BEA

Als ich auf dem kalten Bahnhofsboden erwache, ist Quinn verschwunden.

»Petra.« Jazz versucht, sich aufzusetzen. Sie kreischt auf und bricht erneut auf den Fliesen zusammen. Ich rutsche näher an sie heran und schiebe Quinns Rucksack unter ihr Bein, um es hochzulegen und die Blutung zu stoppen. Dann bette ich ihren Kopf in meinen Schoß. »Ich dachte, das wäre ein Albtraum«, schluchzt sie wieder und in ihren Augen lese ich, dass nicht die Schmerzen daran schuld sind.

Nach ein paar Minuten hallt ein Geräusch durch den Bahnhof. »Quinn?«

»Komme schon!« Und da ist er wieder. »Ich hab einen Schrei gehört.« Er legt ein rostiges, verbeultes Solar-Atemgerät neben uns ab.

»Das war ich«, murmelt Jazz.

Er streicht ihr das Haar aus den Augen und kauert sich neben sie. »Wie schlimm ist es?« Behutsam legt er ihr die Hand auf die Stirn.

»Mir geht’s gut«, weicht sie ihm aus. Mit flatternden Lidern lässt sie sich wieder in die Bewusstlosigkeit fallen.

Quinn wendet sich an mich. »Da oben liegen tonnenweise Atemgeräte. Hier muss es von Ausgestoßenen nur so gewimmelt haben. Aber jetzt ist keine Menschenseele mehr da. Es wird euch nichts passieren.« Er setzt ein Lächeln auf.

»Was redest du da?« Ich schlucke mühsam.

»Hör mir erst mal zu, Bea.«

»Nein«, wehre ich ab.

»Wir können sie nicht quer durchs Land schleppen.«

»Du willst gehen?«

»Einer von uns muss Hilfe holen und ich lass dich da nicht allein raus.«

Ich will nicht ohne ihn sein. Nicht schon wieder. Überhaupt nie wieder. Ich versuche zu sprechen, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken und ich muss husten. Er klopft mir auf den Rücken. »Gib mir die Karte und lass mich gehen«, bittet er.

»Aber wohin? Wohin willst du denn gehen, Quinn?« Meine Stimme ist jetzt mehr ein Quietschen.

»Ich werde Sequoia finden. Das Lager muss groß genug sein für eine ganze Gemeinschaft, das kann ich ja wohl nicht verfehlen. Irgendwer dort kann bestimmt helfen und dann komm ich zurück. Alina wird dort sein.« Er senkt die Stimme. »Wenn wir zusammen hierbleiben, hat Jazz keine Chance.«

»Es muss noch eine andere Möglichkeit geben.« Die Wucht der Ereignisse bricht voll über mir zusammen und ich heule los. Ich will stärker sein, ich weiß nur einfach nicht wie.

Er schlingt die Arme um mich, umarmt und stützt mich gleichermaßen. »Ich komme wieder. Ich versprech es dir«, sagt er.

Das haben mir meine Eltern auch versprochen und dann habe ich sie nie wiedergesehen. Umarmen darf er mich. Aber glauben, das kann ich ihm nicht.

»Funktionieren tun sie. Ich hab’s ausprobiert«, sagt Quinn. Er lädt ein weiteres Solargerät ab, dreht einen Knopf, stupst mit dem Fuß dagegen und vereint lauschen wir, wie das uralte Teil sich erfolgreich abmüht. »Mitnehmen kann man sie auch… falls du musst.« Ich nicke, obwohl die Solargeräte so riesig sind, dass ich sie im Leben nicht hochwuchten könnte. »Aber du solltest hierbleiben, damit ich dich dann auch finden kann.«

Neben mir winselt Jazz und rollt sich im Schlaf auf die Seite.

»Welcher Tag ist heute?«, frage ich. Ich brauche etwas, um auf dem Boden zu bleiben, irgendwas Verlässliches, Vorhersagbares. Wenn ich nicht mal weiß, wann er gegangen ist, wie soll ich dann wissen, wann ich ihn zurückerwarten kann? Wann ich aufhören soll mit Warten?

Quinn blinzelt und rechnet mit den Fingern nach. »Montag«, sagt er. »Oder Dienstag. Sagen wir mal Montag. Schau, jedes Mal, wenn die Sonne aufgeht, wirfst du hier was rein.« Er deutet auf einen angelaufenen Trinkbrunnen an der Wand.

»Und wann hör ich damit auf?«

»Bea.« Er seufzt. »Ich komm wieder.«

»Geh nicht«, bittet Jazz. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. »Nimm mich doch huckepack. Ich bin leicht. Ich bin echt total leicht.«

Sie ist schweißnass vom Fieber. »Du brauchst deine Kraft noch«, erkläre ich ihr.

Quinn knöpft sich den Mantel zu. »Sag mir, dass es so am besten ist«, bittet er. »Sag mir, dass ich hier das Richtige mache.« Ich gebe ihm keine Antwort, folge ihm jedoch nach draußen in die Geisterstadt. In der Sonne ist der Schnee etwas angetaut. Die Luft ist immer noch eiskalt. Ich drücke das Kinn auf die Brust.

»Mit deiner Luft kommst du nicht weit.«

»Hör auf«, sagt er.

»Hör du auf«, sage ich.

»Bea…« Er nimmt mich beim Handgelenk, hebt seine Maske, schiebt meinen Ärmel zurück und küsst meinen Arm. Ich schließe die Augen und er zieht mir den Handschuh aus und küsst meine Handfläche. Letztlich muss er die Atemmaske wieder zurückschieben, doch er schließt mich in die Arme. Ich lege mein Kinn auf seine Schulter. »Ich weiß nicht mehr, was in deinem Kopf vorgeht«, sagt er.

»Ich weiß selbst nicht mehr, was in mir vorgeht.« Ich hole tief Luft und schiebe mir das Haar aus dem Gesicht. »Wenn Jazz stirbt und du nicht zurückkommst, mach ich mich selbst auf nach Sequoia«, stelle ich klar.

Er blickt zu den geborstenen Fensterscheiben im Backsteinbau empor und nickt. »Gib mir zwei Wochen. Zwei Wochen kannst du hier überstehen.«

»Ja«, sage ich, obwohl wir beide wissen, dass Jazz es nicht so lange machen wird.

So stehen wir noch ein paar Augenblicke da, halten Händchen und starren auf unsere Stiefel im Dreck.

»Warum hab ich nur so ewig gebraucht, um dich zu erkennen?«, fragt er. Er legt mir die Hände in den Nacken und zieht meinen Kopf zu sich, bis wir Stirn an Stirn stehen. »Ich liebe dich. Das weißt du, oder?«

Ich nicke, erwidere aber nicht, dass ich ihn auch liebe. Vielleicht kehrt er zurück, vielleicht auch nicht, aber meine Liebe hat darauf überhaupt keinen Einfluss.

Sarah Crossan - Breathe Band 2 - Flucht nach Sequoia
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