18.
„Wenn es einen Weg gibt, werde ich ihn finden. Manchmal aber führen zu viele Wege zum rechten Ort, und manchmal gibt es weder Steg noch Pfad noch Ziel.“
Zitat von Corin, Tochter der Ylanka
„Mitkommen!“ Corin riss Inani aus ihrer Erstarrung. Plötzlich stand die Freundin neben ihr und zerrte sie mit überraschender Kraft fort von den stillen Körpern.
„Nein, Janiel, ich muss … Janiel …“ Weinend ließ Inani sich mitnehmen.
„Sie brauchen deine Führung, irgendjemand muss ihnen sagen, dass sie gehen sollen“, flehte Corin. „Du hast sie gerufen, vergiss das nicht. Schick sie fort, bevor sie zu viele Priester töten und das Gleichgewicht stören!“
Langsam kam wieder Leben in Inani, sie starrte tränenblind auf das entfesselte Chaos: Hexen und Priester, die einander verfolgten, bekämpften, manche offen mit Schwert und Stab, andere mit Magie. Alle Arten von Seelenvertrauten wimmelten durch den königlichen Schlosspark: Katzen, Schlangen und Vögel jeder Größe und Rasse sprangen und flogen über die Mauern. Auch von der anderen Seite dieser Mauern drangen Schreie und Kampflärm. Roen Orm war ein Schlachtfeld geworden. Adlige Damen und Bedienstete kauerten hilflos hinter halb verkohlten Bäumen und Sträuchern und konnten nur beten, dass keine Feuerkugel sie traf. All dieser Wahnsinn bekümmerte Inani nicht mehr, aber sie wusste, was ihre Pflicht war. Kythara war tot, irgendjemand musste die Hexen fortbringen.
„TÖCHTER DER PYA, HÖRT MEINEN RUF!“, schrie sie innerlich, ohne sie zu kümmern, wer sie alles noch hören konnte.
„VERLASST ROEN ORM! VERLASST DIESE STADT! ES IST NICHT AN UNS, SIE ZU BESITZEN, LASST AB VOM KAMPF!“
Sie duckte sich nur nachlässig, kümmerte sich nicht um die magischen Angriffe der Priester, die sich jetzt wieder auf sie konzentrierte.
„Finde einen Weg“, befahl sie Corin. Es überraschte sie beide, als der Nebel sich widerstandslos öffnete.
Warum blockierten die Priester sie nicht? Waren sie zu sehr geschwächt?
„BLEIBT ZURÜCK, SCHWESTERN! ICH LAUFE VORAUS, DIE PRIESTER WERDEN MIR FOLGEN. DANACH SUCHT EUCH EIGENE WEGE!“, rief sie, als sie sah, dass mehrere Hexen auf den Nebel zuliefen. Diesmal hatte sie darauf geachtet, nur zu den Hexen zu sprechen. Sie drängte Corin voran, beobachtete innerlich unbeteiligt, wie eine ganze Reihe von Priestern ihnen folgte.
„Halte den Pfad ein bisschen aufrecht, dann kommen sie uns nach, und die anderen können fliehen.“
„Ich suche einen Ort, wo wir sicher sind und Hilfe finden können.“ Corin ergriff ihre Hand und zerrte sie mit sich, in die Zwischenwelt hinein. Hier rannten sie in Sichtweite der Priester, bis sie Licht vor sich sahen.
Inani warf sich aus dem Nebel, blindlings folgte sie Corins Führung. Sie wusste nicht, wo sie war, es war gleichgültig. In ihr war alles leer, verbrannt, tot. Janiel … Wie sollte sie ohne Janiel weiterleben? Und Kythara? Der Gedanke, dass die toten Körper ihrer Königin und ihres Liebsten dort in Roen Orm lagen, schutzlos den Händen der Geweihten ausgeliefert, machte sie krank. Sie prallte gegen Corin, die weinend zusammengebrochen war. Hinter ihnen waren die Sonnenpriester zu hören. Zwanzig, dreißig, womöglich auch fünfzig … Es spielte keine Rolle. Sobald sie die Nebelpfade blockierten, würde es kein Entkommen mehr geben.
„Corin, verschwinde! Flieh über die Nebel, solange du noch kannst! Ich werde die Priester aufhalten!“, befahl sie. Völlige Ruhe legte sich über sie. Inani wusste, was sie zu tun hatte.
Sie blickte die Leopardin an, treue Seelengefährtin so vieler Jahre.
„Geh!“, befahl sie.
„Ich will an deiner Seite sterben.“
„Nein. Ich werde den Todestanz beginnen, dann gibt es keine Seite mehr, an der du sicher kämpfen könntest, ohne von mir getötet zu werden. Geh nach Roen Orm und verteidige Janiels und Kytharas Körper, sofort!“
„Ich sterbe, sobald du stirbst.“
„Bis es soweit bist, bleib bei ihnen. Kein Priester soll seine Finger an sie legen! Leb wohl, Schwester.“
Inani nickte dem Pantherweibchen zu, das ihr einen letzten intensiven Gruß von Zuneigung und Verbundenheit schickte, bevor es in den Nebel hineinsprang, zwischen den entsetzt schreienden Priestern hindurch, und verschwand.
Corin hatte sich derweil aufgerichtet und starrte auf die Geweihten, die sich in etwa hundert Schritt Entfernung sammelten.
„Ich weiß nicht, warum ich uns hierher geführt habe“, murmelte sie verwirrt. An diesen Ort gab es keine Deckung, keine Fluchtmöglichkeit, keine offensichtliche Hilfe – sie befanden sich inmitten der Großen Ebenen.
„Vielleicht gab es keinen Ort in Enra, an dem wir in Sicherheit sind, deshalb hast du uns hergebracht, zum letzten Kampf. Dort, wo wir niemanden sonst gefährden.“
Mit geballten Fäusten starrte Inani auf ihre Feinde. Es waren viele Geweihte aus Barrand dabei, erkannte. Ti würde heute eine große Zahl seiner Diener verlieren.
„Flieh, Corin. Ich werde tanzen. Flieh, bevor ich dich versehentlich mit den anderen töte.“
Weinend schüttelte Corin den Kopf.
„Wenn du stirbst, gibt es für mich keinen Grund mehr zu leben. Wohin soll ich gehen? Was soll ich noch tun? Du warst mein einziger Sinn, meine einzige Aufgabe. Wenn du stirbst, ist auch meine Zeit beendet.“
Die Nebel verwehten, alle Sonnenpriester hatten die Pfade verlassen und blockierten sie nun. Es gab kein Entrinnen mehr.
Fluchend stellte sich Inani dem Kampf. Sie war bereit zu sterben, um Janiel zu folgen. Bedauerlich, dass sie Corin nicht retten konnte, aber vielleicht würde sich doch noch etwas ergeben. Zumindest für sie. „Leb wohl, Maondny. Achte auf Thamar.“