ALINA
Maks will und will nicht einschlafen. Er liegt im Bett, ich auf dem Boden. Jedes Mal, wenn ich die Augen aufmache, erwische ich ihn beim Spannen. Und wenn er merkt, dass ich nicht schlafe, lächelt er. Manchmal zwinkert er auch, aber ansonsten ist es nur das kühle Lächeln, als wisse er genau, was ich vorhabe. »Komm doch einfach rein«, sagt er irgendwann und lüpft die Decke, um seinen breiten, tätowierten Oberkörper und einen schwachen Moschusduft freizulegen.
»Nein danke.« Ich schließe die Augen.
Es ist fast Mitternacht, die anderen warten sicher schon. Trotzdem verordne ich mir Entspannung, bis sein Atmen sich endlich verlangsamt, auch wenn es sich wie Stunden anfühlt. Er schnarcht lautstark. Ich setze mich hin und krieche zum Bett, um ihn genauer zu betrachten. Seine Augen stehen halb offen, doch er schläft tief und fest.
Seine Hose hängt an der Tür. Ich fahre mit der Hand in die eine, dann in die andere Tasche, um die Schlüssel zu finden. Fehlanzeige. Ich fummle in einer der hinteren Taschen herum und spüre kaltes Metall an meinen Fingern. So vorsichtig wie möglich ziehe ich den Schlüsselbund aus seiner Hose. Maks sabbert im Schlaf. Jetzt könnte ich mit ihm machen, was ich will. So mauloffen schnarchend ist er kein ganz so harter Kerl mehr. Aber ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich muss hier raus.
Wahllos schiebe ich einen der Schlüssel ins Schloss. War wohl nichts. Der nächste passt, will sich jedoch nicht bewegen. Und weiter und weiter, bis nach neun oder zehn Versuchen endlich einer passt und sich auch drehen lässt. Mit einem lauten Ächzen geht die Tür auf. Ich sperre Maks von der anderen Seite ein, tripple auf Zehenspitzen den Flur entlang und eile zur verborgenen Tür hinter dem Gemälde.
Dort warten sie schon: Silas, Song, Abel und Quinn, alle beladen mit mehreren Sauerstoffflaschen und kleinen Taschen. »Wo warst du?«, flüstert Silas.
»Maks wollte einfach nicht einpennen.«
»Die Schlüssel?«, fragt Abel. Ich reiche sie ihm und er windet die Finger darum, als hätte ich ihm gerade einen Goldpokal kredenzt.
»Wo steckt Dorian?«
»Er scheint lieber bleiben zu wollen«, meint Silas gelassen.
»Das würde er nicht tun. Ich sehe nach ihm.«
»Dafür haben wir keine Zeit.« Silas packt mich beim Arm. »Und er hat seine Wahl offensichtlich getroffen.«
»Er hat uns selbst gesagt, dass er nicht als Ausgestoßener leben möchte«, meint Song.
»Wir können nicht ohne ihn gehen«, sage ich. Wir sind gemeinsam gekommen und so sollten wir auch gehen. Außerdem werden wir keine Ausgestoßenen sein, wenn wir das Ministerium stürzen.
Aus einem der Zimmer über uns hallt eine Stimme. »Leise«, mahnt Abel. Er schiebt das Gemälde beiseite. »Na los!« Die Stimmen über uns werden lauter, begleitet von Schritten. Wenn wir hier noch länger rumstehen und diskutieren, erwischen sie uns und dann kommt keiner mehr raus.
»Ich werde zurückkommen und ihn holen«, sage ich. Und das meine ich auch. Ich rette hier nicht Maude und Bruce, nur um Dorian hierzulassen. Er war von Anfang an bei den Rebellen dabei und ich kenne ihn einfach schon zu lange. Ich weiß, dass er sich nicht über Nacht geändert hat.
»Komm schon«, sagt Silas.
Abel schleust uns am Bild vorbei und schiebt es wieder zurück. Wir gehen vorsichtig die Treppe hinunter, um nicht auszurutschen und übereinanderzupurzeln.
»Ich geh vor. Ich hab das Allerheiligste jetzt schon ein paar Tage ausgekundschaftet und kenn den ungefähren Aufbau«, meint Abel.
»Und der Plan?«, fragt Silas.
»Wir gehen rein, machen so viele Stifter und Kinder los wie möglich und verpissen uns auf schnellstem Wege«, sagt Quinn. Dankenswerterweise erwähnt er weder die Kuppel noch Bea.
Eins nach dem anderen.
Abel schließt die Tür zum Allerheiligsten auf, doch gerade als wir hineinschleichen wollen, ertönt ein Schrei. Verdammt. Wir haben keine Waffen; eine Krankenschwester oder gar mehrere niederzuringen war nicht Teil des Plans.
»Kommando zurück«, flüstert Silas. Wir springen von der Tür weg. Das Licht wird von einem Schatten verstellt.
»Vanya?« Die Stimme klingt angespannt, und kaum wird das Licht schwächer, stürzt sich Silas aus der Dunkelheit auf die Schwester. Wir springen noch obendrauf. Die Schwester schlägt um sich, windet sich in ihrer weißen Uniform auf dem Fliesenboden und kreischt wie am Spieß. Ich zerre ein T-Shirt aus meiner Tasche und stopfe es ihr in den Mund. Abel hält ihre Arme fest und Quinn und Song hindern sie am Treten.
Silas steht auf und stupst sie mit dem Fuß in die Seite. »Fesselt sie«, sagt er. Als sie nicht aufhört zu zappeln, kramt er ebenfalls ein T-Shirt aus seinem Rucksack und reißt es in Streifen. Rasch knote ich die Fetzen zusammen und verwende sie, um der Schwester Hände und Füße zu fixieren.
»Ein paar von uns sollten jetzt die Stifter befreien, während einer sie bewacht«, sagt Abel. »Die Schwestern kommen hier nur rein, wenn sich der Sauerstoffgehalt ändert, also bleiben uns um die zwanzig Minuten.«
Silas denkt kurz nach. »Wo lagern die ihre Luft?«, fragt er. Ohne anständigen Vorrat kommen wir nirgendwohin.
»Am Ende des Flurs ist das Zimmer, wo sie die Sauerstoffflaschen an die Stifter verteilen, wenn die laufen oder bergsteigen müssen. Sieh mal in den Schränken nach. Hier, fang!« Abel wirft Silas den Schlüsselbund zu, während Silas der Krankenschwester die Pistole aus dem Gürtel zieht und sie Abel zuwirft.
Und schon laufen Song, Abel und ich über den Flur, während Silas und Quinn sich um die Schwester kümmern.
Bis auf einen schmalen Streifen Mondlicht ist es im Zimmer völlig dunkel. Abel zückt eine Taschenlampe, um alles abzuleuchten. Es ist die Station von gestern Abend mit den gegenüberstehenden Bettreihen und den festgeschnallten Leuten. Die Apparate neben den Betten zischen und piepsen.
»Da drüben«, sagt Abel und richtet den Lichtkegel in die Ecke ganz hinten. »Jo!« Er geht zu ihr, rüttelt sie wach und macht ihre Hand-und Fußgelenke los. Nachdem er ihr die Schläuche aus Mund und Nase gezogen hat, fällt sein Blick auf die Infusionsnadel in ihrem Handrücken.
»Die kann ich ihr ziehen«, sage ich und schiebe ihn beiseite. Nicht, dass ich so was schon mal gemacht hätte, aber Abels Skrupel haben noch nie Gutes verhießen. Ich drücke auf die Nadel und ziehe sie aus der Hand. Jo quietscht auf. Röchelnd deutet sie auf ihren Mund und Abel legt ihr seine eigene Maske darüber, um ihr das Atmen zu erleichtern.
»Ihr seid gekommen«, sagt sie und schiebt die Maske beiseite. Das Baby ist noch in ihrem Bauch, sie haben an einer Schwangeren rumexperimentiert.
Gerade will ich den Stifter im nächsten Bett losmachen, als Maudes Stimme ertönt. »Ihr habt euch ja schön Zeit gelassen. Mein Arsch is schon völlig wund. Mach mich los, aber zackig!«
Sie wirft das Flügelhemd ab und entblößt ihren ausgemergelten Leib. »Wo sind deine Klamotten?«, frage ich. Sie deutet auf einen Mülleimer in der Ecke, der vor Lumpen überquillt. Ich helfe ihr auf, ziehe Schläuche und Nadeln, worauf sie zum Eimer rüberhumpelt und sich ein Outfit zusammenstellt. Binnen Minuten stehen weitere Stifter neben ihr und tun es ihr nach.
Ich gehe von Bett zu Bett, befreie dürre Hand-und Fußgelenke und ziehe Schläuche. »Schneller!«, drängt Abel.
Silas kommt mit einem plärrenden Baby reingeprescht und Abel stöhnt. »Die soll die Klappe halten!« Wenn die Situation nicht so ernst wäre, wäre seine Verkrampftheit schon komisch.
»Halt du deine Klappe!«, faucht Maude und verpasst Abel eine Ohrfeige. Abel befühlt seine Wange, als sei sie eine heiße Herdplatte.
»So viele sind’s insgesamt gar nicht«, meint Silas.
»Habt ihr die Sauerstoffflaschen gefunden?«
»Das hat Quinn übernommen«, sagt er.
Abel kratzt sich die Augenbraue, während das Baby einfach weiterflennt. Das Geschrei ersetzt jede Alarmanlage. Silas versucht, der Kleinen den Mund zuzuhalten.
Jo sitzt auf der Kante eines Betts nahe der Tür und reibt sich den Bauch. Sie streckt die Arme aus und Silas reicht ihr das Baby. Bei ihrem Anblick überrollt mich die Hoffnungslosigkeit unser Situation. Wie sollen wir uns um die Kinder kümmern? Wie soll Jo sich mit ihrem Riesenbauch unter der Mauer durchzwängen, wer soll ihr Baby entbinden, wenn es so weit ist? Wir sind keine Ärzte. Wir sind ja noch nicht mal richtige Erwachsene. Jo wiegt das Kind, den Blick auf Abel gerichtet. Es fühlt sich schon an wie eine Niederlage, obwohl wir noch nicht mal richtig auf der Flucht sind.
»Zeig mir das Kinderzimmer«, fordert Maude Silas auf und da fällt mir ein, dass sie eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht hat. Sollte ausgerechnet Maude unsere letzte Hoffnung sein, nach allem, was ich schon über sie gedacht habe? »Ihr anderen macht den Rest hier los«, befiehlt sie und die beiden gehen.
So schnell wie möglich befreien wir die übrigen Stifter. Die meisten stehen auf und ziehen sich an, doch ein paar wollen sich einfach nicht rühren und verdrehen die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen ist. Und uns fehlt die Zeit, sie zum Mitkommen zu überreden.
»Helft uns«, sagt Silas, der mit zwei schlafenden Kindern im Arm ins Zimmer geschossen kommt. Bruce nimmt ihm eines ab. Der Rest von uns macht sich auf ins Kinderzimmer, wo sich jeder eines der Kleinen schnappt. Im Flur wartet bereits Abel mit einer ganzen Kinderschar im Alter von vier bis acht. Alle machen große Augen. »Wir retten euch, okay?«, sage ich möglichst milde. Sie nicken, wirken aber immer noch ängstlich.
Kurz darauf sind wir wieder bei der diensthabenden Schwester, die einen Fluchtversuch gestartet hat. Einige der Stifter verpassen ihr noch einen Tritt, bevor sie sich eins der Atemgeräte schnappen, die Quinn auf dem Boden ausgebreitet hat. Bruce hat das Kleinkind abgesetzt und jetzt einen Stapel Bettlaken in der Hand. Er wirft sie neben die Sauerstoffflaschen. Dann faltet er seines und zeigt uns, wie man eine Schlinge macht. »So trägt man Babys«, sagt er.
Maude übernimmt als Einzige kein Kind, sondern schafft Milchpulver, Löffel und Schalen herbei. Beim Rennen rasselt ihr Atem und plötzlich überschwemmt mich eine ganz sonderbare Zuneigung für die Alte.
Mit der Hüfte stoße ich die Haupttür auf, ein Kleinkind in der Schlinge vor meinem Bauch. Da tritt Dorian aus der Dunkelheit.
»Du Verräter«, sagt Silas und verpasst ihm eine mit der Faust. Bis auf den dumpfen Aufschlag, mit dem Dorian zu Boden geht, bleibt es still – sämtliche Kinder und Stifter schauen fasziniert zu.
»Hör auf«, zischt Song.
»Ich wollte euch nur warnen«, krächzt Dorian. Er rappelt sich mühsam auf und stützt sich auf Quinn.
»Die kommen uns nach, oder?«, rät Abel.
»Ich hab vor meinem Zimmer einen Aufruhr gehört. Maks hat die Miliz zusammengetrommelt, aber die scheinen nicht zu ahnen, dass ihr hierhergekommen seid.«
»Du warst nicht beim verabredeten Treffpunkt«, sage ich.
»Juno ist ewig nicht eingeschlafen«, meint er. Keine Ahnung, ob ich ihm das abnehmen soll. Aber jetzt ist er da.
»Schaffen wir es noch rechtzeitig raus?«, fragt Song in die Runde.
Ich schaue zu den Stiftern, die wir befreit haben. Sie tragen Atemmasken und haben erschreckende Ähnlichkeit mit einer Zombiearmee. »Die werden erwarten, dass wir das vordere Tor benutzen wie alle anderen auch«, sagt Abel. »Die hintere Mauer haben die gar nicht auf dem Schirm.«
Und das ist unser Signal.
Ich gehe als Letzte, geleite alle Stifter zur Mauer, die Sequoia von der Außenwelt trennt. Das Baby in meinen Armen gluckst vor sich hin, legt den Kopf in den Nacken und guckt zu den Sternen empor. Zum Glück weint keines der Kinder.
Wir erreichen die Mauer und drücken uns an ihr entlang. Stück für Stück geht es voran, stehen bleiben und aufrücken, da einer nach dem anderen durch den Tunnel robbt. Schließlich warten nur noch Silas und ich diesseits der Mauer vor dem Loch. Er nimmt mir die Kleine ab, legt sie bäuchlings in die Mulde und lässt sie von wem auch immer auf der anderen Seite durchziehen. »Ist das eigentlich komplett irre, was wir hier veranstalten?«, frage ich Silas. Sein starres Gesicht spricht Bände, doch bevor er antworten kann, springen die Flutlichter an und eine Sirene ertönt. Der Boden erbebt unter der Wucht der marschierenden Miliz. Silas stößt mich auf die Knie und ich quetsche mich unter der Mauer durch nach draußen.
»Beeil dich!«, rufe ich und suche in einer kleinen Vertiefung nach Crabs Sauerstoffflasche. Da fällt mein Blick auf die schwächlichen Gestalten der Kinder und Stifter, die wir da in die Einöde geschickt haben, und ich muss mich unwillkürlich fragen, wann uns der Sauerstoff ausgeht – oder wann wir geschnappt werden.