BEA
Manchmal wünschte ich, ich würde an Gott glauben wie die Leute vor dem Switch. Die Gewissheit, Teil eines großen Plans zu sein und darauf zu vertrauen, dass es mit den Menschen nach ihrem Tod erst richtig losgeht, das muss wirklich tröstlich gewesen sein. Aber selbst wenn meine Eltern jetzt an einem besseren Ort sein sollten, könnte auch Gott die Uhr nicht einfach zurückdrehen. Und genau das möchte ich. Die Möglichkeit, meine Eltern zu umarmen, ihren Geruch einsaugen zu dürfen.
Meine Sehnsucht nach Quinn habe ich mal für das gehalten, was gemeinhin als gebrochenes Herz bezeichnet wird. Ich hatte ja keine Ahnung. Jetzt frisst es mich von innen auf.
Quinn, Jazz und ich folgen einer alten, unter Schneematsch und Eisklumpen begrabenen Eisenbahntrasse, die vom Hain in die Innenstadt führt. Von dort aus wollen wir dem Fluss westwärts folgen. Ich habe die alte Landkarte, die Gideon mir kurz vor meiner Flucht aus der Kuppel zugesteckt hat, und Jazz hat auf einen Punkt gedeutet, den sie für Sequoia hält. Wir müssen ihr glauben, uns bleibt keine andere Wahl.
Quinn legt einen Arm um meine Schultern und drückt mich. »Vielleicht sollten wir mal eine Pause einlegen«, sagt er. Er muss mein Keuchen hinter der Atemmaske gehört haben, aber hier ist kein guter Ort zum Rasten. Die Temperatur sinkt so schnell wie die Sonne, es wird Zeit für einen Unterschlupf, doch die umliegenden Gebäude sehen unter ihrer Graffitischicht extrem einsturzgefährdet aus. Ich schüttle den Kopf und ungefragt schraubt er an meinem Ventil, um die Sauerstoffzufuhr durch die Maske zu erhöhen.
Es ist völlig offen, wie lange wir nach Sequoia brauchen werden. Kaum kehrt Quinn mir den Rücken zu, fahre ich auf fünfzehn Prozent zurück.
»Ein Tunnel«, sagt Jazz und deutet auf eine Unterführung, ein paar Hundert Meter weiter vorn. Und weg hüpft sie, der Schneematsch spritzt in alle Richtungen.
»Pass bloß auf!«, rufe ich ihr nach. Ich ziehe die Karte aus meiner Manteltasche und entfalte sie zum gefühlten hundertsten Mal. »Nach dem Tunnel sollte ein Bahnhof kommen. St. Pancras«, erkläre ich Quinn. Der nutzt den unbeobachteten Moment für eine Umarmung. Unwillkürlich mache ich mich ganz steif.
Er weicht einen Schritt zurück. »Alles okay?«
»Ich wünschte, wir hätten mehr Überlebende gefunden«, weiche ich aus. Ich will ihn nicht beunruhigen und die Asche meiner Trauer könnte er doch nicht wegfegen, egal was er tut.
»Wir schaffen das«, sagt er. Ich nicke, ziehe mir Old Watsons Kappe tief in die Stirn und lächle dürr.
»Hört auf zu knutschen und macht hin!«, ruft Jazz, uns bereits weit voraus. Sie zieht sich die Atemmaske übers Kinn. Sie braucht sie nur hin und wieder, da sie im Hain aufgewachsen ist und ihr ganzes Leben damit verbracht hat, ihren Körper an niedrigen Sauerstoffgehalt zu gewöhnen. Wie ein Kreisel wirbelt sie herum und reckt den offenen Mund himmelwärts. Ihre roten Korkenzieherlocken glühen vor dem verschneiten Hintergrund wie Flammen. Kaum zu fassen, dass wir sie als einzige Überlebende aus dem Schuttberg gezogen haben, der einmal ihr Zuhause war.
Quinn fasst mich beim Handgelenk und zwingt mich, ihm ins Gesicht zu schauen. »Wir sind da bei lebendigem Leib rausgekommen und haben uns gefunden, obwohl nichts unwahrscheinlicher war.«
»Ich wünsch mir einfach nur…« Ich denke an die leblosen Körper meiner Eltern, an die Blutlache auf der Bühne, als die Krawalle ausbrachen. Ich war alles, was sie hatten, und jeder einzelne Tag ihres Lebens bestand aus Plackerei, nur um die Sauerstoffsteuer abdrücken und mich atmen lassen zu können. Gott sei Dank habe ich Quinn… aber meine Eltern möchte ich auch.
»Glaubst du, Maude hat’s überlebt?«, frage ich.
»Die alte Spinnerin? Na klar. Hat Jazz ja gemeint, oder?«
Ich will gerade einwenden, dass Jazz gar nicht beurteilen kann, wer jetzt genau davongekommen ist und wer nicht, als ein schriller Schrei erschallt, gefolgt von einem Aufschlag.
Wir fahren herum. »Jazz?«
Sie ist verschwunden.
Ein Wimpernschlag und Quinn rennt los, ich weit abgeschlagen hinterher. Dann bleibt er stehen, blickt verzweifelt um sich und brüllt nach Jazz. »Hier war sie, genau hier«, sagt er, als ich ihn einhole.
Stille.
Im Zickzack wandern wir die Schienen ab und halten erst vor einem mit alten Plastikresten gespickten Stacheldrahtzaun wieder an, hinter dem alte Bahnwaggons vor sich hin rosten. Vorsichtig nähern wir uns dem Tunnel, rufen Jazz’ Namen in die Dämmerung. Nach all dem Horror der letzten Zeit müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen.
Ich zupfe mir ein rotes Haar vom Mantel und lasse es zu Boden schweben. »Komm, wir teilen uns auf. Dann finden wir sie schneller.«
»Damit wir uns dann verlieren? Vergiss es.« Er nimmt mich bei der Hand und wir spähen in den Tunnel, ohne ihn zu betreten. Das Licht am Ende ist kaum mehr als ein grauer Halbkreis.
»Hast du eine Taschenlampe?«, flüstere ich, damit es nicht hallt.
»Gar nichts hab ich.« Er seufzt und ich berühre mit meinem Handschuh sein Haar.
»Du hast mich. Und zusammen finden wir auch Jazz wieder.« Ich blicke noch mal in den Tunnel. »Aber da drinnen ist sie auf keinen Fall. So weit vorne war sie nicht. Gehen wir zurück.«
Er hält sich einen Finger ans Ohr. »Was war das?«, fragt er. Doch obwohl ich ganz leise bin, höre ich nichts bis auf meinen Atem und das schwache Gurgeln der Atemgeräte.
Quinn macht kehrt und sprintet die Schienen entlang.
»Pass bloß auf!« Ich laufe ihm hinterher. Quinn stolpert und breitet die Arme weit aus, um nicht hinzufallen. Als ich bei ihm ankomme, sehe ich, wo er beinahe hineingestürzt wäre. Ein Loch.
Ein Kanalschacht, halb bedeckt mit einer schweren Metallscheibe. Quinn packt die eine, ich die andere Seite. Auf drei wuchten wir den Gullydeckel aus dem Weg und lassen ihn scheppernd zu Boden fallen. Und da ist sie, ein paar Meter weiter unten. »Wie lang soll ich hier denn noch brüllen?«, stöhnt Jazz.
»Wir konnten dich nicht hören. Aber jetzt sind wir ja da«, beruhige ich sie. Ich schwinge die Beine in den Schacht.
»Soll das ein Scherz sein?« Quinn zerrt mich zurück.
»Da kann man locker runterspringen«, stelle ich klar. Er schnaubt nur. Ich schüttle ihn ab und schäme mich ein bisschen für meinen eisigen Blick. Er will ja nur nicht, dass mir was passiert.
»Ich springe«, verkündet er. Er setzt sich an den Rand und lässt sich dann ganz vorsichtig hinuntergleiten, um nicht noch auf Jazz zu landen. Dann richtet er ihr die Maske, damit sie besser atmen kann. »Ich heb sie hoch und du ziehst.«
Jazz’ geschundenes Gesicht erscheint in der Öffnung. Ich setze mich in den Schnee, packe sie unter den Achselhöhlen und lehne mich zurück, um sie mit meinem ganzen Gewicht nach draußen zu hieven. Dabei wimmert sie pausenlos.
»Jetzt mich«, ruft Quinn. Ich streichle Jazz über die Stirn, bette sie auf dem gefrorenen Boden und beuge mich über das Loch. Quinn reckt mir die Arme entgegen. Doch sosehr ich mich auch ins Zeug lege, er ist ein ganz anderes Kaliber als Jazz und einfach viel zu schwer für mich.
Hinter meinen Schläfen beginnt es zu pochen. »Ich schaff’s nicht.« Ich breche neben dem Loch zusammen. Wie ich solche Eingeständnisse hasse, selbst wenn es nur Quinn gegenüber ist. »Wir müssen irgendwas für dich zum Draufstellen finden.« Schwach mag ich sein, aber wenigstens nicht blöd.
Ich haste zu dem Zugwrack zu meiner Rechten. Als ich reinklettere, gibt der Boden unter mir nach. Ich halte mich an einem rostigen, an der Wand montierten Feuerlöscher fest und krieche tiefer hinein. Die meisten Sitze sind schon rausgerissen oder aufgefetzt, die grünliche Schaumfüllung über den Boden verteilt. Nur zwei Sitze sind unversehrt. Ich schließe die Augen, doch keine Chance: Die verblichenen Knochen habe ich schon gesehen, die Überreste eines kleinen und eines bedeutend größeren Menschen. Und daneben auf dem Boden liegen zwei Schädel. Ein großer, ein kleiner. Und ein Messer.
Wahrscheinlich haben sie sich selbst das Leben genommen. Ein Schnitt in den Hals, mehr braucht es nicht. Aus dem Geschichtsunterricht weiß ich, dass die Leute während des Switchs weitaus Schlimmeres getan haben in ihrem verzweifelten Hunger nach Sauerstoff und Nahrung obendrein. Aber wer waren sie? Ein Kind mit seiner Mutter, seinem Vater? Keiner wird’s je erfahren. Zwei Leben, einfach so aus der Geschichte getilgt, als hätten sie null Bedeutung, wie so viele vor und nach ihnen.
Quinn ruft nach mir. Konzentrier dich, Bea!
Ich schnappe mir einen schimmligen, demolierten Sitz und schleife ihn aus dem Zug.
Gewaltsam stopfe ich ihn in den Schacht, wo er dumpf aufschlägt. Quinn dreht ihn auf die Seite und verwendet ihn als Trittbrett. Nach zwei Anläufen bringt er Kinn und Ellbogen über den Rand, um endlich rauszurobben. Keuchend liegt er am Boden. »Höchste Zeit für Liegestütze«, meint er und ich muss trotz allem lächeln.
Doch neben uns ist Jazz’ Wimmern in ein Schluchzen übergegangen.
Ihre Cordhose ist über dem Knie aufgerissen. »Du musst leise sein, Jazz«, flehe ich. Wir haben einfach keinen Schimmer, wer oder was sich hier im Dunkeln verbirgt. Möglich, dass es hier vor Ausgestoßenen nur so wimmelt. Vielleicht sucht mich auch schon die Armee.
Ich ziehe Jazz’ Hose zur Seite und wende mich dann hastig ab, um meinen Mageninhalt unten zu behalten. Das ist nicht einfach nur Blut, das ist ein tiefer, schartiger Schnitt, den ganzen Unterschenkel hoch. Sogar ein Stück Knochen schaut raus.
Plötzlich steht Quinn neben mir und starrt entsetzt auf die Wunde. Ich wickle mir meinen Schal ab und binde ihn eng um Jazz’ Bein. Sie beißt sich in die Faust. »Das tut weh… so schrecklich weh.«
»Was sollen wir jetzt machen?«, frage ich.
»Wir bringen sie in den Bahnhof und dann…« Der Rest bleibt in der Luft hängen. »Schaffst du’s, sie zu tragen?«
»Muss ich wohl.«
»Nicht anhalten, auch wenn sie schreit«, sagt er.
»Ich schreie nicht«, erklärt Jazz unter Tränen. Doch sie schreit. Und schreit und schreit und schreit und schreit.
Bis wir Jazz schließlich durch den pechschwarzen Tunnel in den Bahnhof St. Pancras geschleppt haben, ist sie bewusstlos. Ich halte mich selbst kaum noch auf den Beinen. Bei so einer Beanspruchung reicht unser Sauerstoff niemals bis nach Sequoia.
Wir legen Jazz unter einer Marmoruhr ab und kauern uns neben sie. Sie rührt sich nicht. Ich schiebe meine Hand unter ihre Jacke und beruhige mich etwas, als ich ihren Herzschlag spüre.
»Das ist übel«, sagt Quinn. Ich kriege vor Schnaufen kein Wort raus und komme erst langsam wieder zu Atem, den Blick auf die Glaskuppeldecke des Bahnhofs gerichtet. Der Nachthimmel hängt voller Sterne. Wunderschön sieht das aus
Quinn lehnt sich zu mir rüber. »Wir werden das schaffen, hörst du?«, sagt er. Er versucht, gute Stimmung zu machen, aber was bleibt uns jetzt noch für ein Ausweg? Jazz’ Bein wird sich entzünden. Und dann? Lassen wir sie hier verfaulen und ziehen einfach weiter?
»Erst stirbt sie und dann sterben wir«, sage ich.
Er schüttelt mich. »Was redest du für einen Quatsch zusammen?«
Ich schubse ihn fort. »Falls es dir bisher entgangen sein sollte, Quinn, wir alle müssen sterben.«
»Wir leben.« Er schiebt erst seine, dann meine Atemmaske beiseite, um mir rasch einen Kuss auf den Mund zu drücken. Vor ein paar Wochen noch habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht als die Gewissheit, von Quinn geliebt zu werden. Unser erster Kuss war wie ein Lebenselixier – aber heute geben mir seine Lippen nichts. »Du musst stark sein«, ermahnt er mich und schiebt die Masken wieder zurück.
Und recht hat er. Mom und Dad würden nicht wollen, dass wir uns hängen lassen. Sie würden wollen, dass ich kämpfe, genau wie sie es am Schluss getan haben. Und wenn wir dabei draufgehen.