32.

 

„Pya und Ti spielten gemeinsam, und ihr Lied durchzog die Schöpfung und alles Sein. Noch heute erinnert sich jedes Lebewesen an diese Klänge, wenn auch nur sehr wenige fähig sind, diese Musik in ihrer Seele zu finden. Sollten die göttlichen Geschwister dereinst ihre Instrumente zurückerlangen, werden sie ein neues Lied spielen, die alte Schöpfung vergeht, muss dann der nächsten weichen …“

Übersetzung eines nagaurischen Dokuments

 

Als Chelsa wagte, die Augen zu öffnen, fand sie sich in einer Steinwüste wieder. Um sie herum war nichts als schroffe Berge, Felsen, vertrocknete Erde. Pera lag auf einem flachen Plateau aus weißem Gestein. Jordre kniete über ihr und rief weinend ihren Namen.

Sie ist tot, dachte Chelsa. Der Gedanke fühlte sich seltsam an, so fern, als hätte er gar nichts mit ihr zu tun. Sie schlang die Arme um ihren Bauch, wie sie es oft tat und suchte Halt an sich selbst. Alles war so unwirklich, sie konnte nicht denken, nichts empfinden. Pera war freundlich zu ihr gewesen, es war falsch, dass sie jetzt so still dort liegen sollte. Oder vielleicht nicht? Hatte man nicht gesagt, dass Jordre eigentlich für sie, Chelsa, bestimmt war? Sie kauerte sich zu Boden und beobachtete den verzweifelten Mann.

Ich bin zu jung für ihn. Aber er ist nicht zu alt für mich. Ob er mich hübsch findet?

Chelsa dachte über ihre eigenen Gedanken nach. Es war nicht richtig, nichts davon. Pera sollte leben, und Jordre – den wollte sie gar nicht haben. Sie näherte sich zögernd dem Plateau und betrachtete die junge Frau. Pera lebte noch, ihre ruckartigen Atemzüge bewiesen es. Doch sie war bewusstlos, und Blut rann aus ihren Mundwinkeln.

„Kannst du sie nicht heilen?“, fragte sie Jordre. Hatte er nicht aus dem Nichts eine Waffe herbeigezaubert? Hatte er nicht gewusst, wie Kalenos Geheimnisse zu nutzen waren? Sicherlich erinnerte er sich mittlerweile vollständig an sein früheres Leben!

Chelsa dachte daran, wie sie vorhin in dem Erdloch seltsame Worte gerufen und die Lehmwichte mit Feuer beworfen

hatte.

Wenn ich nur wüsste, wie ich das gemacht habe, es hat sich gut angefühlt!

„Ich kann nicht, Chelsa. Ich weiß nicht wie“, murmelte Jordre niedergeschlagen. „Die Erinnerungen kommen und gehen. In Kaleno waren sie deutlich, jetzt sind sie wieder fort. Manchmal scheint alles so klar und einfach, und dann ist da nur Dunkelheit … Ich kann es nicht.“

Chelsa wandte sich ab, konnte weder Peras Anblick noch Jordres Verzweiflung ertragen. Sie wanderte ruhelos zwischen den Steinen umher und lehnte sich schließlich erschöpft gegen eine Felswand. All die Unebenheiten, Risse und Vorsprünge schienen Formen zu bilden, ihr überreizter Verstand fand Ruhe in diesen Mustern. Das da könnte ein Baum sein, dort drüben erkannte sie einen Fisch, und diese Linien da … Es sah fast so aus … Entsetzt fuhr sie zurück: Da war ein perfektes Abbild eines Gesichts!

Ein männliches Gesicht, entschied sie nach dem ersten Schreck und trat neugierig wieder nahe heran. Ein Elf, kein Orn. Wie schön er war! Atemlos fuhr sie die Linien mit dem Finger nach, da waren die Augen, die Nase, das Kinn. Das war nicht nur ein Gesicht, entdeckte sie, hier war der Hals, der Körper, die Hände, wie zur Abwehr erhoben. Welcher Künstler hatte ein solch vollkommenes Bildnis in dieser Einöde erschaffen? Oder hatte es hier einmal eine Stadt gegeben, ähnlich wie Merpyn? Wo genau befanden sie sich eigentlich?

Das war einmal ein lebender Elf.

Chelsa wusste nicht, woher dieser Gedanke kam, nickte aber langsam. Ja, dies konnte nicht von sterblicher Hand geschaffen worden sein. Mitleidig strich sie über das Steingesicht, es blickte sie so voller Schmerz an. Er musste auf schreckliche Weise gestorben sein!

Hoffentlich wurdest du bereits in eine glücklichere Welt wiedergeboren.

Gerade wollte sie sich abwenden, da hörte sie etwas.

„Geh nicht weg! Geh nicht! Ich bin hier!“

„Jordre?“ Unsicher schaute Chelsa über die Schulter, doch Jordre kniete weiterhin bei Pera auf dem Plateau, ohne auf sie zu achten.

„Sprichst du mit mir?“, dachte sie und berührte widerstrebend das steinerne Abbild.

„Hilf mir, Elys“, flehte die Stimme in ihrem Inneren. Chelsa fuhr zusammen, als jäher Zorn sie befiel.

„Ich bin Chelsa. Elys ist tot!“

„Namen … Sie sind unwichtiger Schmuck. Du bist Elys. Wie sonst könntest du die Sprache der Elfen verstehen, kleine Orn?“

„Warum weiß jeder, was ich bin und wer ich bin und was ich tun soll, nur ich selbst nicht?“, dachte sie verbittert.

„Geh nicht!“, rief die Stimme hastig, als Chelsa zurückweichen wollte. „Lass deine Hände auf mir. Es lindert den Schmerz.“

„Wer bist du? Und was ist mit dir geschehen?“

„Mein Name ist Tylen. Osmege überwältigte mich, als ich mit Taón, meinem König, fliehen wollte. Er hat mich mit dieser Felswand verschmolzen. Ich kann nicht sterben …“

Die Qual in Tylens Stimme war so stark, dass Chelsa unwillkürlich zu weinen begann. Unvorstellbar, wie er das über all die Jahre ertragen konnte, ohne den Verstand zu verlieren.

„Wie kann ich dir helfen?“, wisperte sie und strich mit beiden Händen über sein Gesicht. „Ich erinnere mich nicht, Tylen. Jordre weiß mehr als ich, doch auch er erinnert sich nicht an alles. Er kann nicht mal Pera retten, obwohl er es wirklich will.“

„Elys“, wimmerte Tylen. Einen Augenblick lang schien er ihr zu entgleiten, überwältigt von unendlichem Schmerz, den sie spürte, als wäre es ihr eigener. „Elys, es ist gleichgültig, du musst dich nicht erinnern. Du bist, was du bist. Die Magie ist in dir, die Macht, die Welt zu verändern.“

„Du meinst, wie das Lied, das ich immer nachts in meinen Träumen höre?“

„Das Lied der Götter … Ja, mehr brauchst du nicht …“

„Aber ich finde es nur in meinen Träumen.“

„Hör mir zu, Elys. Ich habe es gefunden, es hat mich ausharren lassen. Sing es für mich.“

Chelsa presste sich so dicht an das Steinrelief, als wollte sie selbst mit dem Felsen verschmelzen, balancierte auf den Zehenspitzen, um ihre Stirn gegen die steinernen Wangen des Elf legen zu können. Sie öffnete sich ihm, überrascht, dass so etwas möglich war und schrie auf, als sie die fernen Klänge in sich spürte, die sie so gut kannte; die Musik, die tief in ihrer Seele schlief. Schluchzend vor Glück löste sie sich von Tylen, nach Luft ringend und zutiefst erschüttert. Jetzt erst bemerkte sie Jordre, der hinter ihr stand und voller Sorge auf sie einsprach. Sie verstand kein einziges Wort, was unwichtig war – sie wusste, was er fürchtete.

„Hör doch!“, flüsterte sie, lachte und weinte zugleich und begann zu singen. Ihre Stimme, zuerst leise und kindlich, gewann rasch an Macht und erfüllte die Leere dieser zerstörten, verlorenen Welt. Osmege brüllte vor Angst, laut genug, dass der Widerhall zu hören war. Chelsa wusste, diese Melodie folterte seinen zerrissenen Verstand. Tylen weinte hingegen in Chelsas Bewusstsein, ein Teil von ihr weinte mit ihm. Und während sie sang, wallte Nebel auf, der dichte, undurchdringliche Schleier über das verwüstete Land legte. Jemand kam zu ihr. Chelsa lächelte, während sie sang. Sie wusste nicht, wer dort aus anderen Welten zu ihnen kam, aber die Melodie in ihr flüsterte, dass sie sich nicht zu fürchten brauchte.

 

 

 

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
titlepage.xhtml
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_000.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_001.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_002.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_003.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_004.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_005.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_006.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_007.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_008.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_009.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_010.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_011.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_012.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_013.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_014.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_015.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_016.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_017.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_018.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_019.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_020.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_021.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_022.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_023.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_024.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_025.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_026.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_027.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_028.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_029.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_030.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_031.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_032.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_033.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_034.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_035.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_036.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_037.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_038.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_039.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_040.html
CR!BCE1YJK8DS5CZ0NBX5BS12XE42JB_split_041.html