QUINN
Die Kuppel ist immer noch ein winziger Fleck am Horizont, als wir die Einschläge hören. Silbergrauer Staub steigt über der Stadt auf. In mir krampft sich alles zusammen. Wenn wir zu spät kommen, verzeihe ich mir das nie. Niemals.
»Wir müssen uns beeilen«, sage ich und Alina beschleunigt sofort ihr Tempo, springt über saitenlose Gitarren und tonnenweise anderen Schrott.
Ich wollte, ich könnte schneller laufen. Silas und Alina lassen mich regelmäßig aufholen, doch da sie immer sofort weiterhetzen, bleibt mir keine Zeit zum Verschnaufen und das ist nicht sehr hilfreich.
Nicht, dass ich mich ausruhen will. Ich muss zur Kuppel. Ich muss meinem Vater sagen, was die Stunde geschlagen hat, und ich muss zu Bea.
Je näher wir kommen, desto klarer sehen wir die Kuppel vor uns, genau wie die ihr angeschlossenen Wiederaufbereitungsanlagen. »Noch funktionieren sie«, rufe ich. Aus den Schloten der Anlagen steigen vier Rauchsäulen auf.
Alina hält an. »Was?« Sie schiebt sich die Haare mit beiden Händen aus dem Gesicht. Obwohl sie vom Rennen total durchgeschwitzt ist, sind ihre Ohren rotgefroren.
Ich keuche einfach zu heftig, um mich wiederholen zu können. So deute ich nur hin und sie nickt, um wieder Silas hinterherzuhechten. Doch kaum hat sie ihn eingeholt, bleiben sie beide stehen und blicken himmelwärts. Die Luft vibriert. Das darf doch nicht wahr sein. Ist es aber.
Am Himmel erscheint eine Zip mit ausgefahrenen Kanonen. Haben wir nach all unseren Mühen denn nicht einen winzigen Funken Glück verdient? Aber so ist das Leben und jetzt ist nicht die Zeit für einen kindischen Tobsuchtsanfall, weil alles so furchtbar unfair ist. Wir müssen einfach schneller machen.
Keine halbe Stunde später sind wir nur noch wenige Meter von den Glaswänden der Kuppel entfernt, wo wir hinter einem Geländewagen mit offenem Verdeck und qualmendem Motor in Deckung gehen. Niemand hat uns bemerkt, da die Wachen, die sonst in konzentrischen Kreisen die Kuppel bewachen, jetzt in vier Reihen vor der Grenze postiert sind. Neben ihnen stehen mehrere gurgelnde Panzer und eine Handvoll Soldaten, die im Inneren der Zips herumfuhrwerken. An die Luftaufbereitungsanlagen verschwendet keiner einen Gedanken.
»Kommen wir zu spät?«, fragt Alina.
»Bin überfragt«, meint Silas und da kommt die Zip von vorhin über dem Kuppelrand gesaust. Ohne Vorwarnung feuert sie auf die Soldaten.
»Das ist Maks!«, brüllt Alina über die rotierenden Zippropeller hinweg.
Die Panzer am Boden heben ihre Kanonen und erwidern das Feuer. Die Soldaten stieben auseinander. Viele von ihnen sind zu Boden gegangen und einen der Panzer hat es in Stücke gefetzt. Die Zip reißt herum und kehrt zurück, doch diesmal ignoriert sie die Armee und schießt auf eine der Aufbereitungsanlagen. In den Fuß der Anlage wird ein Loch gerissen, doch die Rohre sind intakt. Aus einem der Panzer steigt eine Gestalt, hebt das Helmvisier und hält sich ein Megafon an den Mund. »Zurück ins Glied!«, bellt sie. Eindeutig die Stimme meines Vaters. Aber warum hält er die Soldaten an der Grenze fest? Sieht er denn nicht, was da passiert? Keine Sau interessiert sich für die Grenze. Die Zips des Ministeriums sollten in der Luft sein. Die Panzer sollten Vanyas Zip angreifen, damit sie die Aufbereitungsanlagen nicht in die Luft jagt.
»Das ist mein Dad«, schreie ich. »Wir müssen ihm sagen, was sie vorhaben.« Die Zip verschwindet und alles wird still.
»Jetzt oder nie«, sagt Silas. Er zieht ein weißes T-Shirt aus dem Rucksack. »Auf geht’s«, sagt er. Er steht auf und stürmt vor aller Augen auf meinen Vater zu, das weiße Shirt über sich schwenkend. Die Soldaten, die ihren Posten verlassen haben, heben jetzt die Waffen. Sie schießen nicht, sondern rennen uns entgegen.
Ich winke wie ein Irrer und rase auf meinen Vater zu, der sein Gewehr anlegt und den Lauf auf mich richtet. »Vater!«, brülle ich. »Dad!«
Doch bevor ich ihn erreichen kann, haben sich bereits zwei Soldaten auf mich geworfen und mich zu Boden gerissen. Ich blicke auf. Alina wird die Gesichtsmaske runtergerissen, Silas zu Boden getreten und mit einem Fuß zwischen den Schulterblättern am Boden festgehalten. Alina wehrt sich nicht. Hat sie Atmen gelernt? Doch mehr kriege ich nicht mit, weil ein verschrammtes schwarzes Stiefelpaar mir die Sicht verstellt.
»Quinn?« Das ist mein Vater.
»Ja«, krächze ich.
»Lasst ihn frei«, befiehlt er den Soldaten. Ich rapple mich auf und klopfe mir den Staub ab, während die Soldaten kopflos herumirren und ihre Waffen nachladen. Es ist mehr als offensichtlich, dass dieser Angriff sie kalt erwischt hat.
»Die haben es auf die Aufbereitungsanlagen abgesehen«, berichte ich meinen Vater. »Sie wollen die Sauerstoffversorgung unterbrechen.«
»Verdammt«, grollt mein Vater, als die Zip wieder auftaucht, den Boden bombardiert und Steine und Geröll aufpflügt. Ich werfe mich zu Boden und bedecke meinen Kopf mit den Händen. Die Zip geht in den Sinkflug und saust wieder davon, als wolle sie nur spielen. Weit gefehlt. Die versuchen nur, das wahre Ziel zu treffen.
Mein Vater liegt neben mir. Er kommt wieder auf die Beine und hilft mir hoch. »Du musst die Zips in die Luft kriegen«, sage ich ihm.
»An denen hat irgendwer rumgeschraubt«, antwortet er. Er drückt das Megafon gegen das Luftauslassventil seiner Maske. »Einheit Bravo verlagert sich zur Wiederaufbereitungsanlage Nord. Julia und Romeo Süd. Zulu Ost. Tango West. Delta bleibt an der Grenze. Im doppelten Tempo, MARSCH!« Er schaut zu Alina und Silas, die immer noch am Boden festgehalten werden. »Das sind Rebellen«, erklärt er den fassungslosen Soldaten, die Silas reumütig aufhelfen und Alina ihre Sauerstoffflasche zurückerstatten. Das müssen zwei der neuen Rekruten sein, die für den Kampf gegen das Ministerium angeheuert wurden, nicht zu seiner Unterstützung.
»Geben Sie uns eine sinnvolle Aufgabe«, sagt Alina.
»Hier lang«, sagt mein Vater und wir hasten zur Grenze. Wir drücken uns durch die Drehtüren und in den Tunnel. Jemand holt uns von hinten ein und greift nach meinem Vater.
»Jude?« Es ist Oscar.
Als er mich sieht, klopft er mir auf den Rücken. »Du hast’s geschafft«, sagt er.
»Die wollen die Aufbereitungsanlagen zerstören«, berichtet mein Vater Oscar, der sich die Ärmel hochschiebt.
»Was können wir tun?«, frage ich.
»Wenn es zur Luftrationierung kommt, dann werden die Zweitklasswohnungen und das Gefängnis zuallererst abgeschnitten«, sagt mein Vater. Er greift in seine Tasche und zieht einen Schlüsselbund heraus. »Die Rebellen sind im Gefängnis. Bea ist auch dabei. Die Sicherheitsvorkehrungen dürften jetzt eher lasch sein. Und Jazz ist im Krankenhaus. Findest du das?« Ich nicke.
»Besteht irgendeine Möglichkeit, dass jeder sicherheitshalber eine Sauerstoffflasche bekommt?«, fragt Alina.
»Und wir brauchen Stecklinge«, fügt Silas hinzu. Er kann meinen Vater nicht ins Gesicht sehen und das verstehe ich nur zu gut. Ich schaffe es selbst kaum, nach dem, was er getan hat.
»In den Forschungslaboren haben wir Herbarien.« Mein Vater reibt sich die Stirn. »Haben die nur die eine Zip?«
Alina zuckt die Schultern. »Wir sind nicht lange genug geblieben, um es rauszufinden. Aber ihre Miliz ist stark.«
Der Boden wackelt schon wieder. Eine Soldatin hastet auf uns zu. »Herr General, einige der Einheiten lösen sich bereits auf. Wir erwarten Befehle.«
»Sorgt dafür, dass die Anlage Süd gesichert ist. Da befindet sich der Kontrollturm«, trägt ihr mein Vater auf. Dann schaut er uns an. »Tag X«, sagt er.
»Soll ich dich begleiten?«, fragt mich Oscar.
»Das kriegt er schon gebacken«, sagt Alina. »Oder etwa nicht?« Ihre Stahlaugen durchbohren mich. »Bewaffnen Sie uns«, befiehlt sie meinem Vater.
»Aber gerne«, sagt er und gibt sein Gewehr an Silas weiter, der erst die Waffe, dann meinen Vater anblickt und nickt. Mein Vater nimmt der Soldatin die Waffe ab und reicht sie Alina.
Er streckt mir die Hand entgegen. Ich ergreife sie und so stehen wir einen Moment da, ohne den Blick voneinander losreißen zu können. »Wie das auch immer ausgeht…« Er hält inne. Silas zieht sich zurück. Alina folgt ihm. »Du bist ein tapferer Mensch, Quinn«, sagt er. Es ist keine Entschuldigung, aber doch das, was er mir geben kann.
»Jetzt werd mal nicht dramatisch«, sage ich, halb im Witz. Ich entziehe ihm meine Hand und stürze mich in die Zone Eins.