QUINN
Bea ist auf der Flucht, verfolgt von bewaffneten Soldaten, und ganz vorne rennt mein Vater mit einer dieser altmodischen Musketen in der Hand.
Schließlich stürzt Bea und ich bin plötzlich auch da, aber ich bin an der Straße festgewurzelt und kann ihr nicht helfen. »Alles lieber als das hier«, sagt sie, doch bevor ich sie retten kann, hat Oscar sie schon weggeschleppt. Ich kann mich nur in die Dunkelheit verkriechen wie ein Feigling. Sie blickt zu Oscar auf und lächelt. Dann treffen sich ihre Lippen.
Schlagartig bin ich wach – und habe das Gefühl, erwürgt zu werden.
Clarice hat ihren Arm um mich geschlungen. Sie schnarcht.
Ich befreie mich, setze mich auf und entwirre den Atemschlauch, der es irgendwie geschafft hat, sich im Laufe der Nacht um meinen Hals zu wickeln. Auf diese Albträume könnte ich gern verzichten.
Ich steige mit meiner Sauerstoffflasche aus dem Bett. Bis auf die Unterhose bin ich nackt und so ziehe ich schnell den Pulli über, den ich auf dem Nachttisch deponiert habe.
Clarice regt sich und dreht sich zu mir um. »Das ist jetzt echt ’n bisschen unangenehm«, sagt sie gähnend, was man wohl getrost als die Untertreibung des Jahres bezeichnen darf. »Aber keine Sorge. Wir gewöhnen uns schon aneinander.«
Sie wirkt harmlos, doch mein schlechtes Gewissen erlaubt mir noch nicht mal, sie auch nur nett zu finden.
Bea ist es, neben der ich liegen und um deren Hüfte ich nachts meinen Arm schlingen sollte. Stattdessen habe ich die ganze Nacht mehr neben dem Bett gelegen als darin, um nicht versehentlich Clarice zu berühren, ständig den Blick auf die Tür gerichtet in Erwartung von Maks oder Vanya, bis mir die Augen schließlich zugefallen sind.
»Wie lange lebst du schon hier?«, erkundige ich mich.
»Seit vier Jahren. Ursprünglich komm ich aus der Kuppel. Aber ich bin heilfroh, da raus zu sein. Besonders jetzt, wo das passiert.«
»Klar«, sage ich. Ich gehe zur Tür, unter der jemand im Laufe der Nacht zwei graue, papierartige Blätter durchgeschoben hat. Bis auf die Namen sind sie identisch. Ich werfe Clarice ihres zu und lese meines.
Stundenplan für Quinn B. Caffrey
Werte – Immunität: 7 / Fertilität: A / IQ: 152 /
Belastungskoeff.: hervorragend / Blutgruppe: A+
Partner: Clarice Bird
6.30 h Meditation – Zi. 12
9.30 h Frühstück (Akademiker) – Nebenhaus
10.00 h Kardio – Zi. 20
13.30 h Mittagessen (Akademiker) – Nebenhaus
14.30 h Yoga – Zi. 7
17.30 h Arbeitszeit – Bibliothek Hauptgebäude
19.30 h Abendessen (Gruppe 1) – Nebenhaus
20.30 h Injektionen – Zi. 4E
21.00 h Meditation – Zi. 12
22.00 h Sperrstunde
Jedwede Änderung an diesem Stundenplan bedarf der unmittelbaren Genehmigung durch Vanya. Bei Unmöglichkeit einer Pflichtleistung ist bis spätestens 30 Min. vor Plantermin Meldung beim Wachdienst erforderlich. Krankheit ist zu melden bei Schwester Jones, Schwester Layavitch oder Dr. Marcela.
Partner sind gehalten, ausnahmslos gemeinsam aufzutreten.
»Wie spät ist es jetzt?«, will Clarice wissen.
»Fast sechs«, sage ich mit Blick auf die Uhr über dem Bett und frage mich, ob Bea es inzwischen schon in die Kuppel zurückgeschafft hat.
»Dann sind das die letzten freien Minuten des Tages«, seufzt Clarice und steht auf, mit nichts am Leib außer einem kurzen T-Shirt. Ich bemühe mich nach Kräften, sie geflissentlich zu übersehen.
»Frei sieht anders aus.« Ich überfliege unsere Termine. Wenn ich diese Arbeitszeit schwänze, würde das auffallen? Noch eine Nacht in diesem Bett ist einfach nicht drin. Und Alina kann auf keinen Fall eine weitere Nacht mit Maks verbringen. Wir müssen allesamt so schnell wie möglich raus hier, wenn wir Oscar und Bea bei ihrem Plan unterstützen und die Kuppel zurückerobern wollen.
»Manchmal rennen die Leute von hier weg, weil ihnen die Verpaarung nicht passt. Wirst du das auch machen?«, fragt Clarice und mustert mich. Sie türmt sich ihre Haare auf dem Kopf auf und fixiert sie mit etwas, das nach Essstäbchen aussieht.
»Quatsch«, lüge ich mit breitem Lächeln und schnüre mir die Schuhe fest zu.
»Das ist gut«, sagt sie, »denn jeder, der hier abhauen will, ist am Ende tot und ich will echt nicht, dass du stirbst. Jedenfalls nicht, bevor wir uns fortgepflanzt haben.«