BEA
Oscars Dachgeschossatelier ist unter Gemälden und Zeichnungen begraben, auf dem Boden und an den Wänden ist ein Regenbogen an Farben verspritzt. Auf der Staffelei ruht eine große Platte, auf die dicke und unregelmäßige Linien in Rot und Grau geschmiert sind.
»Was bedeutet das?«, frage ich und trete zur Staffelei.
»Wenn ich das wüsste, könnte ich mir den Therapeuten sparen«, grinst er.
»Es gefällt mir«, sage ich. Vielleicht könnte ich auch malen. Irgendwann in der Zukunft. Falls ich eine habe.
»Ich verwende nur die Farben des Himmels.« Er deutet auf das riesige Oberlicht. Nichts als die Glasdecke der Kuppel und die Sonne sind sichtbar. Hier ist er wirklich ganz für sich. Ein Refugium. An Oscars Stelle würden mich hier keine zehn Pferde mehr rausbringen. Aber jetzt, wo wir wissen, dass das Ministerium in allen leer stehenden Wohnungen den Sauerstoff abdrehen will, opfert er es als Versteck für Harriet, Gideon und die anderen Rebellen, die auf der Todesliste des Ministeriums stehen. Es ist einfach unmöglich, unter der Hand ausreichend Sauerstoffflaschen aufzutreiben, um untergetauchte Rebellen in luftleeren Wohnungen am Leben zu erhalten.
»Du bist ein guter Mensch«, sage ich ihm, falls er es noch nicht selbst weiß.
»Gelegentlich«, meint er.
Er macht den Boden frei, sammelt die Dosen mit Farbe, Gips und Leim ein, stapelt sie in einer Ecke und hängt gerade die an die Wand gelehnten Bilder an krummen Nägeln auf, als es sachte an der Tür klopft. Oscar lauscht und schiebt dann den Riegel beiseite, um Wendy mit einem Bündel Laken und Decken einzulassen. »Mehr habe ich nicht«, sagt sie und wirft das Bettzeug auf den Boden. »Ich schau noch mal bei dir im Zimmer. Aber wir müssen uns beeilen, Niamh wird bald zurück sein. Und wie soll das mit dem Essen werden? Wie soll ich die Mehrausgaben denn erklären?«
»Das regle ich«, sagt Oscar. Wenn man bedenkt, was er da gerade tut, ist er erstaunlich gelassen. Selbst ich habe Herzrasen, dabei ist es noch nicht mal mein Haus.
»Und was, wenn sie auf die Toilette müssen?«, fragt Wendy. Sie verzerrt das Gesicht und instinktiv tue ich es ihr nach. Oscar bleibt entspannt.
Er hebt eine Abdeckplane vom Boden auf und hakt eine Ecke an einen Nagel in der Decke, die andere an eine vorstehende Schraube in der Wand. »Mehr als ein Deckeleimer wird’s nicht werden und ich kann nicht verprechen, dass ich ihn stündlich leeren kann, wenn Niamh hier rumschleicht, aber es muss halt gehen«, sagt er.
»Wie viele werden es sein?«, fragt Wendy. Sie stupst mit dem Zeh gegen das Bettzeug. Beide schauen mich an.
»Um die fünfzehn.«
»Sobald Niamh im Bett ist, bringen wir sie hoch. Aber ich finde es immer noch schrecklich riskant, sie hier zu verstecken«, sagt Wendy. Mich in ihrem Häuschen untertauchen zu lassen war schon stressig genug für sie, doch dass sie jetzt eine ganze Rebellenhorde im Haus verstecken darf, direkt über den Köpfen von Niamh und irgendwelchen Besuchern aus dem Ministerium, das macht sie fertig.
Oscar nimmt eine Decke und breitet sie aus. »Hier oben wird niemand nachschauen«, sagt er. »Oder würdest du auf die Idee kommen?«
Wendy schüttelt den Kopf. Trotzdem: Hier alle sauber, satt und ruhig zu halten wird eine Herausforderung.
»Haben Sie meine Sachen auch hochgebracht?«, frage ich Wendy.
Sie blinzelt und guckt zu Oscar. »Kein Grund, weshalb du hier mit all den anderen übernachten solltest«, sagt sie. »Nach dem, was du durchgemacht hast, brauchst du ein bisschen Privatsphäre.« Oscar hüstelt und Wendy verstummt. Sie beißt sich auf die Unterlippe. Oscar muss ihr von der Geschichte mit den Ausgestoßenen erzählt haben.
»So eine Sonderbehandlung wäre nicht gerecht«, murmle ich. Ich wollte, er hätte das nicht ausgeplaudert. Quinn hätte das nie getan. Er weiß, wie man ein Geheimnis für sich behält.
»Ich schaue nach, ob ich noch ein paar Laken auftreiben kann«, sagt Wendy, öffnet die Tür und schleicht davon. Oscar schiebt den Riegel wieder vor. »Du musst hier nicht die Märtyrerin spielen, weißt du?«
Ist das sein Ernst? »Ich spiele die Märtyrerin?«
»Bea… so meine ich das nicht. Bitte bleib unten bei Wendy.« Er legt den Kopf schief und sieht mich mit großen Augen an.
Ich wende mich ab und gehe auf eines seiner Gemälde zu: ein Serie von Ringen mit kleinen, scheinbar wahllos verteilten türkisen Punkten. »Du malst kein bisschen gegenständlich. Hat alles was Brutales an sich. Wieso?«
»Die Leute sehen, was sie sehen wollen«, meint er. »Und du siehst Gewalt.«
Ich gehe nicht darauf ein, sondern berühre sanft das Bild. Obwohl die Farbe wirkt, als könne sie jederzeit von der Platte auf den Boden tropfen, ist sie hart und gummiartig. »Glaubst du, wir kriegen ausreichend Rekruten zusammen, um was zu bewirken?«
Er stellt sich neben mich. »Wir müssen es zumindest versuchen, oder?«, fragt er.
»Nein, Oscar. Gewinnen, das müssen wir.«
»Und das werden wir auch.«
Oscar dreht das Radio auf, fette Bässe dröhnen durchs Studio. Alle schauen ihn an. »Beim Malen habe ich immer Musik laufen«, erklärt er.
»Tja, ihr hattet recht. Vor zwei Stunden haben sie aus unserer Wohnung die Luft abgesaugt«, meint Harriet. Sie rollt ihren Schlafsack neben Gideons aus und mustert die anderen Rebellen, die ihre spärlichen Besitztümer auspacken. Eine Gruppe von Mädchen lässt sich unter dem Oberlicht nieder. Als sie mich entdecken, lächeln sie mir zu. Am anderen Ende des Ateliers richten es sich einige Männer und Jungs unter Geflüster miteinander ein.
Ich habe mir schon ein Plätzchen an der Tür gesucht und Wendy hat noch eine Extradecke für mich aufgetrieben, falls mir kalt wird.
»Und jetzt? Hier drinnen sind wir doch völlig lahmgelegt«, sagt Gideon.
»Aber am Leben«, sage ich. Im Gegensatz zu vielen anderen.
Oscar zaust sich die Haare. »Old Watson und ich gehen heute Abend auf Tour, um noch mehr Bewerber für die Armee aufzutreiben. Sobald wir genug Leute zusammenhaben und alle ausgerüstet sind, werden wir kämpfen.«
»Da können wir lange warten«, sagt Gideon.
»Und wir können lange warten«, sagt Harriet. »Bea hat recht. Weder tot noch im Knast zu sein muss jetzt erst mal reichen.«
»Und was, wenn seine Schwester hier hochkommt?«, fragt Gideon in die Runde, ohne Oscar anzusehen. Ich halte meinen Mund, obwohl ich ihn eigentlich daran erinnern sollte, dass Oscar ihm gerade das Leben gerettet hat und er ein bisschen mehr Dankbarkeit zeigen könnte.
»Die Tür geht nur mit Daumenabdruck auf und meiner ist als Einziger registriert.«
»Der Daumenabgleich. Sicherer geht’s ja kaum«, höhnt Gideon.
Ich kann’s nicht mehr hören. »Oscar tut, was er kann. Wenn du lieber gehen und in der Gosse leben willst, bis dich jemand einsammelt, dann bitte. Das ist für niemanden die Ideallösung hier«, stelle ich klar.
Harriet schaut ihren Mann finster an. »Gideon ist Oscar sehr dankbar. Wir alle sind das.«
Oscar reibt sich nervös die Hände. »Ich komme einmal am Tag, soweit möglich. Ich bringe dann Essen mit.« Er dreht die Musik ab. Alle Augen richten sich auf ihn. »Ihr solltet auf Zehenspitzen gehen und nur leise reden«, sagt er.
Als er schon bei der Tür ist, komme ich ihm nach. Plötzlich will ich, dass er bleibt. Ich klammere mich an seinem Hemdzipfel fest. »Du bist hier oben verantwortlich«, sagt er. Er betrachtet meine Hand, die ihn immer noch umklammert, und berührt sie mit den Fingerspitzen. Wenn ich ihn jetzt frage, würde er mich mitnehmen. Aber ich muss hier alles im Griff behalten.
Ich lasse ihn los. »Gute Nacht«, sage ich und er huscht aus der Tür.
Ich gehe zu meinem Schlafplatz und lege mich hin, mit dem Gesicht zur Wand. Vor meinen geschlossenen Augen erscheint Quinn. Eine Weile lang habe ich geglaubt, ich würde ihn nie wiedersehen, aber das war nur die Angst, ihn für immer zu verlieren.
Jetzt habe ich keine Angst mehr, glaube ich.