QUINN
Bea, Old Watson, an die dreißig Rebellen und ich flüchten aus dem Justizgebäude. Die Straße ist voller aufgescheuchter, panisch herumwuselnder Seconds, die meisten von ihnen irgendwie bewaffnet. Ein Junge in meinem Alter hechtet an mir vorbei, doch ich halte ihn fest. »Was ist hier los?«
»Die Arschlöcher haben in Zone Drei die Luft aus den Wohnungen gesaugt.« Er reißt sich los und rennt weiter. Aus den Lautsprechern ertönt eine automatische Durchsage in Dauerschleife. Luftrationierungsplan Stufe Drei aktiv. Premiums werden ersucht, ihre Häuser nicht zu verlassen. Luftrationierungsplan Stufe Drei aktiv. Premiums werden ersucht, ihre Häuser nicht zu verlassen.
Wir tauschen nervöse Blicke aus, als Silas’ Vater Gideon sich an mich wendet.
»Wir brauchen Sauerstoffflaschen.«
»Da lang«, sage ich.
»Wohin gehen wir?« Er fällt neben mir in Gleichschritt.
»Forschungslabore.«
Wir eilen eine Straße hoch, die sich rapide leert, da immer mehr Seconds versuchen, über Zäune und hohe Mauern in die Premium-Häuser einzudringen. Das Chaos ist komplett: Fenster werden eingeschlagen, Schüsse abfeuert. Ich bremse ab. »Meine Brüder«, sage ich.
Gideon schüttelt den Kopf. »Keine Zeit jetzt.«
»Ich hol sie«, erkläre ich entschlossen.
»Gut. Wir treffen uns in einer Stunde an der Grenze. Gib mir die Schlüssel, ich finde die Flaschen schon«, sagt Gideon. Ich werfe ihm den Bund zu.
»Was ist mit Jazz?«, fragt Old Watson. Obwohl er direkt neben mir steht, scheint seine Stimme von weit her zu kommen. Er ist viel blasser und greisenhafter als noch vor ein paar Tagen. Für solche Aktionen ist er nicht geschaffen. Aber wer ist das schon?
»Das Krankenhaus ist nicht weit weg. Ich hol sie«, sagt Bea und will losstürmen, doch ich packe sie bei den Schultern. »Jetzt machen wir doch wieder alles im Alleingang«, klage ich. So war das nicht geplant. Geplant war, Bea zu finden und nie wieder aus den Augen zu lassen.
Sie lächelt. »Manche Dinge sind wichtiger als wir«, sagt sie und ich küsse sie. Millionen von Dingen mögen wichtiger sein als wir, aber mir will keines einfallen, das wichtiger wäre als sie. »In einer Stunde an der Grenze«, wiederholt sie.
Die Seconds drängen mit kaputten Flaschen und Eisenrohren in meine Straße. Ich rase an ihnen vorbei, rauf zu unserem Haus. Meine Brüder und meine Mutter hängen vor dem Bildschirm, über den gerade die Nachrichten flimmern – Explosionen, aufwirbelnder Staub.
Lennon erblickt mich und winkt. Keane tut es ihm nach. Als ihnen gleichzeitig klar wird, dass ich eigentlich gar nicht hier sein sollte, springen sie auf und klammern sich an mich. »Quinn, bist du das wirklich?«, fragt Keane. Er boxt mich in die Rippen. Meine Mutter dreht sich um wie eine batteriebetriebene Puppe, bevor ihr die Kinnlade runterfällt.
»Ich hab dir doch gesagt, er ist nicht tot«, sagt Lennon. Ich küsse ihn auf die Stirn und drücke Keane an mich. Mann, haben die mir gefehlt.
Meine Mutter watschelt auf mich zu, sich am Sofarücken abstützend. Boah – so rund, wie sie ist, könnte mein Bruder jederzeit rausgeploppt kommen. »Wir gehen«, sage ich.
»Oh, Quinn, mein Liebling.« Sie umklammert meinen Arm, doch ihre Augen bleiben ausdruckslos.
»Wir haben noch zwei Minuten, bis die Seconds hier reinstürmen«, sage ich. Auf der Straße geht irgendwas in die Luft und meine Mutter fährt auf. Vielleicht eher eine Minute. »Los!«
Meine Mutter lächelt gönnerhaft. »Wir sind hier in Sicherheit. Mach dir um uns mal keine Gedanken.« Sie versucht, die Zwillinge von mir loszueisen, doch die klammern sich nur noch fester an mich. Nicht, dass sie lieber bei mir wären als bei ihr. Aber wenn sie mitkommen, könnte ich sie wenigstens retten.
»Sie gehen mit mir«, sage ich. »Keine Diskussion. Kommst du auch?« Ich will nicht, dass sie stirbt. Immerhin ist sie meine Mutter.
»Weißt du überhaupt, was du angerichtet hast? Dein Vater ist nicht mehr der Alte, seitdem du –« Sie drückt sich Daumen und Zeigefinger gegen die Augenlider, atmet hektisch ein und hält sich den Bauch.
»Mom?«, fragt Keane. Ich halte ihn fester. Das ist alles nur Show.
»Du hast unsere Familie zerstört.« Sie beginnt zu schluchzen, fette Tränen rinnen über ihre Wangen. Aber sie weint nicht um mich.
»Ich nehm noch Lebensmittel und Sauerstoffflaschen mit«, sage ich.
»Nimm, was du willst, aber lass mir bitte die Jungs da«, wimmert sie. Ein Stein bricht durchs Wohnzimmerfenster und sie kreischt auf. Sie geht in die Knie und schirmt sich den Kopf mit den Händen ab.
»Geht und packt ein paar Sachen zusammen! Schnell!« Ich schubse meine Brüder zur Treppe. »Mom, wir müssen alle gemeinsam gehen«, flehe ich. Ich kann sie hier nicht einer Horde plündernder Zweitklassbürger überlassen.
Sie blickt vom Boden auf. »Du hast dir dein Leben selbst ausgesucht. Versuch nicht, uns alle mit runterzuziehen.« Ein weiteres Fenster muss dran glauben und ein Schraubenzieher landet auf dem Sofa. »Was passiert da? Die Welt spielt ja völlig verrückt!«
Ich ziehe sie hoch. »Die Welt ändert sich, sonst nichts. Und du musst dich mit ihr verändern.«
»Die machen mir mein schönes Haus kaputt«, jammert sie.
»Du musst ein paar Sachen zusammenpacken.« Ich schiebe sie über den Flur und ins Schlafzimmer.
Dann renne ich den Flur hinunter in den Keller, wo ich so viele Sauerstoffflaschen zusammenraffe, wie ich nur kann. Oben stehen Keane und Lennon schon mit ihren Rucksäcken am Fuß der Treppe. Sie sind bereit, alles hinter sich zu lassen und mir zu folgen.
»Mom!«, brülle ich.
Sie erscheint in einem schweren Mantel. Ihre Wut scheint verraucht. Wimmernd umklammert sie ihren Bauch.
»Das Baby kommt«, sagt sie.