29.
„Und gleich einem Sturmwind trafen die feindlichen Krieger aufeinander, jene, die Brüder sein sollten und dennoch nach dem Blut des anderen dürsteten …“
Auszug aus den Legenden vom Anbeginn der Zeit, mündliche Überlieferung der Loy
„Jetzt!“, brüllte Rynwolf und winkte seinem Untergegebenen zu. Der Geweihte schleuderte einen Feuerbann auf Cero: Eine unauslöschbare Flamme, die sich wie ein feuriger Käfig um den Fürsten legte.
„Berühre die Flammen nicht, du würdest sterben“, warnte Rynwolf. „Ich will dich in Sicherheit wissen, Neffe, sonst nichts!“
„Für meine Sicherheit sorge ich selbst, lass mich raus!“, rief Cero fluchend, doch er konnte sich nicht einmal zwei Schritt weit bewegen, ohne an die feurigen Stäbe zu stoßen. Rynwolf hörte ihm schon gar nicht mehr zu, sondern schleuderte magische Energien gegen die heranstürmenden Hexen.
„Was sollen wir tun, Herr?“, rief Ceros Hauptmann hilflos.
„Egal wie, besorge mir einen dieser Priester und zwinge ihn, mich zu befreien!“
~*~
Schnell hatten die klaren Frontlinien sich vermischt, alle Gegner hatten zueinander gefunden.
Niemand beachtete Maondny, die mit golden funkelnden Augen langsam über das Schlachtfeld schritt, den Blick auf Ilat fixiert, der mit mehreren Söldnern zugleich focht. Um sie herum tobte der Wahnsinn: Männer, die sich mit Schwertern, Messern, Äxten oder bloßen Fäusten bekämpften, Hexen und Priester, die sich sowohl mit Stäben und Klingen als auch Magie duellierten. Feuerkugeln zischten durch die Luft, die Erde bebte, und Sturmwinde fauchten wie hungrige Drachen. Verletzte, Tote und Sterbende bedeckten den Boden, Schmerzschreie mischten sich mit magischen Beschwörungen und zornigem Brüllen. Inani tanzte wie ein Schmetterling zwischen allen Kämpfern, brachte diesmal allerdings nicht den Tod über die Priester, sondern lähmte jeden, der ihr unterlag. Nichts davon bekümmerte Maondny. Sie ging ruhig voran, niemand berührte sie, keine Gefahr kam ihr nahe. Schon vor Jahren hatte sie genau gewusst, wann sie ihre Füße an welche Stelle setzen musste; gelassen folgte sie ihrem Schicksal.
~*~
Janiel löste sich von zwei Priestern, die bewusstlos zurückblieben und fand sich plötzlich mehreren Soldaten mit dem Wappen von Barrand gegenüber, die versuchten, ihn einzukreisen, allerdings ihre Waffen gesenkt hielten.
„Wir haben dich beobachtet“, sagte einer von ihnen in gerade noch verständlichem Roensha. „Du gehörst zu der Hexe Inani, nicht wahr? Unser Fürst braucht dich, er ist ein Opfer von Rynwolf geworden:“ Janiel folgte dem Blick des Soldaten und sah Fürst Cero, der in echter Bedrängnis steckte. Sein Feuerkäfig ließ ihm keinen Raum für Bewegungen, war allerdings durchlässig für magische Energien aller Art. Hexen und Priester kämpften um ihn herum, es war nur eine Frage der Zeit, wann er von einer verirrten Elementattacke getroffen wurde.
„Ich helfe ihm“, rief Janiel knapp, verwandelte sich in einen Wolf und rannte mitten in das Getümmel hinein.
~*~
Thamar versuchte, sich zu seinem Bruder durchzuschlagen. Absurderweise wichen die Soldaten von Roen Orm vor ihm zurück, kaum einer versuchte ihn anzugreifen, und wenn doch, dann erkannte derjenige meist sehr schnell seinen Irrtum und floh mit weit aufgerissenen Augen. Dennoch kam Thamar kaum voran, da die Kämpfer wie eine riesige Mauer zwischen ihm und Ilat standen.
Ob er ihnen verboten hat, mich anzugreifen, damit ich nicht versehentlich von einem anderen erschlagen werde? Oder fürchten sie, ich könnte sie bestrafen, sollte ich Sieger bleiben?
Er konnte Ilat mittlerweile zumindest sehen. Thamar hätte erwartet, dass sein Bruder sich wie früher amüsieren, den Kampf in vollen Zügen genießen würde, aber das Gegenteil schien der Fall – Ilat focht verbissen, er wirkte konzentriert statt wie damals geradezu verboten lässig. So langsam hatte Thamar genug davon, ständig abgedrängt zu werden. Zornig brüllte er auf, sodass jeder ihn hören konnte:
„Lasst mich durch! Ilat ist mein!“
Schlagartig verhielten alle Gefechte um ihn herum, Freund und Feind starrte ihn an. Der Ruf wurde weiter getragen und brachte wie eine Welle alle Kämpfe zum Erliegen. Zugleich wichen die Männer zurück und bildeten ein breites Spalier, durch das Thamar schreiten konnte, als wäre dies eine Ehrenprozession. Am Ende erwartete ihn Ilat, in jeder Hand ein Kurzschwert. Er grinste spöttisch, doch seine Augen flackerten unruhig dabei.
„Es ist lange her, Bruder“, sagte er, neigte den Kopf und musterte Thamar von oben bis unten. „Die Jahre sind dir gut bekommen, du siehst endlich aus wie ein Mann, nicht wie eine abgezogene Ratte.“
„Es ist bereits zu lange her, Ilat.“ Thamar versuchte zu begreifen, dass dieser Mann tatsächlich sein Bruder sein sollte. Früher war Ilat immer so viel größer und stärker erschienen, war er geschrumpft? Wo war das Monster, an das er sich erinnerte, das dämonische Funkeln im Blick, das ihn gelegentlich noch nachts heimsuchte? Roen Orms König war ein stattlicher Krieger, in dessen Gesicht deutliche Spuren von schlaflosen Nächten und maßlosen Alkoholexzessen zu finden waren, aber weder monströs noch dämonisch. Er erschien ihm fast wie eine jüngere Ausgabe seines Vaters, und mehr noch, wie der Bruder, der Ilat ihm in den ersten Lebensjahren gewesen war. Thamar schluckte hart. Gegen ein Monster hätte er jederzeit antreten können. Gegen einen wahrhaftigen Bruder, der sichtlich um seine Fassung rang, das würde schwer werden …
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Janiel verwandelte sich rasch zurück in einen Menschen, sobald er Cero erreicht hatte. Es war leicht für ihn, die Feuermagie in sich aufzunehmen und so den Fürsten zu befreien.
„Ihr seid hier nicht sicher, rasch, folgt meinem Seelenbruder, er führt Euch!“, rief er ihm zu und wies auf seinen Wolf, der dicht bei ihm geblieben war.
„Runter!“ Cero packte ihn, riss ihn gerade noch rechtzeitig aus der Fluglinie eines Geschosses aus purer Wassermagie.
„Ja, richtig so! Halt ihn fest, den Paktierer, ich muss ihm ein Ende bereiten!“
Janiel drehte sich langsam um. Er hatte von Anfang an befürchtet, dass er sich heute Rynwolf würde stellen müssen, dabei gehofft, gebetet, dass es aus irgendeinem Grund nicht notwendig werden würde. Aber nun war es soweit. Mit knapper Not konnte er dem gewaltigen Schwerthieb ausweichen, begleitet von mehreren Luftmagiestößen, die ihn zurücktrieben.
„Lauft!“, rief er Cero zu, dann parierte er die erbarmungslosen Attacken, die auf ihn niederregneten.
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„Du hast geübt, Bruder“, rief Ilat, doch sein leichter Ton konnte Thamar nicht täuschen, er spürte den Widerwillen, den Ilat zu verbergen suchte.
„Was ist los mit dir? Wo ist dein Wille, mich um jeden Preis zu vernichten?“, zischte er, möglichst leise, wissend, dass sämtliche Soldaten und Söldner beider Seiten den Kampf weitestgehend aufgegeben hatten, um ihnen zuzusehen.
„Der Thron wird überschätzt, Thamar. Er ist unbequem. Wie wär’s? Du nimmst die Krone und ich gehe dafür ins Exil!“ Ilat lachte freudlos, griff ihn dann mit beiden Klingen zugleich an, während Thamar beinahe gestolpert wäre vor Fassungslosigkeit. Er schlug sein Langschwert nach oben, blockte dabei Ilats Waffen vor dessen Gesicht.
„Glaubst du wirklich, es wäre so einfach?“, fragte er voller Hass. „Denkst du etwa, mir ginge es hier nur um die Krone? Hältst du Roen Orms Thron für ein Spielzeug, das du an den kleinen Bruder vererben kannst, sobald du keine Lust mehr darauf hast?“
„Denken hab ich mir abgewöhnt, es ist eher hinderlich.“ Ilat befreite sich mit einem mächtigen Ruck, stieß Thamar mehrere Schritt weit zurück, doch der kam sofort wieder heran und deckte seinen Gegner mit so schnellen und harten Schlägen ein, dass Ilat selbst mit zwei Schwertern kaum Zeit zur Verteidigung fand.
„Ich bin nicht über ein Jahrzehnt lang durch Abgründe gewandert, weil mein Kopf so dringend Goldschmuck braucht! Sollte ich überleben, das Volk von Roen Orm aber lieber Fürst Cero auf den Thron setzen wollen, trete ich mit Freuden zurück! Ich will diese Würde genauso wenig dringend wie du sie je verlangt hast.“
„Warum bist du dann hier? Warum hast du dich mit den Hexen verbündet und Intrigen gegen mich geschmiedet?“
Ilat schaffte es, durch Thamars Deckung zu brechen, schlitzte ihm mit beiden Klingen die Haut auf, an der Schulter und am linken Oberschenkel. Thamar brachte sich mit einem Sprung außer Reichweite und positionierte sich neu, ohne sich den Schmerz anmerken zu lassen. Ruhe senkte sich über ihn. Er wusste, dies war der Moment, auf den er sein halbes Leben lang gewartet hatte.
„Du weißt es, Ilat.“
„Rache? Nach all den Jahren? Komm schon, Bruder, lass die alten Geschichten doch ruhen!“ Ilat wagte einen Ausfallschritt, um Thamars mörderischer Attacke von oben zu entgehen, konnte so aber nicht mehr dem Tritt ausweichen, der gegen sein Standbein geführt wurde. Schwer atmend landete er auf dem Rücken, seine Waffen wurden beide fortgeschlagen. Thamar kniete auf seinem Brustkorb nieder, hielt ihn so bewegungsunfähig am Boden, presste ihm die Klinge gegen den Hals.
„Es sind keine alten Geschichten, nicht für mich“, sagte er atemlos keuchend. „Du hättest mich töten können, und es wäre zumindest im Sinne des Gesetzes in Ordnung gewesen. Du hättest mich vorher ein bisschen verhöhnen oder zusammenschlagen können, das hätte mich wohl kaum als Rachegeist zurückgebracht. Aber du hast mich wochenlang gefoltert und gelacht, als ich um den Tod bettelte!“ Thamar holte aus, schlug Ilat hart die Faust ins Gesicht. „Wie viele außer mir hast du noch in diesem Verlies ausbluten lassen? An wie vielen Schreien hast du dich ergötzt, wie viele Tränen verlacht? Wie viele junge Frauen hast du in dein Bett gezwungen, sie an Leib und Leben zerstört? Ja, ich weiß, in letzter Zeit bist du friedfertiger geworden, beherrschter. Nicht mehr das Monster, sondern auch ein Mensch. Aber das macht deine Taten nicht ungeschehen.“
„Dann töte mich doch! Na los! Oder willst du vorher rasch mit mir spielen?“
Thamar hob das Schwert, hielt es stoßbereit. Unzählige Male hatte er sich vorgestellt, was er sagen, was er tun würde, wenn er diese Gelegenheit bekäme. Nun erinnerte er sich an kein einziges Wort. Gebannt blickte er in das Gesicht seines Bruders, in dem Hass, Wut, Schmerz, Angst und Erleichterung miteinander rangen. Dies war kein Traum.
„Bring es zu Ende, kleiner Bruder. Es ist besser für alle!“
Thamar hörte das Blut in den Ohren rauschen. Ein Teil von ihm wollte Ilat in die Arme schließen und all das beweinen, was das Leben ihnen beiden angetan hatte. Ein anderer Teil wollte diese hassenswerte Kreatur auslöschen. Er packte das Heft seines Schwertes mit festem Griff und atmete tief durch, suchte nach der richtigen Entscheidung.
Niemand der atemlos beobachtenden Männer, die im Kreis um beide Königssöhne von Roen Orm standen, beachtete die Elfe, die still wie ein Windhauch zwischen ihnen hindurch schritt.
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„Sag es mir, Inani, warum kämpfen wir eigentlich immer gegeneinander, sobald wir uns begegnen?“, rief Cero angestrengt, während er ihren rasenden Hieben Hexe auszuweichen versuchte.
„Egal, wie der heutige Tag endet, Roen Orm braucht dich. Wir Hexen werden wieder im Untergrund verschwinden, wo wir uns am wohlsten fühlen. Du allerdings, Cero, sollst weiter im Licht stehen. Kämpfe! Zeig, dass du nicht auf der Seite der Pya-Töchter bist, jeder wird dir nur zu gerne glauben wollen!“
Inani focht mit zwei seltsamen, unterarmlangen Dolchen, die so stark gekrümmt waren, dass man sie beinahe mit Sicheln verwechseln könnte. Die Reichweite dieser Waffen war gering, aber Cero hatte längst zu spüren bekommen, wie hart und wie unglaublich scharf sie waren.
„Was sind das nur für Dinger?“, dachte er atemlos, bevor er sich einmal mehr in Sicherheit bringen musste. Dabei fiel ihm auf, dass viele Priester und Hexen die Kämpfe eingestellt hatten, um ihnen beiden zusehen zu können.
„Ein Geschenk eines sehr weisen Priesters aus dem Waldgebirge. Er nannte sie Katzenkrallen und meinte, sie wären wie geschaffen für mich. Sie sind so hart, dass sie kaum jemals zerbrechen, und so scharf, sie
gehen durch fast jeden Körper.“
„Ich stimme zu, sie sind ideal für dich …“
Cero schrie auf, als er einen weiteren Treffer am Oberarm hinnehmen musste.
„Ist das meine Strafe dafür, dass ich so viel Unglück über dich gebracht habe?“
„Nein, Cero. Oder nun, ein wenig vielleicht … Es ist nicht deine Schuld, du hast nichts weiter getan, als durch eine Tür zu schreiten und dich von dem, was du dort gesehen hast, überfordert zu fühlen.“
Inani duckte sich unter mehreren hohen Schlägen ihres Gegners, brachte sich vor der Reichweite seines Schwertes in Sicherheit.
„Meine Schwestern haben deine Leute mittlerweile in sicherer Verwahrung. Darf ich den Kampf beenden?“
„Schon wieder eine unrühmliche Niederlage?“
„Ich kann dir den Sieg nicht lassen, Cero, zu viel steht auf dem Spiel!“
„Dann nur zu! Diesmal aber bitte keine magische Attacke, wenn es geht. Ich würde gerne bei Bewusstsein bleiben und miterleben, wie alles endet.“
Nur zwei Herzschläge später war Cero entwaffnet und wurde von mehreren Hexen gefesselt, während Inani davonrannte. Cero nahm ihre letzten Gedanken noch wahr, bevor sie die Bindung zu ihm löste: Inani musste sich eilen. Sie spürte, ihr Liebster war in Bedrängnis.
~*~
Rynwolf und Janiel hatten sich weit vom Hauptfeld entfernt. Janiel zögerte, seinem einstigen Mentor und Führer zu schaden, Rynwolf hingegen setzte ihm gnadenlos mit Magie und Schwert zu. Er wurde dabei immer weiter zurückgedrängt, auf die Klippen zu, die weit über dem Meeresspiegel aufragten. Janiel blutete bereits aus zahllosen kleineren und schweren Verletzungen, die Rynwolf ihm zugefügt hatte, erschöpfte unter der Wucht magischer Attacken. Doch noch war er nicht bereit aufzugeben und den Erzpriester zu töten.
„Du musst zurückkehren in Tis Licht, wenn dir das überhaupt möglich ist! Begreifst du nicht, Janiel? Die Hexen zerstören den göttlichen Funken in dir. Sie machen dich zu einer ebenso verderbten Kreatur, wie sie selbst verdorben und schlecht sind!“
„Alle Schlechtigkeit ist nur in unseren Köpfen, Rynwolf. Warum sollten Pyas Kräfte verdorben sein? Sie ist Tis Schwester, nicht seine Feindin!“
„Das ist, was Hexen sich erzählen mögen, du weißt es besser! Ich habe dich besseres gelehrt!“
Janiel versuchte, was er noch nie gewagt hatte: So, wie Inani es ihm einmal gezeigt hatte, griff er nach der Macht des Wassers. Es kostete viel Kraft, es verursachte fürchterliche Schmerzen, doch er hielt die Konzentration und schlug zu, bevor Rynwolf auch nur ahnte, was er vorhaben könnte.
Eine Wasserfontäne schoss aus dem Boden, formte sich zu
einem glitzernden Band und legte sich um den Körper des Erzpriesters.
„Kein Mann, kein Geweihter des Ti sollte diese Kräfte besitzen! Lass mich frei, es verbrennt mich!“, schrie Rynwolf voller Zorn und Schmerz.
„Genau das ist dein Irrtum. Jeder darf diese Kräfte besitzen“, sagte Janiel sanft und legte seine Hände an Rynwolfs Gesicht. „Nicht ich bin derjenige, der gerettet werden muss, aus dem Nichts, das du zu deiner Existenz gemacht hast!“ Die Wassermagie brannte in Janiels Adern, aber er hielt dem stand, ließ Rynwolf nicht los, obgleich der ihn mit aller Kraft fortzudrücken versuchte.
„Sieh her, Erster Priester der Sonne! Sieh, welche Möglichkeiten in der Macht der Erde und des Wassers verborgen liegt, wie viel Gutes damit zu bewirken ist!“ Er zwang Rynwolfs Geist, sich ihm zu öffnen und drängte eine Flut von Bildern, Gedanken und Gefühlen voran. Unerbittlich hielt er den schreienden, sich windenden Mann fest, während er ihm die überwältigende Schönheit des Musters zeigte, in dem sich alle Elemente entfaltet hatten. Ließ ihn spüren, wie sich der Seelenbund mit Inani und dem Wolf anfühlte. Teilte mit ihm Erinnerungen an die Nähe und Liebe, die er von den Hexen erfahren durfte, die Weisheit, die er in Ronlad gefunden hatte.
„Ich will nicht, dass du um Verzeihung bittest. Ich verstehe die Gründe für die Entscheidungen, die du getroffen hast. Was ich dir zeigen will ist, dass es nicht nur einen Weg gibt, nicht nur eine einzige Wahrheit.“
Janiel gab ihn frei und löste die Wasserfesseln. Rynwolf sank still in sich zusammen, nicht ohnmächtig, sondern zu schockiert, um auch nur schreien zu können. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zu Janiel hoch.
„Willst du mich töten?“, fragte er, mit einer kleinkindlichen, zittrigen Stimme.
„Nein!“ Hastig schüttelte Janiel den Kopf und kniete neben ihm nieder. „Roen Orm braucht dich. Die Priester der Sonne brauchen einen starken Führer, das Volk braucht einen Mann, dem es vertraut, zu dem es aufblickt. Führe die Hoffnungslosen, Rynwolf! Aber das kannst du nur, wenn du selbst noch Hoffnung besitzt, und Glauben an das Gleichgewicht der Mächte. Wenn du nicht überall Vernichtung und Verrat witterst, werden die Menschen dir vertrauen.“
Wimmernd stieß Rynwolf ihn fort, langsam kroch er rückwärts.
„Alles bricht in Stücke“, rief er aufschluchzend.
„Vorsicht! Der Abgrund, bleib hier!“ Janiel sprang, um den Mann zu packen, doch Rynwolf wich ihm aus, kam mühsam auf die Beine, klammerte sich an den Felsen fest, die neben ihm aufragten.
„Führe du die Hoffnungslosen. Mögen die Götter dich auf ewig lieben“, rief er und hob segnend die rechte Hand. Ein heftiger Luftmagiestoß löste sich aus seinen Fingern, traf Janiel, der nach ihm greifen wollte, mitten in der Brust und trieb ihn zurück.
Rynwolf warf ihm einen letzten Blick zu, voller Bedauern, Entsetzen, Liebe und Dankbarkeit, und sprang dann von der Klippe hinab in die Tiefe.
„Nein!“ Janiel schnellte vor, um ihn mit Magie aufhalten, aber da schlangen sich starke Arme um seinen Körper und zerrten ihn zurück.
„Nicht, Liebster! Er hat seine Wahl getroffen, du musst sie akzeptieren!“
„Ich habe ihn umgebracht“, schrie er verzweifelt. „Ich wollte ihm helfen, stattdessen habe ich ihn in den Tod getrieben!“
„Du hast ihn befreit. Seine Seele war zerstört von zu viel Angst und Schuld, die er auf sich geladen hatte im Glauben, damit seinem Gott zu dienen. Sein Geist war gefangen von ewiger Sorge, der Verantwortung nicht gerecht zu werden. Jeder war ihm ein Feind, weil er selbst sich ein Feind war. Du hast ihm gezeigt, was er sich und allen anderen damit angetan hat. Er wäre niemals wieder fähig gewesen, von dieser Schuld loszukommen. Er hätte keinen anderen Weg einschlagen können, außer in den Wahnsinn. Das wusste er, also hat er dieses Dasein beendet, frei und erlöst. Du hast ihm nicht das Leben schenken können, aber einen Tod ohne Reue. Es gibt nicht viele, die so etwas erhoffen dürfen.“
Janiel und Inani drehten sich zu dem weißen Vogel um, der hinter ihnen gelandet war und zu ihnen beiden sprach. Avanya und Eiven waren bei ihm, sie wirkten niedergeschlagen.
„Ich muss euch für eine Weile verlassen, um mich vertraut zu machen mit dieser Welt, die so vollkommen fremd für mich ist. Doch in wenigen Tagen kehre ich zurück und helfe euch, eure Aufgabe zu erfüllen. Diesen Zweig hier, ihr dürft ihn nicht berühren, er ist nicht für euch bestimmt. Lasst ihn einfach liegen, bis sein Besitzer ihn an sich nimmt.“
Mit diesen Worten pflückte der Vogel einen blühenden Eichenzweig aus seinem Gefieder und legte ihn zu Janiels Füßen. Dann stürzte auch er sich von der Klippe hinab, ließ sich von den Aufwinden packen und in die Höhe tragen.
„Er hat uns vieles erzählt“, wisperte Avanya. Sie griff nach Eivens Hand, wirkte dabei so klein und zerbrechlich, als könnte ein Windhauch sie zerstören. „Wir sollen mit ihm gemeinsam versuchen, unsere Völker zu versöhnen. In dem Bernsteinkristall, den Thamar noch verwahrt, hat er all das verlorenen Wissen hinterlegt, das Maondny ihm geschenkt hat.“
Benommen löste Janiel sich aus Inanis Umarmung. Schockiert erinnerte er sich, dass heute noch mehr Entscheidungen ausstanden.
„Was ist mit Thamar? Hat er die Begegnung mit Ilat überlebt?“
Ahnungsvoll drehten sie sich um und versuchten zu erkennen, was innerhalb der riesigen Gruppe von Soldaten und Söldnern geschah.