platz der Mitte. Hier wächst einmal in dreihundert Jahren eine Avendemyl, eine magische Blume. Ihr Duft verleiht jedem, der ihn einatmet, für eine Nacht die Gabe der Sicht. Eine Gabe, die Unglück über jene bringt, die nicht bereit für eine solche Macht sind. Ein kostbares Geschenk für die Weisen, die ein Leben lang auf diesen Augenblick vorbereitet wurden.“

Fragment einer fast zerstörten Steintafel, gefunden in Merpyn

 

Während sie sich durch fast wegelose Sümpfe kämpften, wuchs Peras Sorge um ihre junge Gefährtin stetig an. Chelsa sprach kaum und verweigerte nahezu jegliche Nahrung. Sie reagierte nur, wenn Ledreas Name fiel, immer wieder fragte sie nach der Elfe. Sie rätselten alle drei, was aus ihr geworden sein mochte, was Osmege ihr angetan hatte, was der Fluch bewirken sollte.

Voller Angst wanderten sie weiter, zwei volle Tage kämpften sie sich durch Schlamm und Morast. Sie kamen nur sehr langsam vorwärts, mussten oft lange Umwege auf sich nehmen, wenn sie von allen Seiten von tückischen Gewässern umschlossen wurden, die so harmlos aussahen, aber voller Schlingpflanzen waren.

Manchmal, wenn Chelsa glaubte, ihre Gefährten schliefen, versuchte sie, auf Felsbrocken, Baumstämmen oder anderen Erhöhungen zu tanzen; fast jedes Mal endete es mit einem Sturz.

Wann immer Pera mit Jordre über Wege zu Osmege, vorbei an seinen Wächtern und tastendem magischen Sinn sprachen, schnaubte Chelsa verächtlich. Waren sie beide freundlich zu ihr, schlug sie aggressiv um sich. Beachtete man sie nicht weiter, weinte sie, reagierte man ungeduldig, duckte sie sich verängstigt. Die Stimmung litt unter Chelsas Launen, doch sie konnte offenbar nicht aus sich heraus. Pera wusste, es war die Vorstellung, dass andere ihr Leben opfern sollten, um sie zum gefährlichsten Ort der Welt zu führen, nur, damit sie auf dem Siegelstein vollkommen versagte und ganz Anevy zum Untergang verdammte, die Chelsa innerlich auffraß. Pera wünschte so sehr, sie könnten ihr helfen, aber es gab keine Möglichkeit.

 

Irgendwann war ihr Glück beendet, das sie über so lange Zeit vor allen Fallen Osmeges und Widrigkeiten der Natur bewahrt hatte.

„Chelsa!“ Jordre sah das Unheil kommen und brüllte so laut, dass das Mädchen erschrocken zusammenfuhr. Sie blickte zu Boden, völlig verwirrt davon, dass der sich plötzlich zu bewegen schien, weich und nachgiebig war statt wie gewohnt fest. Das hier war gar kein Morast, was war nur los?

„Nicht bewegen!“ Jordre kam auf sie zu und griff nach ihrer Hand. „Komm jetzt. Das ist Treibsand, versuch die Füße rauszuziehen. Wenn du deine Schuhe verlieren solltest, ist das nicht schlimm.“ Verängstigt klammerte sie sich an ihn und Pera, froh, dass sie in Reichweite ihrer Gefährten war. Von Treibsand hatte sie noch nie etwas gehört oder gesehen, aber an Jordres Gesicht sah sie, wie gefährlich das sein musste. Der rechte Fuß löste sich schmatzend aus der zähen Masse. Jordre riss mit aller Kraft an Chelsas Arm. Fast hatte sie ihr linkes Bein befreit, da grollte es plötzlich in der Tiefe. Der Boden bäumte sich auf, Schlammfontänen spritzten in die Luft. Chelsa stürzte nach vorne und schrie um ihr Leben. Etwas umklammerte ihr Bein, zog sie unerbittlich zurück. Sie hielt sich an Jordre fest, doch er konnte sie nicht halten. Ein Blick über die Schulter zeigte, dass der Treibsand verschwunden war. Unter ihr gähnte ein tiefer Abgrund, und eine Hand, geformt aus Lehm, zerrte an ihr.

„Du bist mein, Steintänzerin, glaub nicht, du könntest mir entkommen!“, grollte eine Stimme, die nur zu Osmege gehören konnte.

Chelsa kreischte schrill, trat gegen die Schlammfinger. Vergebens, sie wusste es.

„IMSHAHAT!“, brüllte Jordre, ein Wort, das für Chelsa sinnlos war. Sie sah Metall blitzen, und plötzlich war sie frei, während ein unirdischer Schrei voller Wut und Schmerz die Luft erzittern ließ.

„Runter!“ Pera rettete sie gerade noch vor der wild umher tastenden Lehmhand. Wieder bäumte die Erde sich auf, sie stürzten alle drei. Chelsa sah, wie Jordre in die Fänge der magisch belebten Hand geriet, sich nicht befreien konnte, obwohl er mit seiner langen Metallwaffe auf sie einschlug. Sie versuchte ihn zu packen, Pera krallte sich in seine Schultern, doch Jordre wurde unerbittlich über den Rand in die Tiefe gezogen. Mit einem Blick, der Wut, Todesangst und Bedauern in sich vereinte, holte Pera unvermittelt aus und trat gegen Chelsas Brust. Sie fiel zurück, verlor dabei den Halt um Jordres Arme. Pera taumelte, kämpfte um ihr Gleichgewicht und stürzte mit einem Schrei in die Tiefe. Hilflos musste Chelsa mit ansehen, wie ihre einzigen Freunde in dieser trostlosen, zerstörten Welt im Abgrund verschwanden.

Einen Moment lang zögerte sie. Dort unten wartete Osmege. Der Tod. Was gab es schon zu verlieren? Ohne Pera und Jordre würde sie keine Stunde in Anevys Wildnis überleben.

Stumm vor Angst kroch Chelsa an den Rand des schwarzen Nichts, schloss die Augen und ließ sich einfach fallen.

 

~*~

 

Pera stöhnte, als ein schwerer Körper auf sie niederstürzte. Chelsa vermutlich, denn die Last auf ihrem Rücken bewegte sich, Jordre wusste sie aber an ihrer Seite. Die Lehmhand war verschwunden, hatte ihn fortgeworfen, sobald Osmege bewusst wurde, dass er nicht die Steintänzerin hielt.

Wir werden sterben … es gibt keinen Weg hinaus …

Erstaunt erkannte sie, wie gleichgültig ihr das war.

„Pera, was ist mit dir? Wach auf! Jordre, warum antwortet sie nicht?“, hörte sie Chelsa schluchzend rufen. Gerne hätte Pera die Augen geöffnet und den beiden gesagt, dass alles in Ordnung war. Sie hatte keine Schmerzen, also konnte nichts gebrochen sein, oder? Wenn sie nur nicht so müde wäre!

„Lass mich nicht allein, Liebste, Pera, bitte, halt durch, ich finde einen Weg!“

Sie sollte den beiden befehlen, sich nicht länger um sie zu bemühen. Es war längst alles vorbei. Jede Hoffnung auf Flucht war vergebens, Osmege würde sie zermalmen. Pera holte tief Luft, gewillt, sich endlich zusammenzureißen. Doch in diesem Moment sandte ihr zerschmetterter Körper all die Schmerzen, die sie bis jetzt nicht wahrgenommen hatte. Pera wollte schreien, aber sie konnte nicht, konnte nicht einmal mehr atmen. Da war nichts mehr, nur Schmerz. Und Dunkelheit.

 

 

 

Jordre wiegte seine sterbende Geliebte in den Armen.

Er wusste nicht, woher er die Kraft nahm, sie noch halten zu können. Er müsste mit Chelsa fliehen, die Lehmhand suchte unablässig nach ihnen. Angstvoll fühlte er nach Peras Herz, flehte darum, dass es nicht aufhören würde zu schlagen. Ein Schrei hallte in seinen Ohren, war es sein eigener? Er war sicherlich wütend und verzweifelt genug, um so schreien zu können. Wahrscheinlich war es Osmege, der genau wusste, seine Feinde waren hier irgendwo. Osmege, der sie nicht finden konnte, solange er sie nicht berührte. Chyviles Macht beschützte sie immer noch. War das nicht ein Beweis dafür, dass seine Mutter noch lebte? Chelsa weinte neben ihm, nicht weniger verzweifelt als er selbst. Bilder rauschten durch seinen Sinn, Bilder, die er nicht verstand oder wiedererkannte, Erinnerungen, die ihm nicht gehörten und doch vertraut schienen. Ein neuer Schrei, voller Qual und Angst; welche verlorene Seele konnte so schreien? Worte brachen an die Oberfläche seines Bewusstseins, Worte einer Sprache, die er nicht verstand, Worte, die von einer leidenschaftlichen Stimme gerufen wurden, und sie klangen wie ein Schwur. Jordre schrie sie heraus, unfähig, sich zurückzuhalten: „Vamren yova, Osmege!“

„Du bekommst mich nicht, Osmege“, wisperte Jordre noch einmal.

Chelsa fiel ihm um den Hals, umklammerte ihn und Pera, und gemeinsam begann er mit ihr zu singen, ohne zu verstehen, was sie da taten:

„Eigoson siple, casal wotchin nu!Eigosonsiple, casal wotchin nu!”

Ein monotoner Vers, der sich immer wiederholte, scheinbar sinnlos, dennoch konnten sie nicht aufhören. Jordre spürte, dass Magie entfesselt wurde, uralte Magie. Die Felswände warfen das Echo zurück, bis es klang, als würden ganze Heerscharen die seltsamen Worte singen. Um sie herum begannen zu glühen, das Licht enthüllte ein Tunnelsystem, Ruinen, die einst von kundiger Hand bearbeitete Bauwerke gewesen sein mussten.

„Kaleno!“ Chelsa seufzte tief ergriffen. Jordre nickte langsam. Kaleno, die alte Weihestätte der Elfen. Hier hatten einst Türme in den Himmel geragt, von denen aus der Lauf der Gestirne beobachtet worden war. Er erinnerte sich, wie er hoch oben gestanden und auf Elys gewartet hatte … In einem anderen Leben.

Osmeges Lehmhand hörte auf, blind nach ihnen zu tasten, und zerfiel. Unzählige Geschöpfe, ein jedes nur so groß wie ein Daumen, rannten über Wände und Boden. Jordre wusste, sobald einer der Wichte sie berührte, würde Osmege erfahren, wo sie sich befanden, und dann nutzte auch die Famár-Magie nichts mehr.

„Winen adrera!“, fauchte Chelsa. Jordre verstand die Worte wie auch den vernichtenden Willen dahinter: Flammen schossen aus den sonst so sanften Augen des Mädchens, die Schlammgeschöpfe erstarrten, nicht zerstört, sondern zu Tonstatuen gebrannt. Kaleno verstärkte die Magie, an diesem Ort trafen Kraftströme zusammen.

Jordre erinnerte sich … Entschlossen hob er Pera hoch, trug sie durch die Tunnel, suchte gemeinsam mit Chelsa in den Ruinen nach dem Platz der Mitte. Hier wuchs nicht nur die legendäre Avendemyl heran, es gab uralte Magie, die sie nutzen konnten. Chelsa erinnerte sich offenbar nicht bewusst wie er, sondern starrte voller Staunen um sich. Für ihn hingegen schien es, als wären sie tatsächlich erst gestern Hand in Hand durch Kaleno spaziert.

Osmege wütete, aber er konnte Kaleno nicht noch weiter zerstören, als es ihm bis jetzt gelungen war, nicht einmal die Tunnel und Höhlen einstürzen lassen, in denen die Ruinen geborgen waren. Der Dunkle Orn konnte sie nicht berühren.

„Dort!“ Jordre kletterte über die Trümmer einer Säule. Ihnen wurde die Luft knapp, er erkannte, dass Osmege den Abgrund, in den sie gestürzt waren, wieder mit Treibsand gefüllt hatte und auf irgendeine Weise die Luft fortsaugte. Die Magie dieses verlorenen Ortes schützte sie vor den schlammigen Massen, doch Luft wurde nicht herbeigeschafft. Behutsam legte er Peras stillen Körper zu Boden.

„Halte durch, Liebste“, flehte er und suchte nach der Sternenrune, die einst auf einer hölzernen Stele angebracht gewesen war und nun ihre einzige Hoffnung darstellte.

Schließlich fand er das goldene Artefakt, halb verborgen unter zerschmetterten Marmorplatten, kniete neben Pera nieder, ergriff Chelsas Hand und rief: „Arpen!“

 

Blaues Licht wirbelte auf und hüllte sie vollständig ein. Dann waren sie fort, und zurück blieben nur die stummen Zeugen einer einst großen Kultur.

Dort, wo Chelsa gekniet hatte, entfaltete sich ein niedriges, dorniges Gewächs, halb vertrocknet und ohne Blätter.

 

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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