11.
„All die Jahre suchte ich das Glück, und merke nun, ich bin vor ihm geflohen.“
Zitat aus „Der Ruf des Korabal“, Komödie von Shila von Erten
Thamar blickte verwirrt um sich. Jahrelang hatte er nicht gewusst, wie er sich den magischen Zeitenstrom vorstellen sollte. Es war immer auf ein Bild von einem mehr oder weniger reißenden Strom mit unendlich vielen Nebenflüssen hinausgelaufen, sowie überall funkelnde Lichter in undurchdringlicher Schwärze – nicht ganz wie Sterne am Nachthimmel, doch sehr ähnlich. Was er nun hier vorfand, erinnerte allerdings eher an die Nebelpfade der Hexen. Maondny erwartete ihn lächelnd. Sie saß schimmernd inmitten des Nichts, umgeben von Dunstschleiern, die bläulich glitzerten wie Eiszapfen in der Wintersonne. Die Schleier trieben in alle Richtungen dahin, drehten sich mal träge, mal wie von Sturmböen gepeitscht, obwohl Thamar keinerlei Wind spüren konnte. Die völlige Empfindungslosigkeit bedrückte ihn, er konnte weder Hitze noch Kälte noch irgendetwas anderes wahrnehmen, nur die Sicht war ihm geblieben. Sein Körper war fort, sein Dasein ein Trugbild seines Verstandes.
„Fürchte dich nicht“, sagte Maondny leise und zog ihn nah zu sich herab. Wann hatte sie sich bewegt? Oder war er auf sie zugegangen? Es tröstete ihn, bei ihr zu sein, allein ihre Berührung konnte er deutlich fühlen.
„Ich bin weitaus mehr körperlich an diesem Ort als du, darum spürst du meine Nähe, und ich die deine. Es ist Teil meiner Magie.“
„Sprich weiter“, sagte er und lehnte sich mit dem Kopf an ihre Brust. Sie erstarrte leicht, dann umarmte sie ihn fest und sorgte dafür, dass er bequem in ihren Armen ruhen konnte. „Es fühlt sich gut an, wenn du sprichst, deine Stimme vibriert in mir. Ich hoffe, wir können uns den Moment leisten, Maondny?“
„Wir haben alle Zeit, die es gibt. Egal, wie lange wir hier sitzen, es wird in der wirklichen Welt nur ein Augenblick vergehen. Schwieriger ist die Reise in die Vergangenheit und von dort aus zurück in die Gegenwart. Die Zeit ist, wenn man es genau nimmt, kein Fluss, der Anfang, Mitte und Ende hat. Es ist mehr so, dass Zeit sich überall zugleich befindet und ich magisch dafür sorgen muss …“ Sie hielt inne, sah sein völlig verwirrtes Gesicht und lächelte beruhigend. „Schon gut. Ich kann nicht im Voraus sagen, zu welchem Zeitpunkt du zu deinem Körper zurückgelangst. Möglicherweise wird es nur wenige Minuten nach deiner Verschmelzung mit dem Splitter sein, möglicherweise auch mehrere Wochen.“
„Wäre ich bis dahin nicht verdurstet?“, fragte er vorsichtig.
„Nein. Solange du mit dem göttlichen Artefakt in Berührung stehst, befindest du dich außerhalb des Lebens. Kein Wind, kein Regen, kein Tier kann dir nahe kommen, weder Hunger noch Durst, weder Atmen noch das Schlagen deines Herzens sind von Bedeutung.“
„Ich verstehe es nicht, lass gut sein, Maondny.“ Thamar seufzte. „Verachte mich ruhig für meine Dummheit, ich werde es nie verstehen.“
Sie streichelte über seine Wangen, lachte dabei leise über die kratzigen Stoppeln unter ihren Fingern. „Ich mag das. Elfenmänner haben keinen Bartwuchs, du bist so wunderbar anders!“ Er grummelte nur leise, er genoss diese friedliche, vollkommen ungestörte Nähe zu ihr viel zu sehr, um sich ärgern zu lassen. „Du bist nicht dumm, Thamar, wenn ich mir die Mühe gemacht hätte, dir die Gesetze der Welt von Grund auf zu erklären, würdest du es verstehen können. Ich verachte dich nicht, im Gegenteil.“
Er blickte auf zu ihr, verwundert über die Angst in ihrer Stimme.
„Was ist, Maondny?“ Er wollte sich von ihr lösen, doch sie hielt ihn fest, dicht an sich gedrückt.
„Das, was wir beide gerade tun, habe ich nicht vorausgesehen. In all meinen unendlichen Visionen von diesem Moment sind wir stets sofort losmarschiert, hinein in die Vergangenheit. Es macht mir Angst, es geschieht so vieles, was ich nie vorhergesehen hatte, so vieles verändert sich in viel zu kurzer Zeit. Menschen, die sterben sollten überleben, andere sterben, der gesamte Fluss von Schicksal und Fügung ist aus dem Gleichgewicht. Nicht einmal die Gesetze der Himmel scheinen noch zu gelten. Der Sog, der Anevys Zeit im Vergleich zu uns verlangsamte, sollte noch auf Jahre anhalten, und unterbrochen werden, sobald ich den neuen Zugang erschaffe. Stattdessen wurde er abgelenkt, und meine Heimatwelt hat nun annähernd wieder den gleichen Zeitverlauf wie wir. Wenn mein Plan nicht aufgeht, steht womöglich am Ende die Steintänzerin am richtigen Punkt, die Prophezeiung erfüllt sich, aber ich bin nicht bereit, einen neuen Seitenarm des Weltenstrudels zu öffnen und so mein Volk heimkehren zu lassen. Meine Pläne müssen sich beschleunigen und ich weiß noch nicht genau, wie.“
Thamar setzte sich auf und drehte Maondny so, dass ihr Kopf an seiner Brust geborgen lag. Erstaunt bemerkte er, dass er sich an das Nichts anlehnen konnte, es bot ihm Widerstand. Müßig, darüber nachzudenken.
„Alles verdichtet sich nun. Jede einzelne Entscheidung der Schicksalsträger verändert den Takt der gesamten Welt. Du bist einer dieser Träger, Inani ebenso, ich selbst leider auch … Janiel ist es vor kurzem geworden, und einige andere noch dazu. Den großen Verlauf des gesamten Gefüges kann ich im Blick halten, es sind die winzigen Kleinigkeiten, die mir entgehen.“
„Ist es denn schlimm?“, murmelte er, während er zärtlich über ihren schmalen Rücken streichelte.
„Es ist, als würdest du in einer Frühlingsnacht schlafen gehen und im Winter erwachen. Oder als würde ein Weg, der immer nach rechts abgezweigt war, plötzlich nach links führen. Winzige Kleinigkeiten haben riesige Auswirkungen im Schicksalsgeflecht.“
„Dass ich mich entschlossen habe, etwas länger hier sitzen zu bleiben als du gedacht hast, Maondny, hat das auch Auswirkungen?“, fragte er, um nicht länger über das nachdenken zu müssen, was er gar nicht verstehen oder wissen wollte.
„Nein. Wir können tun, was wir wollen, solange wir wollen, so oft wir wollen, es ist gleichgültig. Irgendwann einmal werden wir aufstehen und den Weg in die Vergangenheit beschreiten müssen, bis dahin haben wir alle Zeit der Ewigkeit. Das eigentliche Leben findet außerhalb dieses Zeitenstroms statt.“ Sie blickte erstaunt zu ihm hoch, aus goldenen Augen, als ihr die Bedeutung ihrer eigenen Worte klar wurde.
„Und die Auswirkung auf unser weiteres Leben?“
„Wenn keiner von uns etwas tut, was das Vertrauen des anderen zu ihm zerstört, besteht keine Gefahr“, hauchte sie, während ihre Iriden die Farbe des Himmels annahmen.
Thamar küsste ihre Stirn, nahm sanft ihr wunderschönes Gesicht zwischen seine Hände.
„Dann warne mich, sobald du voraussiehst, dass ich dir oder deinem Vertrauen gefährlich werde“, flüsterte er. Doch in ihren Augen sah er nur Liebe, Staunen und Glück über all das, was sie beide sich so lange gewünscht und nie erhofft hatten.