OSCAR
Ganz langsam und vorsichtig gehe ich auf das Mädchen mit dem Messer und das hyperventilierende Kind zu, versuche, ihre Gesichter im schwindenden Licht auszumachen.
Bea Whitcraft erkenne ich sogar hinter ihrer Atemmaske. Zwar bin ich ihr noch nie begegnet, aber seit der Pressekonferenz gab es keinen Bildschirm, auf dem das Fahndungsfoto nicht hundertmal täglich aufgepoppt wäre.
Videoaufzeichnungen wurden natürlich nicht gezeigt. Ich musste die Sekretärin aus dem Pressebüro persönlich darum bitten, als Gefallen quasi. Ich musste wissen, wie es dazu gekommen war, und deshalb zwangsläufig Zeuge werden, wie mein Vater Beas Eltern kaltblütig abknallte. Und jetzt nennen sie Bea eine Terroristin, auch wenn sie eher wie eine Ausgestoßene aussieht. Auf dem Boden liegen leere Flaschen und blutige Lumpen verstreut.
»Kann ich euch helfen?«
Bea schwingt das Messer. »Was willst du hier?«
»Wen interessiert’s? Stich ihn ab«, murmelt das Kind. Sie ist erschreckend bleich und scheint sich nicht vom Fußboden rühren zu können. Eines ihrer Hosenbeine ist aufgerissen, die umliegenden Fliesen sind blutverkrustet. Sie weint und auch über Beas Gesicht rinnt eine Träne.
»Ich tu euch nichts«, versichere ich. »Ich habe Geräusche gehört, mehr nicht. Ich wollte nur nachschauen.« Niamh hat sich mal über Quinns peinliche Klammerei an Bea beschwert, wie sie es nannte. Jetzt, wo ich sie gefunden habe, ist vielleicht auch er nicht weit.
Ich verstaue die Pistole in meiner Tasche und komme vorsichtig näher. Bea zuckt bei jedem Schritt zusammen, und als keine Armeslänge mehr zwischen uns liegt, erstarrt sie völlig. »Verschwinde«, sagt sie. Sie führt das Messer bis auf ein paar Zentimeter vor mein Gesicht. Ihre Augen sind groß vor Angst, Erschöpfung, Wahnsinn – vielleicht alles auf einmal.
»Das Mädchen ist schwer verletzt«, sage ich. Vorsichtig schiebe ich Beas Hand und das Messer aus meiner Gesichtsnähe. Doch sie schwingt es zurück in meine Richtung und drückt mir die Spitze so fest gegen den Hals, dass es die Haut ritzt. Damit habe ich nicht gerechnet, ich springe zurück und wische mir das Blut ab. Entschlossen reckt sie den Arm nach vorne. »Hau ab, hab ich gesagt«, droht sie.
Ich könnte ihr das Messer leicht entwinden, aber da sie mich vielleicht zu Quinn führen kann, muss ich ihr Vertrauen gewinnen. So gehe ich lieber auf Abstand und krame eine Taschenlampe aus meinem Rucksack, um auf das Bein des Kindes zu leuchten. Es ist rot und geschwollen, die Haut gespannt, der lange Schnitt gelb verfärbt. Mein Magen meldet sich. Bea lässt mich nicht aus den Augen.
»Wie lange ist das schon so?«, frage ich.
»Ich weiß nicht. Eine Woche vielleicht?« Ihr Kinn zittert. Dem Kind bleibt nicht mehr viel Zeit, nicht ohne anständige medizinische Versorgung.
»Verstehe«, sage ich. Ich könnte lügen, aber ich hab keinen Grund dazu. »Ich kann Hilfe für sie organisieren. Ich bin Oscar Knavery.«
Sie schaut auf mein Ohrläppchen und hält dann das Messer wieder hoch. Ihre Züge sind versteinert. »Dein Vater hat meine Eltern ermordet«, zischt sie. Das kann ich nicht leugnen, so oft wie ich mir die Videoaufzeichnungen angesehen habe, und so nicke ich. Aber wenn sie mich schon wegen der Tat meines Vaters hasst – wie würde sie erst auf das reagieren, was ich bei der Zerstörung des Hains angerichtet habe? Den Gedanken an all die Menschen und Bäume, die ich gefällt habe, kann noch nicht mal ich selbst ertragen.
Wir betrachten einander wortlos, bis sie schließlich die Nase hochzieht. »Du siehst aus wie dein Vater«, sagt sie. Das habe ich schon öfter gehört, als Kompliment sozusagen, aber sie meint es beleidigend. Sogar ihr Zähneknirschen kann ich hören.
»Ich weiß«, sage ich. »Aber ich bin nicht er. Und es tut mir wirklich leid, was dir passiert ist.« Ich spreche ganz ruhig, behutsam, immer in der Hoffnung, dass sie meine Aufrichtigkeit heraushört.
»Dann schätz ich mal, du willst mich jetzt zurückbringen und aufknüpfen lassen.«
»Nein. Ich suche jemand anderen.«
Sie verzieht keine Miene. »Bis auf uns ist keiner übrig.«
Ich halte den Atem an. »Wovon übrig?«, frage ich, obwohl ich genau weiß, was jetzt kommt.
»Vom Hain. Dem Ort der Zuflucht, den dein Vater dem Erdboden gleichgemacht hat.«
Als wir den Hain verließen, war er gerade im Einsturz begriffen, aber habe ich dort nicht Überlebende flüchten sehen? Oder mache ich mir da aus reinem Selbstschutz was vor? Haben wir sie alle vernichtet? Die Menschen und die Bäume?
Und Quinn? Wo steckt er?
Bea beäugt mich schweigend.
»Eigentlich war Quinns Vater verantwortlich für die Mission«, wage ich mich vor.
»Quinn?«, murmelt das halb bewusstlose Kind, was ihr ein Psssst von Bea einbringt.
Also kennt die Kleine Quinn, was bedeuten könnte, dass er hier war. Und vielleicht zurückkehrt. Ich beobachte Bea noch ein paar Augenblicke, aber ihr Gesicht gibt nichts preis. Wie soll ich wissen, ob das Mädchen ihn nicht einfach im Hain kennengelernt hat, als er angeblich Gefangener der Rebellen war?
Ich wühle wieder in meinem Rucksack und ziehe eine Packung Penizillin heraus, drücke eine Tablette durch die Folie und halte sie ihr hin. »Antibiotika.« Misstrauisch beäugt sie meine Hand. »Wenn ich ihr wehtun wollte, hätte ich die Waffe genommen«, sage ich. »Jetzt steck das Messer weg… bitte.«
Das Messer immer noch in der Hand, greift Bea mit der anderen nach der Tablette. Kurz erwäge ich, sie zu entwaffnen, halte mich jedoch zurück. Ich lasse die Tablette in ihre Hand fallen und mache wieder ein paar Schritte rückwärts. Sie hebt die Kleine sanft in Sitzposition und schiebt das Medikament zwischen ihre Lippen, bringt sie dazu, einen Schluck aus der Wasserflasche zu nehmen. Das Mädchen schafft es, die Tablette zu schlucken, bevor ihre Augen wieder zurückrollen. Gegen die Erschöpfung kommt sie nicht an.
In unserer Ausbildung wurden wir vor Terroristen gewarnt und mein Kopf war voll mit Bildern von breitschultrigen Kerlen mit Gewehren beim Granatenwerfen. Etwas derart Klägliches wie das hier habe ich mir nie vorgestellt: ein Kind, in den Tod geleitet von einem hohlwangigen Mädchen, das mit seinem verdreckten Solar-Atemgerät selbst um jeden Atemzug ringt.
»Ich kann die Kuppel anfunken«, sage ich. An Judes Hilfsbereitschaft hab ich so meine Zweifel, aber sie ist nur ein Kind, dem geholfen werden muss. Das ist noch das Geringste, nach allem, was ich ihrem Zuhause angetan habe. Waren ihre Eltern im Hain? Hat es sie auch erwischt?
»Ein Versuch, hier irgendwas zu funken, und ich zersäbel dich«, sagt Bea.
Ich halte die Hände hoch. »Schon verstanden.«
Da explodiert sie: Sie springt auf und rammt mir ihre Hände in die Brust. »Wie kannst du das sagen? Nichts verstehst du!«
Ich starre sie an und lehne mich nach hinten. »Mein Vater ist auch bei den Aufständen ums Leben gekommen.«
»Das ist ja wohl kein Vergleich. Meine Eltern waren gute Menschen. Dein Vater war… er war…«
»Er war ein Arschloch«, sage ich und sie blinzelt. Ich warte ab, denn ich möchte nichts Unwahres sagen. »Aber ich wünschte, ich hätte ihn mehr geliebt.«
Ihr steigen Tränen in die Augen. »Wenn man wen verliert, wünscht man sich immer, man hätte ihn mehr geliebt.« Sie wischt sich über die Augen und schnieft. Und dann heult sie los, das Gesicht gegen den Arm gedrückt, um die Schluchzer zu dämpfen.
So habe ich noch nie geweint. Meine Mutter hat unendliche Tage hustend und stöhnend im Bett verbracht, bis sie eines Morgens weg war und die Geräusche durch Stille ersetzt wurden. Nur ein einziges Mal habe ich um sie geweint – ganz leise, alleine in meinem Zimmer. Warum habe ich ihr nicht die letzte Ehre erwiesen und richtig um sie getrauert?
Ich krame noch mal in meinem Rucksack und ziehe das Funkgerät raus. Bea blickt auf. »Nein«, sagt sie, schon wieder in Angriffshaltung.
»Du schaufelst bald ihr Grab, wenn sie nicht in ein Krankenhaus kommt.«
»Die bringen sie um.«
»Sterben wird sie so oder so.«
Bea kaut sich auf ihren Lippen rum.
Ich drehe mich um.
»Wo gehst du hin?«, fragt sie.
»Ich will vermeiden, dass sie aufwacht und vielleicht losschreit, während ich spreche. Die sollen glauben, ich hätte meine Zielperson gefunden.«
Beas Widerstand verpufft. »Sie heißt Jazz«, sagt sie.
Das Grollen des Motors eilt dem Geländewagen meilenweit voraus. Vorsichtig löst Bea jeden von Jazz’ festgekrallten Fingern einzeln von ihren Arm. »Bald geht’s dir besser«, sagt sie, fast, als würde sie selbst dran glauben. Sie drückt ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn und steht dann auf, um ihre Sachen einzusammeln. »Was wirst du denen erzählen?«, fragt sie mich.
»Dass ich sie völlig verlassen und verängstigt aufgelesen habe.« Jazz nickt, um zu signalisieren, dass sie mitspielen wird. »Jetzt such dir ein Versteck und komm erst raus, wenn du den Geländewagen wegfahren hörst«, sage ich.
Bea wendet sich an Jazz. »Du bist gar kein so blödes Balg, wie ich geglaubt habe«, stößt sie lachend hervor.
»Tschüss«, sagt Jazz. Sie muss die Tränen zurückhalten. Bea lässt ihre ebenso wenig zu. Sie nickt noch mal und verschwindet in der Dunkelheit.
Ich sehe ihr nach und schleppe dann Jazz zum Straßenrand, wo wir zitternd unter dem leuchtenden Sternenhimmel und der schmalen Mondsichel sitzen. Ihr verwundetes Bein wird kaum noch zu retten sein, so angeschwollen, wie es ist. Hoffentlich kann wenigstens sie selbst gerettet werden.
»Kannst du dir vorstellen, wie die hier draußen vor dem Switch gelebt haben? So viel Platz.« Ich rede eher mit mir selbst als mit Jazz, die kaum die Augen aufhalten kann. Ich drücke sie fester an mich. »Da sind die Leute kreuz und quer durch die ganze Welt gereist. Keiner ist nur in seinem eigenen Land geblieben. Jetzt kommen nicht mal Ausländer irgendwohin. Wir sind doch alle gefangen. Gefangen in der Kuppel, gefangen auf dieser Rieseninsel. Ist doch überall das Gleiche.« Jazz nimmt meinen Daumen in ihre kalte Hand und schließt wieder die Augen, als sich der Geländewagen mit seinen gleißenden Scheinwerferaugen aus der Dunkelheit schält.
Ich stehe auf, Jazz in meinen Armen. Der Geländewagen bremst ab und bleibt stehen. Jude steigt aus und postiert sich vor der Kühlerhaube. Im Gegenlicht der Scheinwerfer bleibt er ein Schattenriss in der Finsternis.
»Wer ist das?«, grollt Jude. Statt Uniform trägt er eine schlabbrige Hose und einen alten Pulli wie ein ganz gewöhnlicher Durchschnittsmann. Ein Dad. »Wo ist Quinn?«
»Ich hab ihn nicht gesehen.« Für eine RATTE hätte Jude sich nie herbemüht und deshalb habe ich ihn beim Funkgespräch angelogen: ihm vorgemacht, ich hätte Quinn gefunden.
»Was zum Henker…« Er bricht ab, macht einen Schritt nach vorne und beäugt Jazz. Er wischt ihr das Haar aus dem Gesicht. »Was soll ich mit ihr anfangen?«
»Sie braucht einen Arzt.«
»So haben wir aber nicht gewettet.« Er macht auf dem Absatz kehrt.
»Ich hab schon eine Spur zu Quinn. Und ich will dein Angebot annehmen. Ich werde ein Second, wenn das bedeutet, dass ich nicht noch mehr unschuldige Leute abschlachten muss.«
Jude fährt wieder herum. »Das waren nicht nur Unschuldslämmer«, sagt er mit Blick auf Jazz, die ihm nur knapp entwischt ist. »Und wer garantiert mir, dass du die Wahrheit sagst?«
»Ich hab das von Quinn nur erzählt, um ihr zu helfen. Und ich glaube kaum, dass ich noch mehr Rettungsbedürftige finden werde«, sage ich mit Gedanken an Bea.
Er breitet die Arme aus. »Gib sie her«, sagt er kühl und mustert ihr Bein ohne merkliche Gefühlsregung.
»Alles in Ordnung mit Niamh?«, frage ich.
»Sie ist immer noch stinksauer. Ganz die Tochter ihres Vaters, deine Schwester«, sagt er. »Du allerdings… hast nicht viel von ihm.«
»Nee, und Quinn hat auch nicht viel von dir.« Er soll sich nur nicht einbilden, dieser Anfall von Gewissensbissen und unerwarteter Fürsorge für seinen Sohn würde ihn jetzt zum Helden machen oder so. Jude starrt mich an, während Jazz sich in seinen Armen windet.
Ich trete aus dem grellen Scheinwerferlicht heraus, zurück in die Dunkelheit. »Die Ausgestoßenen hier kennen nichts. Nimm dich bloß in Acht vor denen«, sagt Jude auf dem Rückweg zum Wagen.
Vorsichtig bugsiert er Jazz auf den Rücksitz und steigt wieder hinters Lenkrad. Ein grobes Wendemanöver auf dem Geröll, und weg sind sie.
Ich kehre zum Bahnhof zurück. »Bea!«, rufe ich. Binnen Minuten steht sie wieder schlotternd vor mir. Mir wird leichter ums Herz. Ich hatte schon befürchtet, sie sei fortgelaufen, denn alleine würde ich es hier draußen nicht länger aushalten.
»Glaubst du, sie kommt durch?«, fragt sie.
»Könnte sein«, sage ich.
Die oberen Knöpfe ihres Mantels und ihrer Bluse sind offen, entblößen spitze Schlüsselbeine und weiße Haut. Ich trete auf sie zu und sie streckt die Hand aus. »Danke«, sagt sie. Ich ergreife ihre Hand und schüttle sie und endlich wölbt sich ihr Mund zu einem schmalen Lächeln.
»Ich bin froh, dass du uns gefunden hast«, sagt sie.
»Das bin ich auch.«