OSCAR

Keine Stunde mehr bis zu meinem Aufbruch aus der Kuppel und ich habe noch nicht mal gepackt. Stattdessen bin ich in meinem Atelier und klatsche fette weiße und schwarze Farbschlieren auf die Leinwand. Sieht nach nicht viel aus – nur ein ersticktes graues Chaos.

Ich habe gehofft, hier eher auf einen Weg zu kommen, mich aus dieser Mission herauszuwinden, aber einziges Ergebnis meiner Grübeleien bleibt das Gemälde. Das ist nicht mal der Ansatz einer Lösung.

Vor dem Ödland fürchte ich mich nicht. Wir werden alle mit einen Monatsvorrat an Lebensmitteln, Luft und Medikamenten ausgerüstet sein und die Ausgestoßenen haben keine Chance gegen mich. Wäre da nicht diese verdammte Schnüffelei für Jude Caffrey und das Ministerium nach sogenannten Terroristen, nur damit sie unschuldige Leute abmurksen können. Wenn nicht letztlich Niamh dafür büßen müsste, ich würde mich weigern, doch ich bin der Einzige, den sie noch hat.

Ich gehe zum Waschbecken und spüle die Pinsel aus. Dann werfe ich einen letzten Blick auf das Gemälde und schließe die Ateliertür hinter mir ab.

Als ich endlich fertig bin, wartet Niamh an der Haustür. »Wann kommst du wieder zurück? Ich mach mir Sorgen«, sagt sie. Ihre letzte Zuneigungsbekundung für mich liegt Urzeiten zurück und ich muss schlucken.

»Wenn ich alle Bösewichter zur Strecke gebracht habe, nehm ich an.« Eine glatte Lüge. Ich bringe niemanden mehr zur Strecke. Nie wieder.

Ich werde da rausgehen und mich so lange irgendwo verkriechen, bis man mir den guten Willen abkauft, auch wenn ich mit leeren Händen zurückkehre. Sollte mir wer über den Weg laufen, werde ich ihn warnen.

»Du wirst doch zurückkommen«, hakt Niamh nach.

»Quatsch keinen Blödsinn.« Ich hieve mir den fetten Rucksack auf die Schultern.

»Pass auf dich auf, altes Riesenarschloch«, sagt Niamh. Sie lehnt sich an mich und küsst mich unbeholfen auf die Wange. Ihre Lippen sind ausgetrocknet.

Ich muss lachen. »Pass du erst mal auf dich selbst auf.« Ich verkneife mir tunlichst alles, was noch mehr Gefühlsausbrüche auslösen könnte, und steuere auf den wartenden Geländewagen zu.

Am Grenzübergang wartet Jude Caffrey neben der Ministerin für Öffentlichkeitsarbeit. Er hebt die Hand. Ich gebe vor, ihn nicht zu bemerken, und gehe in Richtung der Stahltore, wo bereits der Rest meiner Einheit versammelt ist. Ich habe absolut keinen Bock auf die Kumpeltour, nachdem er sein ganzes Leben lang nur rumgelogen und seine Soldaten mit falscher Propaganda eingewickelt hat.

Robyn, jüngstes Mitglied der Spezialeinheit, lächelt mir entgegen. »Tut mir leid mit deinem Dad«, meint sie.

»Danke.« Ich halte inne. »Die haben uns alle zusammengetrommelt, was?«

»Allesamt, wie es scheint.« Sie macht einen Schritt zurück, um den Blick auf die anderen freizugeben. Mary, Rick, Nina und Johnny drehen sich alle zu mir und winken. Ich hebe grüßend die Hand. »Die haben vorher noch nie eine Nachwuchstruppe alleine rausgeschickt. Wir haben gehört, du hättest uns freiwillig zur Verfügung gestellt«, sagt Robyn und zieht sich den dicken Pferdeschwanz straff.

»Was? Stimmt gar nicht.« Ich klinge, als wollte ich mich verteidigen.

»Sind wir überhaupt bereit dafür, schon wieder rauszugehen?«, fragt Robyn mit Misstrauen im Blick. Eigentlich will sie sagen: Wollen wir das überhaupt? Keiner von uns hatte die Bäume am Hain erwartet. Und seitdem ist alles anders. Zumindest für manche von uns.

Rick tritt vor. Er ist achtzehn, wirkt aber wie dreißig. »Ganze Leistung, Kumpel. Ich hab mich zu Hause schon zu Tode gelangweilt. Ständig hab ich gesagt, lasst uns wieder raus, wir sind bereit. Ich kann’s kaum noch abwarten, echt. Ich zähl die Sekunden.«

»Meine Idee war’s nicht«, stelle ich klar. Rick will nur Stunk machen. War schon immer so.

»Hat General Caffrey aber behauptet.« Mary deutet auf Jude.

»Also, wir freuen uns jedenfalls«, meint Nina.

»Besser, als das ganze nächste Jahr in der Sporthalle zu versauern«, ergänzt Johnny.

Ihre Erregung schwirrt in der Luft. Ich drehe mich zu Robyn, die auf ihrer Unterlippe kaut. Die anderen mögen sich vielleicht freuen, aber sie tut es nicht. Und ich auch nicht.

Jude tritt vor uns. Er spart sich die warmen Worte, reicht uns allen einen kleinen Beutel und spult seine Anweisungen ab. »Ihr alle habt neue Pads mit Langstreckenpeilung zugeteilt bekommen, die in beide Richtungen kommunizieren können. Sollten sie nicht funktionieren, habt ihr zusätzlich Walkie-Talkies. Bisschen primitiv, aber zweckmäßig. Meldet euch wenigstens einmal am Tag, damit wir euch am Leben wissen.«

»Am Leben?«, höhnt Rick. »Ich glaube, da müssen Sie sich keine Gedanken machen. Die paar Ökohippies haben doch keine Chance gegen uns.« Er tut, als würde er sich selbst ein Messer in den Bauch rammen.

Was läuft falsch bei dem? Als ob er nicht schon genug Leute umgebracht hätte. »Kannst du nicht einmal die Fresse halten, Rick?«, frage ich.

Robyn schnappt nach Luft und der blindwütige Rick will mir gerade eine wischen, als ich seine Faust abfange und ihn in den Schwitzkasten nehme. Er stöhnt auf. »Schon gut, schon gut, lass stecken«, sagt er und ich gebe ihn frei, stoße ihn von mir, während die anderen nur sprachlos glotzen können. Noch nie bin ich auf irgendwen losgegangen. Aber Rick hätte ich schon längst mal das Maul stopfen sollen.

Jude schüttelt den Kopf. »Zum Glück entsenden wir euch nicht in der Gruppe.« Er macht eine kurze Pause. »Wir schicken euch alle in unterschiedliche Richtungen. Sobald ihr auf etwas Verdächtiges stoßt, erstattet ihr uns Meldung. Wir brauchen Koordinaten. Haben wir die, schicken wir umgehend Soldaten und Zips und machen alles zu Kleinholz. Bis dahin sind wir hoffentlich wieder bei voller Leistung.«

»Haben wir die Erlaubnis zu töten?«, fragt Rick. Er mustert mich aus den Augenwinkeln.

Jude zupft an den Ärmeln seiner Uniformjacke. »Eure Aufgabe ist es, RATTEN aufzustöbern. Weitere Anweisungen erfolgen dann per Funk.«

Robyn kratzt sich die Nasenspitze. »Wie viel Zeit haben wir?«

»So lange ihr durchhaltet.« Jude will gerade wegtreten, als die Ministerin für Öffentlichkeitsarbeit mit klappernden Absätzen auf uns zugeeilt kommt.

»Können wir bitte noch ein Foto von Oscar an der Grenze machen?«, zwitschert sie. »Präsident Vine meint, eine Wortmeldung von Cain Knaverys Sohn wäre gute PR. Die Presse wird in ein paar Tagen wieder an die Arbeit gehen und dann wird das der Aufmacher.«

»Klar«, stimme ich zu. Die Presseministerin klappt ihr Pad auf, schießt ein paar Bilder und wartet dann lächelnd, um mein Statement aufzuzeichnen. »Nach all der Zerstörung, die wir bis jetzt angerichtet haben, halte ich diese Mission für…«

»Schreiben Sie einfach, was Sie wollen«, sagt Jude, der sich plötzlich zwischen mich und die Ministerin für Öffentlichkeitsarbeit gestellt und mir einfach das Wort abgeschnitten hat. Er schlingt mir den Arm um die Schultern und zieht mich fort. »Wir haben schon genug Zeit verloren.« Ich blicke zurück zur Ministerin, die trotz des entgangenen Interviews in sich hineingrinst, weil sie den Artikel ohnehin längst in der Schublade hat.

Die Grenze wird von bewaffneten Soldaten bewacht, die zur Seite treten und uns unbehelligt die Tore und den Glastunnel passieren lassen. Wir schnallen die Sauerstoffflaschen an unsere Gürtel, schieben uns die Atemmasken über Mund und Nase. Es fühlt sich anders an als sonst, wenn wir nach draußen marschiert sind. Früher war ich Feuer und Flamme dafür, die Kuppel zu verteidigen. Jetzt werde ich nur noch eines tun: rausgehen und die Hände in den Schoß legen.

Wir drücken uns durch die Schiebetüren am Tunnelende, raus ins Ödland. Sieben robuste Geländewagen warten mit laufenden Motoren.

»Dann geht’s jetzt wohl los«, sagt Robyn schulterzuckend. Die anderen murmeln ihre Zustimmung und fummeln an ihren Atemgeräten herum.

»Wir fahren euch noch fünfzig Kilometer raus«, sagt Jude. »Weit genug, um Zeit zu sparen, aber nicht so weit, dass sie euch kommen hören. Hals-und Beinbruch.« Und das war’s dann. Mary, Rick, Nina, Johnny und Robyn wählen je ein Auto und steigen ein.

Ich blicke noch mal zur Kuppel empor. Jetzt könnte ich gehen und niemals wiederkehren. Aus freien Stücken verschwinden. Jude hat keinen Zweifel daran gelassen, dass der Minister mich niemals freigeben würde, und bei jedem Widerstandsversuch werden sie mich hinrichten. Aber wenn irgendwer im Ödland überleben kann, dann ich.

Die Frage ist nur: Will ich das überhaupt? Im Training sind uns genug Ausgestoßene untergekommen, schwachsinnig vor Einsamkeit und nicht mal mehr sicher, auf welchem Planeten sie sich befanden. Ein alter Kerl war so ausgehungert, dass er seinen eigenen Arm angeknabbert hatte. Und was wäre mit Niamh? Ich kann sie nicht ihrem Schicksal überlassen. Wer weiß, was die ihr antäten.

»Leg einen Zahn zu«, sagt Jude. Er schmeißt meinen Rucksack in das einzige führerlose Fahrzeug.

»Was machst du da?«

»Dich kutschieren. Wir haben was zu besprechen.«

Wir reden kein einziges Wort. Lange ruckeln wir schweigend über das holprige Gelände und durch die fettige Windschutzscheibe sehe ich dem Auf und Ab der Scheibenwischer zu.

Schließlich bremst Jude den Geländewagen ab und schaltet den Motor aus. Er legt sich die Hände auf die Knie, sitzt mehrere Minuten einfach nur da und stiert geradeaus. Ich unternehme keinen Versuch, die Spannung zu brechen. Wenn er was zu sagen hat, soll er’s ausspucken.

»Du weißt wohl inzwischen, dass Quinn es war, der die Kuppel fast in die Knie gezwungen hat?« Er dreht sich zu mir.

»Wenn du meinst, dass er auch für den Tod meines Vaters verantwortlich ist, dann weiß ich es, ja.« Wir starren einander in die Augen. Er wartet darauf, dass ich in die Luft gehe. Aber ich bin nicht wütend auf Quinn. Wie könnte ich auch, jetzt, wo ich die Pläne des Ministeriums kenne? Wenn überhaupt, bin ich sauer auf mich, weil ich die ganze Zeit so blödsinnig naiv war und mich nie wie Quinn gegen meinen Vater zur Wehr gesetzt habe.

Ich warte darauf, dass er fortfährt. »Quinn ist am Leben«, sagt er. Seufzend senkt er seine Stirn aufs Lenkrad und zum ersten Mal in dieser Woche verachte ich ihn nicht.

»Sprich weiter.«

»Es war ein Fehler, ihn da alleine rauszuschicken, und ich wollte auch nicht, dass die Armee und die Zips ausschwärmen, denn die bringen ihn um, wenn sie ihn erwischen. Du hingegen…«

»Du glaubst, ich werde ihm helfen

»Du willst raus aus der Spezialeinheit und ich kann das veranlassen.«

»Mir hast du erzählt, das kannst du nicht.«

Jude reibt sich das Kinn. »Alles hat seinen Preis und ich kenne die richtigen Leute. Ich kann dir und Quinn eine neue Identität verschaffen – Biometrie und alles. Nichts, was es nicht schon gegeben hätte. Aber es würde heißen, dass ihr Zweitklassbürger werdet. Ein hoher Preis. Aber was Besseres kann ich dir nicht anbieten.«

Ich starre aus dem Fenster. In meinem ganzen Leben habe ich Zone Drei erst zweimal betreten. Das Einzige, was mir im Gedächtnis geblieben ist, sind schmutzige Kindergesichter und Dunkelheit. Wie trübsinnig es war. Möchte ich das?

»In dem Mantel, den Quinn trägt, steckt ein Peilsender und genau hier ist er zuletzt geortet worden, bevor die Batterie verreckt ist.« Er deutet nach draußen. »Du musst ihn einfach nur finden und auf ihn aufpassen. Dann schmuggel ich euch beide wieder rein in die Kuppel. So eine Zweitklassexistenz wird keinem von euch viel geben. Aber wenigstens könnt ihr leben.«

»Und die anderen ziehen hier draußen jetzt die totale Sinnlos-Aktion durch?«

»Die werden ganz woanders hingefahren«, sagt er. »Bis auf den einen oder anderen Ausgestoßenen werden die nichts finden, es sei denn, da draußen ist doch noch irgendwo eine Zelle. Aber auf weitere Zellen zu stoßen ist ungefähr so wahrscheinlich wie die Entdeckung einer zweiten Kuppel.« Seit unserer Kindheit haben sie uns weisgemacht, es gäbe weitere Kuppeln. Noch eine Lüge. Noch so eine beschissene Lüge.

»Ich lass es mir durch den Kopf gehen.« Damit stelle ich meinen Mantelkragen auf und ziehe den Gürtel enger.

Jude hält mir einen Revolver hin. Ich nehme ihn und schiebe ihn mir hinten in den Gürtel, bevor ich die vergessene Halbautomatik in meiner Hand auf den Rücksitz werfe. So eine Waffe will ich nicht. Brauchen werde ich sie erst recht nicht. »Ich verlange nur von dir, dass du das Richtige tust«, sagt er.

»Genau, wie du es tun würdest«, erwidere ich scharf.

»Ich? Ich würde noch nicht mal wissen, was das Richtige ist.«

Jude lehnt sich über meinen Schoß und drückt die Beifahrertür auf. Ich klettere hinaus, zerre den Rucksack hinter mir her und lasse ihn zu Boden fallen. Die Straße gleicht einer Buckelpiste und dahinter wartet nichts als trister grauer Schotter und völlig lädierte Gebäude, deren letzte ein, zwei Wände sich mühsam aufrecht halten.

»Diese eine Sache noch und du musst nie wieder gegen deine Prinzipien handeln«, sagt Jude. »Dann bist du durch mit all den Lügen und dem Morden.«

Und ohne meine Antwort abzuwarten schlägt er die Tür zu, jagt den Motor hoch und ist verschwunden.

Sarah Crossan - Breathe Band 2 - Flucht nach Sequoia
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