ALINA

Die Krankenschwester, zu der sie mich geschickt haben, sieht aus wie künstlich in die Länge gezogen, groß und dürr. Selbst ihre Nase ist ungewöhnlich lag. Sie reicht mir einen Wasserbecher und drei Tabletten: eine weiße ovale und zwei winzige rote Pillen. »Schlucken«, befiehlt sie.

»Was ist das?«

»Zwingend vorgeschrieben ist das.«

Ich nippe am Wasser und gebe vor, die Tabletten zu schlucken, während ich sie mir heimlich unter die Zunge schiebe und sofort in die Hand spucke, als die Schwester sich umdreht. Rein in die Hosentasche damit.

»Hier rauf«, sagt sie. Ich steige auf einen Tisch und lege mich hin. Sie bindet mir ein Gummiband um den Arm und reicht mir einen kleinen Ball. »Kneten«, befiehlt sie. Sie klopft mir ein paarmal in die Armbeuge, und ehe ich reagieren kann, sticht sie mit einer Nadel zu. Ich fahre auf und unterdrücke einen Protestschrei. »Hör auf zu zappeln«, giftet sie mich an, bevor sie das Band löst und eine Ampulle Blut abzapft.

Als sie schließlich fünf Ampullen voll hat, fährt sie herum. Ihre Gummisohlen machen ein ekliges Geräusch auf dem Boden, als sie mein Blut auf einem Träger im Kühlschrank deponiert. Dann greift sie in einen Schrank und zieht ein Fläschchen klarer Flüssigkeit heraus.

»Und jetzt der Booster.« Sie schüttelt die Flasche, drückt eine Nadel durch den Deckel und hält die Spritze dann ins Gegenlicht, um ein paarmal mit dem Finger dagegenzustupsen. Sie prüft den durchsichtigen Tropfen, der in die Spitze hochgeschossen kommt. Diese EPO-Spritze soll also den Anteil roter Blutkörperchen erhöhen und unseren Sauerstoffbedarf senken. Genau das Gegenteil von dem, was die vorgeschriebenen Impfungen in der Kuppel bezweckt haben, aber für mich macht das keinen Unterschied. Ich will mir nichts injizieren lassen. Hier nicht. Und auch sonst nirgendwo.

Ich überlege, mich einfach zu weigern, was der Schwester nicht entgeht und mir einen Blick über ihren Brillenrand einbringt. »Irgendein Problem?« Sie tupft meinen Arm mit Alkohol ab. Ich schließe die Augen und sie sticht mit der Nadel zu.

Das war’s dann wohl hoffentlich, denke ich und stütze mich auf die Ellbogen, aber weit gefehlt. Lächelnd wirft die Schwester mir eine kratzige Decke zu. »Mach dich untenrum frei und leg dir die über den Schoß. Ich bin gleich zurück.« Sie schließt die Tür hinter sich und ist verschwunden. Ich blicke auf die Decke runter, dann auf die Ansammlung fremdartiger Metallinstrumente, die auf dem Tisch liegen, stehe auf und tigere durchs winzige Labor.

Der Gedanke, mir von irgendwem den Unterleib untersuchen zu lassen, ist in mehr als einer Hinsicht erniedrigend. Nicht nur, dass ich Schiss habe, mich von der Schwester beglotzen und mir von ihr Gegenstände reinschieben oder irgendwas wegschaben zu lassen – meine Haare riechen, als hätte jemand draufgekotzt, und gestern beim Stiefelausziehen haben meine Füße gestunken. Ich mag gar nicht drüber nachdenken, wie wohl der Rest von mir riecht.

Ich bin keine Heulsuse, aber zum ersten Mal seit Ewigkeiten spüre ich, wie es mir hinter den Augen prickelt. Als Rubbeln nichts hilft, verpasse ich mir selbst eine Ohrfeige. Die sticht und genau das habe ich gebraucht. »Krieg dich ein, Alina«, sage ich zu mir selbst.

Ich kicke meine Stiefel in eine Zimmerecke und starre auf meine ausgeleierten, feuchten Socken, die ich anlassen werde. Ich steige aus der Hose, dann aus der Unterhose, und schleudere beides zu den Stiefeln. Als die Tür aufgeht, springe ich auf den Tisch und ziehe mir die Decke über die Beine.

Die Schwester schnappt sich eine Maske von der Arbeitsfläche, die sie sich über Mund und Nase zieht. Es ist keine Atemmaske, sondern reiner Schutz vor Krankheitserregern, in meinem Interesse und vor allem in ihrem.

Sie setzt sich auf einen Hocker und zupft an zwei in den Tisch eingelassenen Laschen. »Steck da die Füße durch und leg dich auf den Rücken.«

»Wofür ist das?«, frage ich. »Ich meine, die Blutprobe verrät Ihnen doch ohnehin alles, was Sie wissen müssen. Ich bin kein Krankheitsträger, wenn Sie das meinen. Ich komme aus der Kuppel, wissen Sie. Da gibt es ständig vorgeschriebene Gesundheitschecks. Ich bin sauber.«

Die Krankenschwester schneidet eine Grimasse. »Sauber würde ich dich nicht gerade nennen. Jetzt leg dich hin.«

Ich bleibe sitzen. »Wofür ist das?«

Sie schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Soll ich Vanya holen, damit sie’s für dich ausbuchstabiert? Oder lieber Maks?«

Ich schüttle den Kopf. Womöglich wollen die dann noch bei der Untersuchung zuschauen. Nein danke.

Ich lege mich hin. »Schieb den Po bis runter zur Kante«, sagt die Schwester. Sie hebt die Decke und reißt mir die Knie auseinander. »Das wird jetzt etwas drücken«, sagt sie, aber Druck ist das nicht, das ist – Schmerz, als würde man mich aufschneiden. Ich klammere mich an die Tischkante und summe vor mich hin. Alles okay, beruhige ich mich. Das bringt dich auch nicht um.

Ein paar Augenblicke später zieht sie die Decke zurück über meine Beine und befreit mich von den Laschen. »Du kannst aufstehen.«

Auf wackligen Beinen schlinge ich mir die Decke als eine Art Schurz um die Hüften und stütze mich auf die Arbeitsfläche, den Kopf zwischen die Ellbogen geklemmt. Ein sonderbares Gefühl, diese Hilflosigkeit, und ein nicht gerade schönes obendrein.

»Abschlussfrage: Beginn der letzten Regel?« Sie pult sich die Latexhandschuhe von den Händen und wirft sie in den Müll, während ich mir eilig die Unterhose hochziehe. Ich bin schwer versucht, ihr irgendwas aufzutischen, weil es sie null Komma null angeht, doch ich kann diese Untersuchungen ebenso wenig einschätzen wie die Konsequenzen, die sie aus den Ergebnissen ziehen wollen. Und so sage ich die Wahrheit. »Vor neun Tagen.« Ich schlüpfe wieder in Hose und Stiefel.

Sie nickt. »Und wie viele Blutungstage?«

»Sechs«, sage ich.

Sie notiert sich die Daten auf einem Uraltpad und öffnet die Tür. »Geh zu Zimmer 28. Den Flur runter, erste links und dann die vierte Tür rechts.« Gähnend stellt sie ihr kaum mehr vorhandenes Gebiss zur Schau. »Brauchst du ein Tuch fürs Blut?«

»Ach, lass mich doch in Ruhe.« Damit schlage ich die Labortür hinter mir zu und mache, dass ich davonkomme. Als ich nach links abbiege, renne ich beinahe in Maks rein. Er schaut auf mich herab, die Arme vor der Brust verschränkt, um mit seinen Muskeln anzugeben. »Fertig mit der Untersuchung?«

Ich werde rot. »Ja.«

Er lächelt mit zusammengepressten Lippen und schiebt mir eine lose Strähne hinters Ohr. Ich zucke zusammen und hasse mich dann selbst dafür, wie leicht ich mich von ihm in die Enge treiben lasse.

»Also, dann hast du den schlimmsten Teil schon hinter dir. Bravo fürs Durchhalten.« Ist das jetzt Sarkasmus oder nicht? Er streichelt mein Kinn, lächelt und marschiert davon. In seinem Hosenbund steckt eine Pistole.

Und wir haben unsere Waffen abgegeben.

Ich spähe durch das runde Fenster von Zimmer 28. Drinnen stehen Schreibtische und dahinter Silas, Dorian und Song. Ich husche hinein und alles dreht sich zu mir. »Was macht ihr hier?«, frage ich.

»Irgendeine schriftliche Prüfung«, sagt Silas.

»Immerhin besser als noch eine Untersuchung«, meint Dorian gleichmütig.

»Ich hab Angst, dass wir abgehört werden«, sagt Silas.

Song steht auf und untersucht die Wände, Sockelleisten und jeden einzelnen Schreibtisch. »Schwer zu sagen.«

»Geht’s dir gut?«, fragt Silas.

Ich knete meine Hände. »Alles klar.«

»Hast du überall mitgespielt?«, fragt Silas.

»Ja. Bis aufs Tablettenschlucken.« Ich klopfe mir auf die Tasche und blicke zu Boden.

»Egal, wie war’s bei euch?«

Silas, Dorian und Song wechseln Blicke. »Ich weiß nicht, was die hier so treiben, aber mit dem Hain hat das nicht viel zu tun«, sagt Silas. Song sucht immer noch unter jedem Stuhl und fummelt an den Steckdosen und der Oxybox herum. »Die wollen Proben von uns«, fährt Silas fort. Mir klappt die Kinnlade runter. Er braucht gar nicht weiter ins Detail zu gehen: Was für Proben das sein sollen, kann man sich angesichts meiner Untersuchung mühelos denken.

»Wie sollen wir das anstellen?«, meint Song. »So auf Befehl.«

»Ich hab’s gemacht«, gibt Dorian unumwunden zu.

»Was?«, sagt Silas.

»Wir haben gesagt, wir kooperieren, also habe ich kooperiert.« Er reibt sich die Nase.

»Kooperiert?« Silas beißt die Zähne zusammen, versucht mühsam, nicht in die Luft zu gehen. Er kratzt sich heftig am Kopf.

»Wo sollen wir hin, wenn die uns rausschmeißen? Petra hat erst mal jeden für ein paar Wochen in die Zelle geworfen. Ist das hier so groß anders?«, sagt Dorian.

»Die Krankenschwester hat mich ziemlich gründlich untersucht«, murmle ich. Dabei kann ich keinem der Jungen ins Auge sehen.

»Oh, Alina«, stöhnt Silas.

»Das muss für irgendwelche Gentests sein«, sage ich.

Song schüttelt den Kopf. »Die genetische Information bekommt man aus Blutproben und davon haben sie mehr als genug.«

»Was wollen die dann damit?«, frage ich.

Song atmet tief durch die Nase ein. »Ich glaube… ich glaube, die wollen rausfinden, wie fruchtbar wir sind.«

Sarah Crossan - Breathe Band 2 - Flucht nach Sequoia
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