56.

Peking, China
Tatarenstadt
Russische Botschaft
10. Juli 1900
Ortszeit: 11.04 Uhr

Als Wilson sah, dass der Himmel über den Yanshan-Bergen dunkler wurde, war er erleichtert und bekam zugleich Angst. Der Zeitpunkt, an dem er Randall gegenübertreten würde, rückte näher. Es war jetzt wichtig, bis zum frühen Abend positiv zu denken und konzentriert zu bleiben.

Seit drei Wochen und rund um die Uhr hielt nun der Kampf um die Pekinger Botschaften bereits an. Während der ersten Woche rückten die Boxer ein beträchtliches Stück vor, indem sie permanent die Haupttore und Straßeneingänge angriffen, doch sie wurden durchweg aufgehalten, weil die Verteidiger ausgezeichnete Schützen waren und weil sich auf den Straßen die Leichen türmten. Zum Äußersten entschlossen, steckten die Boxer schließlich den Mongolenmarkt und die Hanlin-Bibliothek in Brand, die beide an die deutsche Botschaft grenzten. Die Feuer gerieten außer Kontrolle, der Rauch war quälend, doch die Flammen griffen nicht auf das Botschaftsgelände über.

In der zweiten Woche gelangte das Gerücht zu ihnen, der Meister persönlich streife draußen umher und sei an einem Angriff auf das westliche Ende der Gesandtschaftsstraße beteiligt gewesen. Zum Glück für die Verteidiger war dort die Gatling, das amerikanische Maschinengewehr, postiert, und der Vormarsch der Boxer konnte damit gestoppt werden. Am Tag nach diesem missglückten Angriff wurden die Boxer plötzlich erfinderisch. Sie fingen an, die Grundstücksmauern zu untergraben und mit Dynamit zu füllen. Die schweren Explosionen erzeugten große Angst bei den Alliierten. Doch die eigentliche Gefahr drohte von den Boxerhorden auf den Straßen, die das Gelände stürmen würden, sobald die erste Bresche gesprengt war. Mit Wilsons Hilfe verstanden sich die Alliierten immer besser darauf, die Truppenbewegungen der Boxer zu deuten, verlegten ihre Verteidigungsposten und schlugen jeden Angriff zurück.

In der letzten Woche wechselten die Boxer erneut die Taktik und kämpften wieder konservativ. Sie bauten hölzerne Schützenstellungen und stellten sie am Ende jeder Straße auf. So rückten sie mit ihren Barrikaden Stück für Stück vor, manchmal nur wenige Meter, indem sie sie mit unermüdlicher Energie zerlegten und wieder zusammensetzten. Die langsame Einschnürung des Gesandtschaftsviertels und die Zahlenstärke der Boxer kam schließlich zum Tragen, und sie gewannen die Oberhand.

Selbst Wilson machte sich allmählich Sorgen, doch zum Glück verbesserten sich die Chancen der Verteidiger, als sie eine halb verschüttete britische Kanone in einer verwahrlosten Gießerei entdeckten. Sie war während des zweiten Opiumkrieges dorthin gebracht worden, vierzig Jahre zuvor. Sie wurde von zwei Seesoldaten der Amerikaner gereinigt und auf eine italienische Lafette gebunden. Zufällig passten die russischen Granaten, die sie von Tientsin mitgebracht hatten, perfekt in den Lauf, und damit besaßen die Alliierten endlich eine Waffe, die die heranrückenden Boxerbarrikaden mühelos dezimieren konnte. Die »internationale Kanone«, wie sie später genannt wurde, war der Stolz der Verteidiger und richtete furchtbare Verwüstungen an, wenn man damit auf kurze Entfernung feuerte.

Wilson drückte sich mit dem Rücken gegen den Wall von Sandsäcken, bevor er einen raschen Blick zu den Boxerstellungen am Straßenende wagte. In der stickigen Luft hing ein widerwärtiger Leichengestank, und Wilson schätzte, dass mindestens hundert tote Chinesen in der Sonne lagen.

Morrison lud sein Gewehr und blickte über den Lauf die Straße entlang. Neben ihm kauerten zehn Soldaten und zwei Zivilisten, jeder mit einem Gewehr. Alle paar Sekunden hörte man gedämpften Kanonendonner. Chinesische Kinder flitzten zwischen den Linien der Verteidiger hin und her und brachten Patronen. Die Männer waren müde und schmutzig, viele blutverschmiert, einige bandagiert. Die Augen waren eingesunken vom Schlafmangel, und zu allem Überfluss hatte sich die Ruhr unter ihnen ausgebreitet.

Wilson legte Morrison eine Hand auf die Schulter. »Es wird heute Nachmittag heftig regnen«, sagte er.

»Das wäre fantastisch«, meinte der Journalist und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Hitze ist erdrückend.«

»Es wird gießen wie aus Eimern. Der Jadekanal wird sich in einen Strom verwandeln und die Straßen in ein Schlammbad. Ich denke, solange der Sturm über der Stadt hängt, werden die Boxer nicht angreifen.«

Morrison blickte nach Norden, wo der Himmel dunkel geworden war. »Ein bisschen Abkühlung wäre eine willkommene Überraschung.«

»Die Botschaften werden standhalten, George, egal, was die Boxer auf uns schleudern«, sagte Wilson. »Wir müssen nur wachsam und optimistisch bleiben.«

»Manchmal frage ich mich, ob dieser Wahnsinn jemals aufhört. Aber bisher ist alles so gekommen, wie Sie gesagt haben. Warum also widersprechen?«

»Die Entsatztruppen werden kommen. Wir brauchen nur so lange auszuhalten.« Wilson wollte ihm zu gern erzählen, dass er das Gesandtschaftsviertel am frühen Abend verlassen würde, doch ihm war klar, dass das unklug wäre – George würde es auch gar nicht verstehen. »Ich werde mal aufs deutsche Gelände gehen«, sagte Wilson. »Die haben sich dort Sorgen gemacht, dass die Grundstücksmauer schwächer wird. Ich komme sofort zurück und melde meine Erkenntnisse Sir Claude.«

In der Nähe wurden Kanonen abgefeuert, und er hörte die Granaten durch die Luft pfeifen.

Morrison nickte. »Ich bin hier, wenn Sie mich brauchen.« Er visierte erneut und fügte dann leise lachend hinzu: »Und sorge dafür, dass wir die Oberhand behalten.«

»Wir können und werden standhalten, bis Verstärkung kommt«, versprach Wilson noch einmal. »Also nie den Mut verlieren, egal, was kommt.«

»Und Sie verhalten sich vorsichtig«, befahl Morrison, ohne aufzublicken. »Keine Heldentaten mehr, klar? Und wenn die Verstärkung endlich da ist, werden wir uns einen wohlverdienten Schluck genehmigen.«