ALINA
Ein energisches Klopfen an der Hüttentür reißt mich aus dem Schlaf. Ich rolle aus dem Stockbett und mache auf.
»Schön geschlafen?«, fragt Maks. Er blickt zu meinen bloßen Füßen und lässt seine Augen dann ganz ungeniert über meinen Körper gleiten. Jedem anderen würde ich dafür eine knallen. Aber Maks ist ein Riese. Und wir sind nur Gäste.
»Danke, gut.« Ich verschränke die Arme vor der Brust und glotze einfach zurück.
Er späht über mich hinweg zu den anderen. »Vanya hat Frühstück geordert. Sie will, dass ihr mitesst. Eure komischen Greise müsst ihr nicht anschleppen. Weißt du noch den Weg zu ihrer Suite?«
»Ja«, sage ich, obwohl meine Erinnerung an gestern völlig vernebelt ist. Maks grinst und verzieht sich und ich drücke rasch die Tür zu, um die Kälte draußen zu halten, unentschlossen, ob das jetzt ein Flirt sein sollte oder reine Verarsche.
»Was für ein Schwachkopf.« Silas setzt sich im Bett auf und räkelt sich.
Bald sind alle auf den Beinen. Dorian und Song verbringen je ein paar Minuten an der Oxybox, während Silas und ich unsere Atemgeräte runterregeln.
»Passt denen unsere Nase nich?«, beschwert sich Maude. »Wenn ihr zurückkommt, schmor’n wir schon im Kochtopf, das sag ich euch. Mag hier wer keinen Fußpilz?«
»Wahrscheinlich vertrauen sie Ausgestoßenen einfach nicht«, sage ich. »Gestern hat sie ja auch in die Richtung gemotzt. Aber ihr gehört zu uns und das werden wir denen schon klarmachen. Keine Sorge.« Maude schaut mich durchdringend an. Bea war diejenige, die sie gerettet und der sie vertraut hat. Aber würde sie mich kennen, wüsste sie, dass sie mir genauso vertrauen kann, weil wir jetzt auf derselben Seite sind und ich Kameraden niemals verrate.
Wir folgen dem Kiesweg von der Hütte zum Hauptgebäude. Ein Wachposten spricht in ein Funkgerät und winkt uns dann durch. Kaum sind wir drinnen, übergeben wir Silas das Ruder und lassen uns die dunklen Flure und Stufen hinaufführen, bis er stehen bleibt und den Finger ausstreckt. »Das war die Tür, ziemlich sicher«, sagt er und will noch etwas hinzufügen, als ein gedämpfter Schrei uns erstarren lässt.
Mir sträuben sich alle Haare. »Was war das?«, frage ich.
»Weiter oben«, flüstert Song.
»Psst, lasst mal horchen.« Ich hoffe, dass jetzt ein Lachen folgen wird oder noch besser gar nichts. Aber noch ein Schrei ertönt – lauter und länger.
»Wir müssen rausfinden, woher das kommt«, flüstert Silas.
»Wir können hier doch nicht einfach so herumschnüffeln«, zischt Dorian.
»Sollen wir lieber weghören?« Silas tritt auf ihn zu.
Ich lege beiden eine Hand auf den Arm. Wir dürfen uns jetzt nicht selbst zerfleischen. »Es muss nichts bedeuten«, sage ich zu Silas. »Aber wir sollten trotzdem nachsehen, nur zur Sicherheit«, ergänze ich an Dorian gerichtet.
Beide nicken und wir folgen den Schreien weiter treppauf. Oben drücke ich vorsichtig ein paar Türklinken, bis eine schließlich nachgibt. Dahinter folgt eine weitere schmale Treppe. »Ich schieb hier unten Wache«, erklärt Dorian.
Ganz oben betreten wir einen Gang mit spitz zulaufender Decke, finster bis auf einen schmalen Lichtstreifen am Ende. Auf Zehenspitzen gehen wir darauf zu, als wieder ein Schrei erschallt. Vor der Tür zögern wir.
»Wollen wir das wirklich wissen?«, flüstert Song. Natürlich will ich es nicht wissen. Ich will, dass Sequoia unsere Zuflucht ist. Unser Zuhause. Trotzdem drücke ich die Klinke langsam nach unten.
Ein kehliger Klagelaut nimmt uns in Empfang. Und ein verschwitztes Mädchen in einem weißen Hemd. Als sie uns sieht, schiebt sie sich die Haare aus dem Gesicht und beugt sich nach vorne, die Augen zusammengekniffen, als würde sie uns für Erscheinungen halten. Sie trägt eine Atemmaske und atmet hechelnd und stoßweise. Am anderen Ende des Zimmers steht ein Mann mit dem Rücken zu uns. Er hat uns nicht reinkommen hören, doch das Mädchen verrät uns nicht. Der Raum ist sauber, hell und ganz leer, bis auf das Bett und eine Arbeitsfläche an der Wand.
Das Mädchen rollt sich auf die Seite, umklammert ihren Bauch und grunzt.
»Zähl die Abstände zwischen den Wehen«, sagt der Mann unbewegt, ohne sich auch nur umzudrehen.
»Ich brauch was für die Schmerzen«, fleht sie und genau da machen wir kehrt. Ohne die Tür richtig zuzumachen, rasen wir den Flur wieder hinunter und purzeln am Fuß der Treppe fast übereinander.
»Und?«, fragt Dorian.
Silas blickt zu Boden. Er sieht aus, als würde er jeden Moment aus den Latschen kippen. Und das Mädchen kreischt weiter durch jede Wehe.
Als wir schließlich Vanyas Zimmer betreten, blickt sie auf die Uhr auf dem Kamin. »Bei uns gibt’s keine Spätaufsteher«, sagt sie heiser. Maks sitzt in einem rosa Sessel. Er hat nur Augen für mich. Ich stelle mich aufrechter hin.
»Wir haben uns verirrt«, sagt Silas.
»Nun, jetzt seid ihr ja hier.« Vanya weist auf einen Tisch, auf dem sich das Essen türmt, wir setzen uns hin und greifen zu. Die Auswahl ist nicht so groß wie im Hain – kein Brot, kein Obst –, aber es gibt jede Menge synthetischer Gerichte und verschiedene Sorten gekochter Kartoffeln. Ich schiebe mir ein Häufchen von etwas in den Mund, das wie versengte Zweige und Baumrinde aussieht. Salzig und ziemlich knusprig.
»Schmeckt’s?«, grinst Vanya. »Unser ganzer Stolz.«
»Reines Eiweiß«, fügt Maks hinzu.
»Erst sind nur ein paar durch die Küche gewuselt und jetzt haben wir Abertausende davon«, sagt Vanya. »Wir züchten sie in der Hütte ganz nahe bei eurer. Kakerlaken.« Prompt muss ich husten und bekomme fast einen Erstickungsanfall. Noch nie habe ich ein anderes Lebewesen gegessen. Eigentlich sollte ich mich ekeln, doch ganz unwillkürlich schiebe ich das Insekt in meinem Mund herum und versuche staunend, mir das lebendige Tier vorzustellen. Hat es acht Beine? Flügel?
»Die haben überlebt?«, fragt Song. Er nimmt eine Kakerlake zwischen die Finger und kaut darauf herum.
»Wir haben überlebt«, sagt Vanya. Sie sitzt am Kopf des Tischs und Maks am anderen Ende, direkt neben mir. Seinen Fuß hält er gegen meinen gedrückt und ich bin total verkrampft. »War’s bequem in der Hütte?«, fragt Vanya. Wir nicken. »Und als ihr euch verirrt habt, sind euch vermutlich ein, zwei Dinge aufgefallen.«
»Nicht viel«, erklärt Silas. »Aber ich hoffe, wir können uns hier nützlich machen oder zumindest lernen, uns einzugliedern.«
»Du wirst eine echte Bereicherung sein, kein Zweifel«, sagt Vanya und berührt Silas’ Gesicht. Als sie sich wieder zurücklehnt, steckt sie sich einen Finger in den Mund, als könne sie ihn schmecken.
Silas steigt die Hitze ins Gesicht, aber er wehrt sich nicht gegen Vanyas Geflirte, genau wie er sich nie gegen Petras Launen und ihre Gewalttätigkeit gewehrt hat. Unterordnung ist etwas, das der Hain uns gelehrt hat.
»Warum brauchst du das?« Vanya deutet auf mein Atemgerät. Jetzt bin ich die mit dem roten Gesicht. Obwohl ich nichts dafür kann, schäme ich mich für meinen hohen Sauerstoffbedarf. Ich blicke auf meinen Teller. »Silas und ich haben in der Kuppel gelebt und Setzlinge rausgeschmuggelt. Dort pumpen sie immer noch fünfunddreißig Prozent rein, deshalb dauert die Umgewöhnung bei uns halt etwas länger.«
Vanya nippt an ihrem Wasser und beäugt mich argwöhnisch. Doch ich bin mindestens genauso misstrauisch. Wo sind die Bäume? Und warum erwähnt hier keiner das Mädchen, das genau in diesem Moment ein Kind gebiert? Ist das kein Grund zum Feiern? Ich hab das schreckliche Gefühl, dass sich hinter Sequoia mehr verbirgt, als Vanya uns sagen will. »Und bei welchem Sauerstoffanteil seid ihr jetzt?«, fragt sie.
»Zwölf«, sagt Silas.
Ich blicke auf meine Anzeige, die momentan auf vierzehn steht. »Zwölf«, sage ich.
Vanya macht ein missbilligendes Geräusch. »Dreht runter auf zehn. Wenn ihr mehr braucht, nehmt die Oxyboxen. Habt ihr die gesehen?«
»Wie funktioniert das?«, fragt Song.
»Im Hain gab es so etwas nämlich nicht«, ergänzt Dorian.
»Ich weiß genau, was ihr im Hain hattet und was nicht.« Vanya lehnt sich in ihren Stuhl zurück. »Tu nicht so, als würdest du mich nicht erkennen, Dorian, denn ich erkenne dich sehr wohl. Du warst völlig besessen von Petra, als wär sie eine Göttin oder so. Dabei hatte sie nichts im Kopf als ihre geliebten Bäume. So was von armselig.«
Zorn kocht in mir hoch. Die Baumzucht war nicht irgendein Hobby, sondern unser Schlüssel zur Freiheit – zum Überleben. Mein Protest liegt mir schon auf der Zunge, als ich Silas’ Augen auf mir spüre. Sein Kopfschütteln ist so diskret, dass man ganz genau hinsehen muss, um es zu bemerken. Also halte ich die Klappe.
Dorian legt das Messer ab und wischt sich die Hände an der Hose ab. »Wir dachten, du wärst tot, Vanya.«
»Seh ich tot aus?«, gurrt sie.
»Nein.«
»Also, dann erzählt mal: Galt am Schluss immer noch Petras Beziehungsverbot?« Silas nickt. »Gott, wie grottenlangweilig.« Sie erhebt ihr Glas und lacht. »Was soll so aus der Menschheit werden?« Ihr Grinsen mag breit sein, aber in ihrer Stimme liegt auch etwas Ernstes.
»Warum hast du den Hain verlassen?«, fragt Song.
»Schwierig. Wie bei allen Familien«, sagt sie. »Ich würde ja gerne ins Detail gehen, aber wer garantiert mir, dass ihr keine Spione seid? Vielleicht steht der Hain ja noch und meine Schwester hat euch zu mir geschickt, um meine Leute zu stehlen. Oder damit ihr mich umbringt.«
Schön wär’s, denke ich.
Silas senkt den Kopf. »Ich versichere dir, den Hain gibt es nicht mehr«, sagt er bedächtig.
»Nun, das lass ich lieber mal selbst nachprüfen. Maks, wenn du so nett wärst.«
Maks gießt sein Glas voll und wedelt es so vor unserer Nase, dass es beinahe überläuft.
»Und was machst du in der Zwischenzeit mit ihnen?«
Vanya reibt sich die Schläfen, als wäre sie auf einmal ganz schrecklich müde. Dann klappt sie ein Auge wieder auf und fährt fort. »Wir fangen erst mal mit den Eisenpräparaten an, mit Immunabwehr und den EPOs.«
»EPOs?«, fragt Song.
»Nichts, was Petra je gestattet hätte. Die erhöhen die Anzahl roter Blutkörperchen und senken euren Sauerstoffbedarf«, erklärt Vanya.
»Doping«, sagt Song.
Vanya erhebt sich und verlässt den Tisch. »Okay, dann bring sie mal in die Ambulanz für die Tests«, sagt sie, uns den Rücken zugekehrt.
»Was sind das für Untersuchungen?«, fragt Silas.
»Eingangsuntersuchungen«, sagt Maks. Sein Grinsen wirkt flach. »Alle bereit?«, fragt er im Aufstehen.
Sind wir nicht, aber das war auch keine echte Frage.