BEA
Oscar und ich sitzen in aufgeplatzten Ledersesseln unter einer dicken Schicht aus Decken, Schals und Mänteln auf dem Balkon des ehemaligen Bahnhofsrestaurants. Die Ruinen ringsum verstellen uns den Sonnenaufgang. Oscar zeigt mir ein verschwommenes Foto auf seinem Pad. »Möchtest du nicht lieber ein scharfes Bild?«, frage ich. Ich schraube am Ventil meiner Sauerstoffflasche herum. Es wäre deutlich schlauer, mich weiterhin ans Solargerät zu halten und Luft zu sparen, aber das Riesenteil hat einfach nicht durch die schmale Balkontür gepasst.
»Mir geht’s nur um die Farben. Ich bearbeite es dann, wenn ich zurück bin.« Er zögert. »Darf ich auch eins von dir machen?«
»Wofür?«
»Damit ich’s ans Ministerium weiterleiten und die Belohnung einsacken kann. Du bist ein guter Fang.« Er lacht, aber der wahre Kern dahinter lässt mich automatisch wegschauen. Da ist es allerdings schon geschehen.
»Lösch das wieder!« Ich versuche, ihm das Pad zu entreißen.
»Nein«, sagt er.
»Was, wenn das wer sieht und mich wiedererkennt?«
»Das ist genauso unscharf wie das andere. Und außerdem interessiert sich keine Sau für Künstlerfotos.« Er mustert das Foto, dann mich in Fleisch und Blut. »Warum bist du im Ödland, Bea?«, fragt er.
»Weil dein Vater mich in die Finger kriegen wollte, tot oder lebendig, schon vergessen?«
»Aber warum bist du überhaupt den Rebellen beigetreten? War’s für Seconds in der Kuppel echt so unerträglich?«, fragt er. Typisch Premium. Wie blind und selbstzentriert muss man sein, um gar nicht zu bemerken, wie die restlichen fünfundneunzig Prozent von uns leben?
»Warst du überhaupt jemals in Zone Drei?«
»Ein paarmal«, sagt er verschämt.
»Wenn ich von innen heraus irgendwas hätte bewirken können, dann hätte ich das getan«, sage ich.
Er schweigt eine ganze Weile lang, in seine Fotos versunken. »Es muss doch einen Weg geben, allen gerecht zu werden. Na ja, nichts ist unmöglich«, meint er schließlich.
»Du kannst versuchen, in der Kuppel was zu erreichen. Ich setz da nie wieder einen Fuß rein. Und außerdem warte ich auf jemanden.« Quinn habe ich immer noch nicht erwähnt. Das Ministerium hält ihn für tot und niemand sollte etwas anderes vermuten.
Oscar starrt in die Ferne und schließt dann die Augen. Seine Lider zucken, Schlaf lullt ihn ein. Doch dann klappt er ein Auge auf und richtet es auf mich. »Schläfst du auch oder willst du mir nur zugucken?«
Meine Wangen werden heiß. »Hier draußen? Es ist unter null Grad.«
Er fasst nach unten, zieht eine leichte Decke aus seinem Rucksack und wirft sie mir zu. »Versuch’s mal mit der.« Ich zieh sie mir übers Kinn und schiebe mir die Füße unter den Hintern. »Besser?«, fragt er. Ich nicke und lasse meine Augen zufallen.
Oscar rüttelt mich wach. »Bea, steh auf«, flüstert er. »Bea.« Ich gähne.
»Wie lang hab ich geschlafen?«
»Völlig egal jetzt. Beweg dich!«
»Was ist los?« Ich will erst mal auf die Beine und mich strecken, aber er hält mich um die Hüfte gepackt und so wird nichts draus.
»So können die dich sehen«, sagt er.
Ich rutsche vom Sessel auf den Balkonboden. »Sind die vom Ministerium?«
Oscar schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung, wer das ist. Die müssen uns entdeckt haben.«
Plötzlich ist mir weniger kalt. Meine schmerzenden Glieder werden leichter. Das müssen Quinn und Alina und irgendwer aus Sequoia sein, um mich zu retten. »Da sind sie ja endlich«, sage ich und versuche, einen Blick auf die Straße zu erhaschen.
»Jede Wette, dass die nicht die Richtigen sind«, sagt er. »Da lang.« Widerstrebend gleite ich hinter ihm durch die Balkontür ins Restaurant, in dem Dutzende weiterer Sessel herumstehen. »Halt den Kopf unten«, sagt er, selbst ebenfalls in Duckhaltung. Wir nähern uns einem Fenster.
»Wartest du etwa auf die da?«, fragt er. Durch die verdreckte Scheibe kann man kaum was erkennen. Ich wische mit dem Ärmel drüber und drücke mein Gesicht dran. Drei bärtige, zerlumpte Männer durchstöbern den Bahnhof. Alle tragen Waffen: eine Mistgabel, ein Baseballschläger und der dritte ein fettes Metallrohr. Auf dem Rücken schleppen sie riesige Solar-Atemgeräte. »Ausgestoßene«, sagt Oscar. Er zieht seine Schusswaffe und lädt sie mit einer Handvoll Munition.
»Was soll das? Das sind keine Monster.« Maude jedenfalls nicht und auch nicht die, die laut Jazz bei der Verteidigung des Hains geholfen haben. Ich will mir Oscars Waffe schnappen, doch er schubst mich so hart, dass ich auf dem Arm lande und ihn mir verdrehe. Ich stöhne, bekomme aber weder eine Entschuldigung noch eine helfende Hand.
»Psst«, macht er, findet eine eingeschlagene Fensterscheibe und zielt.
»Bitte, gib ihnen eine Chance«, sage ich. Ich krieche zum Fenster. Die drei Männer umrunden den Bahnhof, den Blick unverwandt nach oben gerichtet.
»Die sind eindeutig auf dem Kriegspfad. Sei doch nicht naiv, Bea.« Sein herablassender Tonfall macht mich fuchsteufelswild.
»Keine zwei Sekunden aus der Kuppel und schon der Experte. Schau mal her, da kannst du was lernen.«
»Wo willst du hin? Komm zurück. Komm sofort zurück!«
Ich marschiere aus dem Restaurant, die Stufen hinunter und nach draußen, wo ich neben dem Eingang stehen bleibe.
Gerade will ich einen der Männer ansprechen, als der mit dem Baseballschläger dem Bahnhof den Rücken zukehrt: »He, Brent, biste sicher, dass es das Haus da war? Ich hör keinen Mucks.« Er schlurft weg und lehnt sich auf der anderen Straßenseite gegen einen Kleinlaster.
»Mach dich locker, Earl. Da steckt Fleisch drin, hundertpro. Ich hab’s letzte Nacht quietschen hören.«
»Egal, notfalls futter ich halt dich.«
Brent stößt Earl mit seinem Metallrohr in die Brust und lacht höhnisch. Selbst von hier kann ich sein schwarzes Gebiss erkennen.
Earl hat sich rasch erholt und rammt seinen Baseballschläger gegen Brents Knie. »Pass auf, sonst mach ich noch ’n paar Probeschläge mit deinem Schädel.« Das klingt nicht nach Angeberei; die beiden würden sich mit größtem Vergnügen gegenseitig lynchen.
Das war ein Fehler von mir.
Ich weiche von der Straße zurück, hinein in den Bahnhof, doch als ich herumwirble, steht der dritte Mann mit seiner Mistgabel direkt hinter mir und glotzt. »Ja, sieh mal einer an. Da ham wir ja ganz was Feines«, sagt er und reibt sich den Bauch.
Als er nach mir ausholt, ducke ich mich hastig zur Seite. Zum Glück ist er halb verhungert, hat das schwere Solargerät auf dem Rücken und ist einfach nicht flink genug. Ich rase die Stufen hoch, rein ins Restaurant. »Oscar! Oscar?«, brülle ich.
Doch er ist nicht mehr da.
»Komm wieder runter, dumme Schnalle!«, röhrt einer der Typen. Die anderen johlen.
Ich springe über kaputte Sessel und umgeworfene Tische, zerschmetterte Teller und Gläser und werfe mich schließlich gegen die Küchentür. Doch die weigert sich aufzuschwingen. Irgendwas blockiert von der anderen Seite. Mein Blick schweift durchs Restaurant. Kein Versteck weit und breit, mir bleibt nur noch der Sprung vom Balkon. Ich finde eine zerschlagene Flasche und umklammere ihren Hals, als die Männer mit glühendem Blick in die Tür treten.
Unter allgemeinem Grinsen schwingt Earl seinen Baseballschläger. Als er näher kommt, versuche ich, an ihm vorbeizuwieseln, doch er hat dem Mistgabelmann einiges voraus. Er stürzt sich auf mich und schubst mich zu Boden. Dann zerrt er mich an den Haaren hoch. Sein Gesicht ist narbenübersät, das dünne Haar klebt ihm fettig am Kopf. »Lästig«, sagt er, »aber knackig. Was meinste, Getty?«
Der Mistgabelmann lässt die Waffe fallen und tritt vor. »Die wird’s schon tun«, sagt er. Er knöpft meinen Mantel auf und begafft mich.
Brent kommt herbeigeschlurft. »Das Atemgerät nehm ich«, sagt er und will es mir schon abschnallen.
»Wart bis danach!« Getty schubst ihn beiseite.
Ich will mich losreißen, doch Earl reißt an meinen Haaren und legt mich lahm. »Stillhalten«, krächzt er.
Es ist nur zu offensichtlich, was diese Barbaren mit mir vorhaben, und das halte ich nicht aus. Alles, nur nicht das. Alles.
Ich winsele auf. Wieso habe ich Oscar nicht einfach schießen lassen? Wo steckt er jetzt? Und wo ist Quinn?
Getty hält mein Gesicht fest und leckt über meine Wange. Trotz Maske klebt mir sein fauliger Atem in der Nase. Über mein Geschrei lachen sie nur. »Bitte nicht«, sage ich und schaue ihm in die Augen, die mich schon längst nicht mehr als Menschen erkennen können.
Er wirft seine versiffte Jacke ab und schabt mir mit den Fingernägeln am Schlüsselbein entlang.
»Erster«, sagt er. Und in diesem Moment beschließe ich, einfach dichtzumachen, an Quinn zu denken und meine Eltern und an Maude und überhaupt an alles, was nicht das Jetzt und Hier ist.
»Bereit?«, fragt Earl.
Ich schließe die Augen. »Quinn!«, brülle ich. »Quinn!«
Doch er hört mich nicht.
Keiner tut das.