ALINA

Silas und ich liegen flach auf dem Boden. Um uns herum steigen Staubwolken auf. »Wo sind sie?«, frage ich und suche mit zusammengekniffenen Augen die Anlage Süd nach der sequoianischen Miliz ab.

Silas reibt über das Glas seines Zielfernrohrs und späht hindurch. »Wenn sie wissen, dass von dort die Versorgung der anderen Anlagen gesteuert wird, kommen sie bestimmt bald wieder«, sagt er. Und so machen wir uns auf zum Kontrollturm, den wir von Ministeriumssoldaten bewacht glauben. Doch hinter den Sandsäcken ist niemand. Alles wirkt wie ausgestorben.

Das Artilleriefeuer ist kaum mehr zu hören.

Seltsam. Vanya kam mir nicht vor wie jemand, der so einfach das Handtuch wirft. »Irgendwas ist hier faul«, sage ich. Die müssen einen Angriff planen, und wenn sie das tun, können Silas und ich alleine gar nichts ausrichten. Und dann dämmert es mir. »Oh nein«, sage ich.

Bei Silas fällt der Groschen im selben Augenblick. »Wir sitzen in der Falle«, meint er. »Lass uns versuchen, in die Anlage reinzukommen.«

Und dann erschallt Vanyas Stimme wie aus den Wolken. »Wenn ich an eurer Stelle wäre, würde ich um den Turm einen großen Bogen machen.«

»Beim Westturm.« Silas zeigt mit dem Finger. Die Leitungen der Wiederaufbereitungsanlage West sind längst durchtrennt und Vanya muss sich dort eingenistet haben. Ich spähe durchs Zielfernrohr. Sie steht auf dem Balkon, ein Megafon vorm Gesicht.

»Gleich geht die Bombe hoch«, verkündet sie.

»Brauchen Bomben nicht Sauerstoff?«, frage ich Silas, obwohl der sich damit genauso wenig auskennt wie ich.

Sollte man meinen. »Die brauchen nur Benzin und ein Oxidationsmittel. Ich bin mir sicher, irgendwem in Sequoia wird das auch aufgegangen sein.«

»Glaubst du wirklich, die will alles hochjagen?«, überlege ich laut. Die Biosphäre befindet sich am südlichen Teil der Kuppel. Könnte die Explosion eine solche Reichweite haben? Und was würde uns dann noch bleiben? Eine Handvoll Menschen, keine Bäume, keine Kuppel? Das wäre schlimmer als der Switch. Das kann ich nicht zulassen. Ich rase auf die Tür zu, Silas auf den Fersen.

Ohne gültigen Daumenabdruck für die Tür müssen wir die Schlösser aufschießen. Eine Kugel jagt an meinem Kopf vorbei und pfeift sengend durch die Tür.

Vanya hat das Feuer auf uns eröffnet.

Die Tür bebt in ihrem Rahmen, weigert sich jedoch aufzugehen. Ich lege mich auf den Boden und trete mit meiner ganzen verbliebenen Kraft dagegen. Silas versucht es mit der Wucht seines Körpers.

»Miliz!«, ruft Vanya und binnen Sekunden stapft die Sequoianertruppe auf uns zu.

Doch endlich gibt die Tür nach. Ich springe gerade auf die Beine, als sich Vanyas Miliz wie eine wilde Herde auf uns stürzt. Silas zerrt mich in den Turm. »Such die Bombe und tu, was du kannst, ich…«

Er spricht nicht weiter, denn was soll er schon gegen dreißig Mann ausrichten? Er lugt aus dem Türrahmen und ballert los.

Unter Protest quält sich der Windenaufzug nach oben, wo ich den Kommandoraum offen, aber verwaist vorfinde. Ich eile auf den Balkon, auf dem vier tote Scharfschützen liegen. Das Blut tropft über den Rand. Neben ihnen liegt ein Solar-Atemgerät.

Ich beuge mich übers Geländer.

Die Sequoianer sind schon fast bei den Sandsäcken. Ohne wirklich zielen zu können, beginne ich zu feuern. Und da entdecke ich sie: eine Gruppe Zivilisten, die Vanyas Miliz verfolgt.

Ich sehe genauer hin und muss einfach die Faust triumphierend in die Luft strecken – es sind Onkel Gideon, Tante Harriet und die Rebellen, die die Sequoianer schon fast eingekesselt und unter Beschuss genommen haben.

Sie brauchen meine Hilfe und gerade will ich mit der Winde wieder nach unten fahren, als mein Blick auf das Atemgerät fällt und ich endlich begreife, was ich da vor mir habe. Auf der Rückseite ist mit Klebeband eine in gelbes Plastik gehüllte Schachtel mit Digitalbedienfeld befestigt. Vanyas Bombe.

Zahlen blinken auf: 219, 218. Sekunden? Was ist das in Minuten? Ich hab keine Zeit zum Rechnen und auch keinen blassen Schimmer, wie ich das hier entschärfen soll. Ich bin ja nicht Song.

214, 213, 212…

Ich könnte die Bombe jetzt einfach hierlassen und abhauen, aber wenn ich davonkomme und sonst nichts, was soll das bringen? Wenn ich die Bombe nicht entschärfen kann, muss ich sie mitnehmen, sie so weit wie möglich von hier wegschaffen. Bei der Größe kann ich sie nur auf dem Rücken transportieren, aber mit meiner eigenen Sauerstoffflasche am Gürtel ist das nicht drin. Ich schnalle sie samt Atemmaske ab und ziehe mir die widerlichen Vorrichtungen des Solargeräts über den Mund. Es stinkt. Und ist schwer wie ein Felsbrocken.

Die Digitalanzeige ist jetzt samt ihren Leuchtziffern außer Sichtweite und das ist gut so.

Ich taumle zur Winde und fahre nach unten. Silas ist verschwunden. Als ich rausblicke, drückt er gerade einen Milizionär auf die Erde. Meine Tante und mein Onkel sind nicht weit, sie halten die Miliz mit ihren Waffen auf Abstand. So stark die Sequoianer auch sein mögen – Rebellen Seite an Seite mit den Ministeriumssoldaten hätten sie nie erwartet.

Ich sprinte hinten um den Turm herum und taumle raus ins offene Land.

Die Luft aus dem solarbetriebenen Atemgerät ist feucht, die Maske kratzt mir im Gesicht. Ohne ginge es mir besser und so zerre ich sie ab und lasse sie fallen. Der Sauerstoff in der Atmosphäre ist dünn, aber nach meinem Training komme ich damit aus.

Eine Stimme schreit: »Zieh es aus, Alina. Runter damit!«

Aber das kann ich nicht. Nicht, bevor ich nicht alle in Sicherheit weiß. Ganz gleich, wie schwer das Teil ist und wie verbrannt mein Hals sich anfühlt.

Als ich mich schließlich umdrehe, erglüht die Kuppel im Licht der untergehenden Sonne. Jetzt bin ich wohl weit genug, um sie gerettet zu haben, und so schäle ich mir das Gerät ab und springe davon, ohne noch mal nachzusehen, wie viel Zeit mir bleibt. Einfach nur rennen. Ich renne, so schnell meine Lunge und meine Beine mich tragen.

Die Stimme kehrt zurück. Es ist Silas. »Lauf, Alina. ALINA!« Aber er muss sich keine Sorgen machen. »ALINA!«, brüllt er.

Und ich lächle.

Sarah Crossan - Breathe Band 2 - Flucht nach Sequoia
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