QUINN
Ich stelle mich unter eine verrottete Markise, um wenigstens kurz dem Regen zu entkommen, und ziehe die Karte hervor. Wie es aussieht, liegt Sequoia über hundert Kilometer von St. Pancras entfernt, und ich hab noch nicht mal die Hälfte davon zurückgelegt. Ich bin gerade mal ein paar Tage unterwegs und schon komplett im Arsch. Und hab zudem noch viel zu viel Sauerstoff verbraucht. Jazz hat gemeint, ich soll dem Fluss bis nach Henley folgen und dann die alten Straßen nehmen. Leichter gesagt als getan. Auf ihrer Suche nach dem Hain haben die Ministeriumsleute sich an der ganzen verdammten Stadt ausgetobt und die Strecke flussaufwärts wird alle paar Meilen von irgendwelchen Trümmerhaufen versperrt.
Was hab ich mir nur dabei gedacht? Bea hat niemanden außer mir und ich zieh einfach ab und lass sie sitzen. Jetzt bin ich alleine, Bea so gut wie, und beide haben wir keine Ahnung, wann wir uns wiedersehen.
Die Plane ächzt unter dem Gewicht des Wassers, das sich in einer Ecke sammelt, und ich flüchte schnell raus in den Regen, bevor ich alles abkriege. Die Straße ist eng und dunkel, die meisten Häuser völlig hinüber. Im Staub erkenne ich Spuren von Panzerraupen. Ich trete gegen einen einsamen Turnschuh auf der Straße, stelle mir den Mantelkragen auf und mach mich wieder auf die Socken.
Hinter einer Biegung endet plötzlich die Straße. Stattdessen stapelt sich ein Riesenberg rostiger Autowracks und schrottiger Lastwagen. Bleibt nur noch klettern. Meine Füße stütze ich in Wagenfenstern und auf Seitenspiegeln ab. Ich verliere den Halt und rutsche auf nassen Fahrzeugen aus, und als ich endlich oben ankomme, bin ich heilfroh, dass der Weg vor mir frei und der Fluss in Sichtweite ist.
Doch da bewegt sich was.
Und noch was.
Zwei Leute.
Sie bleiben schlagartig stehen und gucken zu mir. Hastig hangle ich mich auf der anderen Seite wieder hinunter, ducke mich und bleibe mit der Hand an einer hervorstehenden Metallkante hängen. Die Wunde ist nicht groß, aber tief. Ich wische sie an meiner Hose ab, und da ich sonst nichts zum Reinigen habe, lüpfe ich die Maske und spucke auf die Wunde. Es brennt wie Sau. Ich balle die Faust, um nicht loszubrüllen. »Kacke«, stoße ich aus.
Ich wende mich nach links zum Fluss und folge hastig seinem Verlauf. Bei einem Ufereinschnitt, der beiderseits von etwas flankiert wird, was wohl mal steinerne Löwen waren, bleibe ich stehen. Stufen führen zu einem Steg hinab und dort liegt ein Ruderboot befestigt. Es ist weder groß noch neu, doch immerhin schwimmt es.
Da gibt’s nichts zu zögern. Ich sprinte die Stufen hinab.
Das Boot ist mit einem ausgefransten Seil vertäut, die Ruder liegen im Rumpf, außerdem ist eine Menge Kram am Boden verstreut: eine Trinkflasche, ein Atemgerät, ein Schlafsack, Socken, eine Pistole.
Weiter oben am Steg liegt ein weiteres Boot vertäut. Sie können mir also folgen, wenn sie mich ertappen, und im zweiten Kahn könnte auch eine Waffe liegen. Aber wie dem auch sei, wehren können muss ich mich. Ich springe ins Boot, das schaukelt und gegen den Steg wummert, bis seitlich Wasser reinläuft. Ich setze mich hin, um nicht im Fluss zu landen, schnappe die Pistole und schiebe sie mir in den Mantel. Dann öffne ich meinen Rucksack und stopfe den Schlafsack hinein.
Und erstarre, als ich Schritte höre. Da entdecke ich ein Mädchen, das hinter der Ufermauer in meine Richtung gerannt kommt.
Sie schießt die Stufen runter und bei meinem Anblick schreit sie: »In meinem Boot!« Als sie die untere Stufe erreicht, rutscht sie aus und bricht unten vor der Treppe zusammen.
Hastig löse ich den Knoten im Tau. »Nein!«, fleht das Mädchen. »Warte!« Sie sitzt vornübergebeugt, die Hände auf ihrem Bauch. Sie schiebt sich das Haar aus dem Gesicht und rappelt sich schwerfällig auf. Ich rudere los. Es ist schwieriger als gedacht, die Strömung hat es in sich. »Ich brauch die Sauerstoffflasche«, ruft sie. Sie trägt ohnehin schon eine und deshalb rudere ich weiter. Hat die sie noch alle? Wer bräuchte hier keine Sauerstoffflasche?
Sie reißt sich den Mantel auf. Ihr Bauch ist kugelrund. »Bitte«, schluchzt sie. »Ich bin schwanger.«
Sie kann nicht älter sein als sechzehn mit ihren Glasmurmelaugen. Ihre Jacke ist triefnass, das Haar klebt ihr im Gesicht. Ich kann kein schwangeres Mädchen berauben. So tief bin ich noch nicht gesunken.
»Du bist nicht allein hier«, stelle ich fest. Sie nickt und wirft einen Blick über ihre Schulter. Keine Ahnung, ob ich ihr trauen kann, aber ich höre auf zu rudern, um mich von der Strömung zu ihr zurücktreiben zu lassen. Ich werfe ihr das Tau zu und sie zieht es stramm und das Boot zurück zum Liegeplatz.
»Danke«, sagt sie, gerade als ein Typ in meinem Alter oben auf der Treppe erscheint. Er trägt kein Atemgerät und keucht wie verrückt. Als er näher kommt, werfe ich ihm die Flasche aus dem Boot zu. Er fängt sie auf, legt sich die Maske ans Gesicht und inhaliert ein paarmal. Seine geschwollene Unterlippe wird von zwei Veilchen gekrönt. Er sieht aus wie jemand, mit dem Silas sich verbünden würde.
»Raus aus dem Boot«, sagt er.
Ich will kein Risiko mehr eingehen: Meine Hand rutscht in den Mantel und legt sich um die Pistole. »Seid ihr Rebellen?«
»Raus aus dem Boot«, wiederholt er. Ich halte mich an einem Pfosten fest, die andere Hand immer noch an der Pistole, und ziehe mich auf den Steg.
»Ich muss westwärts«, verkünde ich.
»Wo willst du hin? Wie ein Ausgestoßener siehst du nicht aus. Und zu den Rebellen gehörst du auch nicht«, sagt das Mädchen. Sie meint wohl, dass ich aussehe wie ein verwöhntes Weichei.
»Ich muss zu einem Ort namens Sequoia.«
Das Mädchen starrt mich an und ohne ein weiteres Wort greift der Typ in seine Jacke und zieht eine Pistole raus. Ich bin völlig überfordert, deshalb schnappe ich mir meine eigene Waffe und ziele damit auf das Mädchen, eine wirklich idiotische Aktion. Es ist ja offensichtlich, dass ich nicht abdrücken werde. »Das ist echt unnötig«, sage ich.
»Wer bist du?«, knurrt er.
»Quinn heiße ich. Ich hab meine Freundin alleine mit einem sterbenden Kind in der Stadt zurückgelassen. Ich brauche einen Arzt.«
»Woher weißt du von Sequoia?«
»Im Hain hat mir wer davon erzählt«, sage ich.
»Killt ihr euch jetzt gegenseitig?«, fragt das Mädchen und platziert sich zwischen uns.
»Verzieh dich, Jo«, faucht der Junge. Der würde mich wohl wirklich töten, wenn’s drauf ankommt.
»Wir sind auch unterwegs nach Sequoia. Du kannst mitkommen.« Sie dreht sich zu dem Jungen und bedeutet ihm, die Waffe zu senken, aber er hält sie immer noch auf mich gerichtet. »Er sollte mit uns kommen«, wiederholt sie.
»Dein lila Tattoo«, sagt der Junge. »Du bist Premium-Gesocks.«
Ich berühre mein Ohrläppchen. »Das war ich, ja.« Ich stecke mir die Pistole wieder in den Mantel. »Jetzt glauben sie, ich bin tot.«
»Ach ja?«, sagt er. »Von mir glauben sie das auch.« Jo tritt zur Seite, als er endlich seine Waffe wegpackt und mir widerwillig die Hand hinstreckt. »Ich bin Abel«, sagt er.