ALINA
Nach Sequoia segeln: kein Kinderspiel, ganz klar, aber auf Eisregen und Sturmböen ist dann doch keiner gefasst gewesen. Der kleinste Fehler und wir ertrinken in diesem Fluss.
»Hilfe«, schreie ich, verlagere mein ganzes Gewicht in die Fersen und lasse mich nach hinten kippen, um die Takelage am Wegrutschen zu hindern. Der Regen peitscht senkrecht auf uns nieder und verwandelt das Deck in eine Eisfläche. Das Boot knarrt und schlingert vorwärts, mein Cousin Silas kommt auf mich zugetaumelt und schnappt sich das Tau. Er zurrt es stramm und ich verknote hastig das Ende, damit sich die Segel nicht zu stark aufblähen und uns zum Kentern bringen. »So geht’s erst mal«, beschließe ich. Im Windgetose klingt meine Stimme ganz dünn.
Silas zieht sich die Kapuze über den Kopf. Seit wir die Segel gesetzt haben, hat er kaum ein Wort gesagt. Keiner von uns hat das. Was soll man auch reden, jetzt, wo der Hain in Schutt und Asche liegt, wo alles Geschichte ist, wofür die Rebellen jemals gekämpft haben.
Wenigstens lässt uns der Sturm keine Gelegenheit für trübe Gedanken: an die Schreie, das Blut, die Panzer, die heranstürmenden Soldaten mit ihren Gewehren, unsere toten Freunde im Staub. Und an die Bäume, unseren ganzen Wald, der vor unseren Augen zusammenschrumpelt. Der Geschmack des ätzenden Schaums klebt mir immer noch im Rachen.
Ich folge Silas in die Kajüte, wo unsere winzige Truppe von Überlebenden Schutz vor dem Sturm gesucht hat. Meine Hände brennen immer noch vor Kälte. Ich versuche es mit Reiben, bis ich sie mir in den Mantel unter die Achselhöhlen schiebe.
»Wir haben alles so gemacht, wie du’s gesagt hast«, melde ich Bruce. Wer hätte gedacht, dass ich mal so dankbar sein würde, einen Ausgestoßenen zum Verbündeten zu haben? Was auch immer der alte Mann damals im Auftrag des Ministeriums verbrochen haben mag – das interessiert jetzt niemanden mehr. Ohne ihn hätten wir das Boot niemals flottbekommen, vom Navigieren durch ein Unwetter mal ganz zu schweigen.
»Gute Arbeit«, brummt er und kratzt sich den grauen Bart, ohne den Blick vom schmutzigen Fenster zu wenden, durch das man die Silhouetten der Ufergebäude kaum erkennen kann.
Das Boot macht einen bedrohlichen Schlenker und reißt das Steuerrad aus Bruce’ knotigen Händen. Mein Magen muckt auf. Ich reguliere das Ventil an der Sauerstoffflasche an meinem Hosenbund, bis der zusätzliche Sauerstoff durch den Schlauch zischt, und atme tief durch die Nase. Während Silas mit Bruce das Steuerrad unter Kontrolle bringt, kauere ich mich neben Maude. Die alte Frau hat ihre Decke wie ein Leichentuch um sich gewickelt, nur ihr Kopf und ein dürrer Arm ragen noch raus. »Hast du alle Sauerstoffflaschen unter Deck geschafft?«, frage ich. Ohne Luft können wir uns genauso gut in den Fluss stürzen und dem Leid gleich ein Ende bereiten.
»Für wie bescheuert hältste mich eigentlich? Da drüben.« Sie deutet in eine Kajütenecke, wo sich die Flaschen fein säuberlich stapeln. Sieben sind wir, zehn haben wir noch. Wie viele Sauerstofftage bleiben uns da? Wie viele Stunden?
Aus der Ecke gegenüber kommt ein Schluchzen. Dorian und Song, Rebellen wie ich, beugen sich über Holly, eine Gärtnerin aus dem Hain. Ich kenne sie nicht gut, aber jeder Überlebende zählt.
Ich schnappe mir eine Sauerstoffflasche und schwanke in ihre Richtung. Holly schlottert, dass die Zähne klappern. Obwohl sie mit Song und Dorian im Hain gelebt und gelernt hat, mit sauerstoffarmer Luft auszukommen, atmet sie hektisch und flach. »Sie hyperventiliert. Sie braucht eine von denen hier.«
Dorian richtet sich auf und fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Das wird sie garantiert nicht wollen.«
Ich versuche, ihr die Stirn zu fühlen, doch sie schlägt meine Hand fort und zerkratzt sie mit ihren Nägeln.
»Die hat se nich mehr alle«, schnarrt Maude und pult an ihrem schorfigen Ellbogen herum.
Die Hände fest am Steuer späht Bruce unter dichten Augenbrauen rüber zu Holly und seine Miene verrät genau, dass er so etwas nicht zum erstem Mal sieht. Natürlich nicht. Auch damals nach dem Switch sind die Leute durchgedreht, als der Sauerstoffgehalt in den Keller ging und alle schleichend erstickten. Maude und er haben es überlebt. Doch was sich hier abspielt, fühlt sich schwer nach Untergang an. Es ist schlimmer als je zuvor. »Die kommt schon wieder in Ordnung«, brummt Bruce. Maude schnaubt, spart sich aber den Kommentar. So herzlos ist sie auch wieder nicht.
Holly murmelt irgendwas vor sich hin. »Was gibt’s, Holl?«, fragt Song. Er fasst sie nicht an. Stattdessen drückt er sich die schlanken braunen Hände aufs eigene Herz, als könne er ihre Gefühle teilen. In seinen Augen stehen Tränen und Schmerz. Sind die beiden etwa zusammen? Romantische Beziehungen unter Rebellen waren stets tabu, aber vielleicht wurde diese Regel weniger streng befolgt, als ich dachte. Silas und Inger waren ja schließlich auch ein Paar.
»Luft«, stöhnt Holly. Song greift nach der Sauerstoffflasche, doch Holly schüttelt den Kopf. »Frische Luft«, sagt sie, als stünde die zum Angebot.
Dorian seufzt. »Wir segeln mitten durch ein Unwetter.« Wie in Reaktion auf seine Warnung kippt das Boot nach hinten.
»Lass uns abwarten, bis es vorüber ist«, beschwichtigt Song.
Holly starrt auf ihre Stiefel, die mit schwarzem Schaum verkrustet sind. »Ich will raus, die Luft spüren.« Sie beißt sich auf die Unterlippe und zupft sich an der Hose rum. »Dann können wir vielleicht zum Hain zurück und duschen, zum Aufwärmen.«
Ich beneide Holly um ihre Traumwelt. Ich könnte auch eine kleine Auszeit von der Realität vertragen, damit das, was wir da mit ansehen mussten, nicht mehr so wehtut. »Ich nehm sie kurz mit raus«, sage ich. »Vielleicht bringt’s ja was.«
Holly steht auf und zieht sich die Kapuze über die kurzen braunen Locken. Ihre Nase und die Ohren sind schon knallrot gefroren. »Wo steckt Petra?«, will sie wissen.
Ich nehme sie bei der Hand und führe sie zur Kajütentür. »Die ist noch im Hain und kümmert sich um die Bäume«, sage ich. Nicht völlig gelogen. Statt mit uns zu flüchten, hat sich unsere Anführerin fest um einen todgeweihten Baum geklammert. Petra hat es nicht über sich gebracht, ihre Lebensaufgabe zurückzulassen. Und den vollen Preis dafür bezahlt.
Ich denke an Jazz, die in Hochgeschwindigkeit einen Baum raufkraxelt, nur um bei Petra zu sein, und meine Kehle schnürt sich zu. Jazz war nur ein Kind. Sie hatte den Tod nicht verdient. Keiner hatte das. »Alina?«, fragt Dorian hinter meinem Rücken.
»Nur ein paar Minuten.« Damit stemme ich die Tür gegen den Wind auf.
Holly und ich kehren dem peitschenden Regen den Rücken zu und machen uns auf Richtung Bug. Ich gebe ihre Hand frei und sie umklammert die Reling, beugt sich vornüber und lächelt. Sie lässt sich die beißende Gischt ins Gesicht spritzen, dass ihr das Wasser den Hals runterrinnt. Das Boot wird von einer mächtigen Welle geschaukelt, meine bloßen Hände krallen sich ums Geländer, doch Holly lässt einfach los. War wohl ein Fehler, sie hier rauszubringen. »Komm, gehen wir wieder in die Kajüte.«
Holly blinzelt in die verschwommene Ferne, ihre Unterlippe bebt. »Ich hab gewusst, dass wir den Krieg verlieren«, sagt sie. Durch das Tosen von Wind und Wellen klingt es wie ein Flüstern.
Ich mache ihr erst gar nicht vor, wir hätten nicht verloren, denn das wäre wirklich eine Lüge. Wir sind jetzt nicht besser dran als die Ausgestoßenen, Flüchtlinge unterwegs nach Sequoia, in der Hoffnung, dort Obdach zu finden. Bis auf unser Leben ist uns nichts geblieben und ich habe meine Zweifel, ob das genug sein wird. Als würde sie meine Gedanken lesen, steigt Holly auf die unterste Querstange der Reling und hievt sich auf die andere Seite, bis sie wie eine lebendige Galionsfigur über dem Bug schwebt. Ich grapsche nach ihr.
»Holly, was soll das? Schaff deinen Arsch wieder hier rüber.«
Das Boot kippt nach vorne und sie beginnt zu schluchzen. »Lass mich los.«
Jetzt rutschen mir auch noch die Füße weg. »Helft mir!«, schreie ich.
Binnen Sekunden haben sich fast alle um uns geschart und mit Songs Hilfe zerre ich Holly übers Geländer zurück. Kaum liegt sie wieder sicher an Deck, schüttelt er sie durch. »Was soll der Scheiß? Was hast du dir dabei gedacht?« Er senkt seinen Kopf auf Hollys Bauch und bricht in Tränen aus. Holly streichelt Songs dicke Locken und starrt in die Wolken.
»Wir tragen sie rein«, sagt Dorian und durchbohrt mich mit seinem Blick.
»Wie soll ich bitte ahnen, was sie vorhat?«, sage ich.
Dorian schüttelt den Kopf und schiebt seine Hand unter Hollys Schultern.
Obwohl der Regen immer noch auf das Boot klatscht, hat sich der Sturm etwas gelegt und das Segeln wird leichter. Dorian, Holly und Song dämmern in ihrer Ecke vor sich hin. Bruce und Maude tuscheln und streicheln einander die runzligen Hände. Silas steht hinterm Steuer. Ich gehe zu ihm rüber und starre durchs gesprungene Kajütenfenster nach draußen. Die Ruinen entlang des Ufers, seit Jahrzehnten vergessen, bröseln bereits in den Fluss. »Du hättest sie einfach springen lassen sollen.«
»Ist das dein Ernst?« Ich muss schwer schlucken. Ist es so unwahrscheinlich, dass wir durchkommen?
»Dorian behauptet zu wissen, wo Sequoia liegt, aber als ich ihm die Karte unter die Nase gehalten habe, war er reichlich schwammig in seinen Angaben. Soweit ich’s beurteilen kann, bleibt uns ein Suchradius von über fünfzehn Kilometern.«
»Wir finden den Weg. Wir haben schon ganz andere Dinge geschafft, Silas.«
»Ich bin mir da nicht so sicher. Wie lange reicht unser Sauerstoff noch, deiner Einschätzung nach?« Ich schiele rüber zu den Flaschen und dann zu Maude und Bruce, die in ihre Atemmasken schnaufen. Maude blickt auf und schickt mir einen völlig unverdienten finsteren Blick. Nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben, sind wir immer noch nicht warm miteinander.
»Uns bleiben noch ein paar Tage«, sage ich.
»Wenn überhaupt«, meint Silas, die Augen auf die verbrannte Sonne gerichtet.
»Irgendein besserer Vorschlag?«, frage ich. Nicht, weil ich in Streitlaune wäre, sondern weil ich tatsächlich auf irgendeinen Geistesblitz von ihm hoffe.
Er schüttelt den Kopf. »Wenn wir nicht als Ausgestoßene leben wollen, bleibt uns nur Sequoia. Wenn wir’s dorthin schaffen, können wir weiter unsere Pflanzen züchten und Kontakt mit Mom und Dad in der Kuppel aufnehmen.« Er verstummt und guckt mich an. Seine Augenränder sind ganz rot, auch wenn ich nicht beurteilen kann, ob das jetzt an dem Schaum liegt, mit dem die Armee des Ministeriums den Hain vernichtet hat, an Müdigkeit oder schierer Verzweiflung.
Ich nehme Silas beim Arm. »Harriet und Gideon geht es bestimmt gut«, sage ich. Selbst wenn in der Kuppel der Bürgerkrieg ausgebrochen sein sollte, sind mein Onkel und meine Tante viel zu gewieft, um sich erwischen und umbringen zu lassen.
Ein heftiger Windstoß schubst das Boot auf die Uferböschung zu und Silas reißt das Ruder scharf nach links. Ich verliere das Gleichgewicht und lande voll mit dem Gesicht auf dem Boden. Ein zäher, metallischer Geschmack füllt meinen Mund.
»Sorry«, meint Silas. »Geht’s wieder?«
»Alles okay.« Ich lüpfe meine Maske und wische mir mit dem Ärmel das Blut ab. Es gibt Umstände, da jammert man nicht über eine aufgeplatzte Lippe.
Maude fährt hoch. »Stopp!«
Ich will die Alte gerade anpfeifen – sieht sie denn nicht, dass Silas sich ein Bein ausreißt, um das Boot aufrecht zu halten? –, da ertappe ich im Umdrehen eben noch Holly, die sich aus der Kajütentür stehlen will. Ich sprinte ihr hinterher. »Holly, nicht!«
Sie ist schon beim Bug, auf halbem Weg über die Reling. Als ich sie einhole, baumelt sie bereits über den Fluten und schlingert mit der Strömung von einer Seite zur anderen. Und sie lächelt. Silas’ Worte schwirren mir durch den Kopf – Du hättest sie springen lassen sollen. Aber das bringe ich nicht. Sie steht ja völlig neben sich.
»Morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus, Holly.« Ich packe sie am Arm.
»Morgen ist gar nichts besser.« Sie dreht sich kurz um und fängt meinen Blick ein. »Alles ist hin.«
»Wir müssen weiter hoffen«, sage ich.
Holly lacht freudlos. »Meine Hoffnungsvorräte sind aufgebraucht«, meint sie und löst ihre Finger. Ich schieße vor, kralle mich in Hollys Arm fest, aber sie ist so schwer, dass ich sie nicht lange halten kann. Eine brutale Ladung Gischt sprüht unter dem Kiel hoch und durchweicht sie bis auf die Knochen. Doch der Blick, den sie mir von unten zuwirft, könnte gelassener nicht sein. Meine Finger brennen.
»Du tust mir weh«, sagt sie. Und dann passiert es: Ihre nasse Haut entgleitet meinem Griff.
Holly klatscht aufs Wasser und wird verschlungen. Und ich kann nur dabei zuschauen.
Schwere Schritte poltern über Deck. »Holly!«, brüllt Song. Er beugt sich über die Reling und sucht die Wellen ab, die sich am Rumpf brechen.
Doch Holly ist nicht mehr.
Ich wende mich ab.
Alle sind an Deck und starren mich an, alle bis auf Bruce.
»Ich konnte sie nicht mehr halten«, sage ich.
»Holly?«, wimmert Song.
Dorian schlingt einen Arm um ihn und zieht ihn vom Geländer weg.
»Wir legen über Nacht an«, verkündet Silas. »Und jetzt rein, aber allesamt.«
Schweigend trotten wir einer nach dem anderen in die Kajüte. Ich gleite zu Boden. Einer von Hollys braunen Stiefeln liegt noch neben den Sauerstoffflaschen, mit losen, ausgefransten Schnürsenkeln.
Die Schuld nehme ich jetzt aber nicht auf mich. Ich konnte sie einfach nicht halten. Sie ist ganz bewusst in den Tod gegangen. Ich schließe die Augen und presse mir die Fingerknöchel gegen die Augenlider.
Die Kälte spüre ich nicht mehr. Gar nichts mehr spüre ich.
»Das arme Mädel hat den Kampf verloren«, sagt Bruce zu niemand Bestimmten.
Und ich kann mich nur fragen: Wofür kämpfen wir überhaupt?