30.
„Ich gestehe, ich bin unverbesserlich. Ich glaube nicht, dass ein schreckliches Ende falsch sein muss, im Gegenteil: Ein neuer Anfang ist umso hoffnungsvoller, je mehr über das Ende dessen, was vergangen ist, getrauert werden muss. Je größer die Trauer, desto größer die Bereitschaft, umwälzende Neuerungen zu ertragen.“
Aus den Notizen von Shila von Erten, zu einem unvollendeten Drama, Titel unbekannt
„Ruhe in Tis Armen, mein Bruder. Möge der feurige Herrscher des Lichts dir gnädig sein und dir den Frieden schenken, den du im Leben nie besitzen durftest“, flüsterte Thamar. Alles in ihm weigerte sich, diesen Mord zu begehen, seinen eigenen Bruder hinzurichten, doch es gab keinen anderen Weg und er wusste es. In Ilats Blick las er Sehnsucht, tiefe, verzweifelte Sehnsucht – wonach? Thamars Schwert stieß vor, bereit, Ilats Herz zu zerstören. Im gleichen Moment aber, als sich die Klinge in den Körper seines geliebten, verhassten Feindes bohrte, umfassten zwei weitere Hände das Heft und trieben das Schwert mit noch mehr Kraft voran.
Ilat bäumte sich auf, zuckte einige schmerzerfüllte Momente lang, dann fiel er sterbend zurück.
„Maondny?“ Verständnislos sah Thamar von den schmalen Händen seiner Liebsten über seine Schulter hoch zu ihrem Gesicht. Er hörte die Rufe der unzähligen Menschen um ihn herum, die sich vor der Elfe fürchteten, und den Tod des Königs herausschrien. Nichts davon schien etwas mit ihm zu tun zu haben.
„Vergib mir, Thamar. Ich wusste, dass es dich vernichten würde, Ilat auf diese Weise zu töten. Genauso hätte es dich vernichtet wenn jemand anderes diese Tat auf sich genommen hätte. Mir blieb keine andere Wahl, um dir beizustehen, Liebster, als die Klinge mit dir gemeinsam zu führen. Es war deine Entscheidung, du hast deinen Bruder gerichtet. Aber es war auch meine Hand, die das Schwert stieß. Ich trage die Schuld mit dir“, wisperte sie, während Tränen aus ihren hellblauen Augen strömten. „Bitte hasse mich nicht dafür.“
Er ließ die Waffe los und sank neben dem Toten nieder.
„Ich könnte dich nicht hassen, Maondny, niemals und unter keinen Umständen. Du bist mein Licht, mein Leben, und alles, für das ich jemals kämpfen wollte.“ Mit einem Ruck riss er sich einen langen Stoffstreifen von seinem Ärmel herab und verband damit Ilats starre Augen.
„Fliege mit Geshar, mein Bruder, er wird dich zu den Göttern bringen.“
Als er aufstand, fielen alle Männer auf die Knie, selbst jene, die so schwer verletzt waren, dass sie sich kaum bei Bewusstsein halten konnten.
„Der König ist tot, es lebe der König! Heil dir, Thamar von Roen Orm!“, schallte es aus unzähligen Kehlen.
Hilflos ließ Thamar sich preisen, überfordert von dem, was hier geschah. Nie hatte er über den Moment hinausgedacht, in dem er Ilats Leben beendete. König zu werden war eine ferne, unbegreifbare Vorstellung gewesen, etwas, über das er hatte nachsinnen wollen, wenn die rechte Zeit gekommen wäre. Nun war sie einfach da und er wusste nicht, was er zu tun hatte.
„Sprich mir nach, Liebster, du musst zu ihnen reden. In kommenden Tagen wirst du in diese Aufgabe hineinwachsen, aber vertraue mir jetzt!“
Thamar lauschte ihren Worten und wiederholte sie laut, führte sie allerdings zusätzlich mit seinen eigenen Gedanken fort, sobald er sich gesammelt hatte. Er lächelte, als er Inanis Magie spürte, die seine Rede über das gesamte Schlachtfeld bis nach Roen Orm hineintrug:
„Soldaten und Bürger von Roen Orm, Waffenbrüder, die ihr mir ins Exil und zurück gefolgt seid, ihr Töchter der Pya und Söhne des Lichts: Dies ist die schwerste Stunde meines Lebens. Ein furchtbares, grausames Gesetz war es, das aus Brüdern Todfeinde machte. Die Folgen dieses Gesetzes haben die Seele meines Bruders zerbrochen und aus ihm einen König gemacht, den ihr fürchten musstet, der niemanden liebte, am wenigsten sich selbst. Dieses Gesetz war es, das ihn dazu brachte, mich bis an den Rand des Todes zu foltern. Dieses Gesetz zwang meine Hand, ihn umzubringen. Beim Blut meines Bruders schwöre ich, und ihr alle seid meine Zeugen: Ich werde dieses Gesetz auslöschen, damit niemals wieder aus Mord ein Spiel werden kann, das vom Königshaus gefordert statt verdammt wird!“
Einen fiebrigen Herzschlag lang herrschte Schweigen, dann brüllten tausende Stimmen gleichzeitig ihre Zustimmung.
Thamar ließ sie rufen, lauschte auf etwas, das Inani ihm einflüsterte. Endlich hob er den Arm, und erwartungsvolle Ruhe kehrte ein.
„Dies ist ein Tag der Trauer. Roen Orm hat seinen König verloren, und seinen Erzpriester dazu.“
Entsetzte Schreie wurden laut, nicht nur aus den Reihen der von den Hexen bewachten Sonnenpriester. „Rynwolfs Tod wird euch erklärt werden, doch nicht jetzt und nicht hier. Er wurde nicht umgebracht, noch war es ein Unfall. Er hat den Tod aus freiem Willen gesucht.
Die Hexen, die in diesen Kampf zwischen Tempel und Krone und zweier Königssöhne eingegriffen haben, sind nicht Roen Orms Feinde. Es war nicht ihr Wunsch, Tod über die Söhne des Lichts zu bringen. Ich will nicht schon heute von möglicher Versöhnung zwischen den Erwählten der göttlichen Geschwister reden, darum nur das eine: Die Töchter der Dunkelheit sind keine Mörderinnen. Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere Mensch auf dieser Welt.“
Die Soldaten nahmen dies still hin, doch zumindest spürte Thamar, dass sie ihm glauben wollten. Ihre Blicke waren ängstlich oder misstrauisch, aber nicht ablehnend. Die Söldner, die jahrelange Erfahrung mit den Hexen hatten, nickten hingegen zustimmend und riefen ihm aufmunternde Worte zu.
„Das Wichtigste habe ich für den Schluss aufgehoben“, fuhr Thamar fort, und erntete sofort wieder volle Aufmerksamkeit. „Es ist kein Zufall, dass eine Elfe an meiner Seite steht. Bürger von Roen Orm, ich weiß, ich verlange viel. Mir ist bewusst, wie viel Blut und Schmerz zwischen uns und diesem fremdartigen Volk steht. Auch ich habe einst gegen Elfen gekämpft. Ich habe allerdings in den langen Jahren meines Exils erfahren, welchen Grund dieser Krieg hatte. Es werden niemals Elfen in eurer Mitte leben, sie wollen nichts stehlen, niemanden töten oder vertreiben. Das einzige, was die Elfen wünschen und jemals gewünscht haben, ist freier Zugang zu einem Ort innerhalb des Tempels, den außer ihnen nur der jeweilige Erzpriester und einige wenige Auserwählte kennen. Ich bitte euch darum, lasst die Elfen ein Mal, und nur ein einziges Mal, durch die Tore der ewigen Stadt schreiten. Als der König, der ich euch bald sein werde verspreche ich, sie werden niemandem Schaden zufügen.“
Maondny trat an seine Seite und sprach: „Ihr Menschen, ich bin P’Maondny, die Tochter des Elfenkönigs. In seinem Namen bitte ich um Vergebung für all das, was die Vergangenheit geschehen ließ. Er wird bald hier sein und selbst das Wort erheben. Thamar, euer zukünftiger Herrscher, gab ihm das Versprechen, die Geschichte dieses Krieges zu klären. Er wird eine Mahntafel errichten, in der alle Irrtümer beider Seiten offenbart werden, und den Opfern gedacht wird. Eine neue Zeit beginnt für Enra. Möge es eine Zeit des Gleichgewichts sein.“
Sie ergriff Thamars Hand, und gemeinsam schritten sie zwischen der sich teilenden Menschenmenge hindurch.
„Inani, Janiel: Kommt gemeinsam mit Cero, Avanya und Eiven zum Tor. Weist die Hexen an, die Priester freizulassen, sie dürfen nach uns in die Stadt.“ Maondnys Befehl war untypisch knapp.
Niemand hinterfragte, was sie genau vorhatte. Maondny marschierte entschlossen zu der Klippe, von der Rynwolf gesprungen war und nahm den kostbaren Zweig an sich.
„Und nun zum Tempel. Der Weltenstrudel erwartet mich, ich muss die neue Verbindung nach Anevy erschaffen. Ohne die Herrscher der Elemente an meiner Seite aber werde ich dazu nicht in der Lage sein.“