QUINN
Ich träume von Bea und wache schweißgebadet auf, den Schädel voll mit Bildern ihres Körpers auf alten Bahngleisen und hungrigen Ausgestoßenen mit Schnabelmündern, die sich an ihr satt picken. Der blanke Horror.
Ich packe gerade meinen Rucksack, um Alina zu suchen, als Vanya in mein Zimmer geprescht kommt. »Wie war die Nacht?«
»Ein Albtraum«, sage ich, immer noch fest darin gefangen.
»In fremden Betten schlafe ich immer schlecht«, sagt sie mit diesem irren Grinsen im Gesicht. Sie wuselt an mir vorbei und zerrt die Vorhänge auf. »Was für ein herrlicher Tag!«
»Nicht für meine Freunde. Die brauchen Hilfe, und zwar schnell.« Ich gehe zur Tür. »Habt ihr einen Geländewagen?«
»Einen Geländewagen? Na klar haben wir einen Geländewagen, Quinn. Wir sind hier ja nicht im Hain.« Sie setzt sich ans Ende des Betts und klopft einladend neben sich. Ich bleibe, wo ich bin.
»Da draußen verblutet ein Mädchen«, sage ich und deute aus dem Fenster.
»Klingt ernst.« Sie verlagert ihr Gewicht, dass die Sprungfedern quietschen. Je gefasster sie ist, desto ungeduldiger werde ich. Wenn sie nicht helfen will, was will sie dann?
»Gibt’s hier einen Arzt oder eine Krankenschwester? Ich brauche einfach nur einen Wagen und einen Sanitäter… bitte.« Ich bin es nicht gewohnt, um irgendwas betteln zu müssen, aber jetzt würde ich ohne zu zögern vor ihr auf die Knie sinken und ihr die Füße lecken, wenn sie mir nur helfen würde. Eigentlich würde ich alles tun, absolut.
»Hier kommt keiner mehr raus.« Dabei grinst sie, als sei das ein Witz statt eine Sache von Leben und Tod.
»Ich lass aber meine Freunde nicht verrecken!«, brülle ich.
Auf ihrem Weg zur Tür drängt sie sich widersinnig dicht an mir vorbei und erklärt mir ganz langsam und überdeutlich: »Wir sind kein Hotel hier, Quinn. Du kannst nicht eben mal vorbeischauen und dann frisch geduscht, vollgefressen und ausgeschlafen wieder deiner Wege gehen. Das hätte Abel dir klarmachen sollen. Ich hab für heute Nachmittag ein paar Tests für dich anberaumt. Wenn du hier leben willst, schlage ich vor, du ziehst einfach mit. Diese ganzen Querschläger hier gehen mir langsam schwer auf die Nerven.«
»Ich versauer doch nicht hier, während die anderen noch da draußen sind. Wie durchgeknallt bist du eigentlich?« Ich packe sie am Arm und sie wirbelt herum und scheuert mir eine, wären wir hier in der Wildnis oder so. Sie ist stärker, als sie aussieht.
»Fass mich nie wieder an«, faucht sie.
Ich drücke mich an ihr vorbei, raus in den Flur. »Wo soll’s denn hingehen?«, fragt Maks.
Vanya lässt ihre Fingerknöchel knacken, in ihrem Hals pulsiert eine Ader. »Schaff ihn in die Zelle. Verpass ihm ein paar Beruhigungspillen und check ihn ordentlich durch.« Und damit macht sie kehrt.
»Du bist schlimmer als Petra«, sage ich.
Vanya fährt herum. »Das nehm ich mal als Kompliment.«
»Und das war’s dann also. Soll Jazz halt draufgehen, oder was?« Ich schiebe Maks von mir weg und weiche zurück. Er mag ein Koloss sein, aber ich bin schnell. Wenn ich renne, hab ich eine Chance.
»Jazz?«, fragt Vanya zögerlich.
»Ja. Sie ist nur ein Kind.«
»Na, das ändert die Sache. Komm mit.«
Während ich wertvolle Zeit in Vanyas Boudoir vergeude, werden Maks irgendwelche Aufträge zugeteilt. Vanya ist nicht mehr eiskalt und gruselig, sie ist völlig aus dem Häuschen. Ununterbrochen feuert sie irgendwelche Fragen auf mich ab: »Wer ist diese Bea? Wie alt ist das Kind? Wo wurde sie geboren? Wer sind die Eltern? Wie ist sie im Hain gelandet?« Fragen, die ich nicht beantworten kann – und je weniger von mir kommt, desto unruhiger wird Vanya.
Schließlich schleift Maks Alina und Dorian ins Zimmer. »Was wird das hier?«, fragt Alina.
»Ihr habt erzählt, alle im Hain seien umgekommen. Das war gelogen«, sagt Vanya.
»Die haben alles plattgemacht«, sagt Dorian. Er schielt zu Maks, der jetzt ihn zum Prügelknaben erkoren zu haben scheint, nachdem ich ihm durch die Lappen gegangen bin.
»Quinn hat erzählt, es gab noch mehr Überlebende«, sagt Vanya.
»Wie sollen wir das wissen?«, giftet Dorian. »Sein Vater war derjenige, der den Hain zerstört hat. Was hat der hier überhaupt zu suchen?«
Alina rammt Dorian ihren Ellbogen in die Seite. Maks grinst schief. »Auf Quinn ist Verlass«, sagt sie. »Wenn er sagt, es gibt Überlebende, dann ist das auch so. Wir haben’s nur einfach nicht gewusst.«
Vanya geht zur Oxybox an der Wand und inhaliert tief. »Also waren noch Leute drinnen, als ihr getürmt seid?«
»Wir haben alles versucht, Petra rauszuschaffen«, sagt Dorian. »Sie hat sich geweigert. Sie ist auf einen Baum geklettert und einfach nicht runtergekommen. Wir haben keine Ahnung, was mit den anderen passiert ist, weil wir alle an unterschiedlichen Orten postiert waren. Aber Petra – sie war einfach wild entschlossen zu sterben.« Dorian redet jetzt ohne Punkt und Komma, völlig atemlos.
»Quinn hat ein Kind aufgelesen«, sagt Vanya. »Wer könnte das sein?«
Mit dieser Frage haben Alina und ich schon gerechnet, aber sie gibt trotzdem vor, drüber nachzudenken.
»Das einzige Kind im Hain war Jazz«, betont sie. »Wir haben versucht, sie zu retten, aber sie wollte Petra nicht zurücklassen.«
Vanya trommelt sich aufs Kinn und mustert mich scharf. »Das gefällt mir alles gar nicht«, sagt sie.
»Hilf mir, sie zu finden«, beharre ich.
Vanya wendet sich an Maks. »Mach die Zip startklar.«
»Danke.« Ich seufze auf.
»Ich mach das nicht für dich«, sagt Vanya. »Nur für meine Tochter.« Sie marschiert ins Badezimmer nebenan und lässt uns alle fassungslos zurück.
Maks hat eine Hand auf Dorians, eine auf Alinas Schulter. Er schiebt sie beiseite und stürmt Vanya hinterher. »Jazz ist deine Tochter?«, fragt er.
»Ja«, ruft Vanya aus dem Bad. »Und jetzt geh und finde sie.«