48.

Peking, China
Verbotene Stadt
Palast der Gesammelten Eleganz
13. Oktober 1860
Ortszeit: 11.55 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 224

Es dauerte vier Tage, bis Randall wieder gesund war. Den ersten halben Tag musste er noch im Bett liegen bleiben. Die kaiserlichen Ärzte entfernten Schmutz und Steinchen aus der Wunde, um eine Entzündung zu verhindern und die Narbenbildung zu verringern.

Cixi hatte den gnadenlosen Schritt unternommen und jeden Eunuchen, der das Wort »Knotenbaum« gehört hatte, töten lassen, auch ihren Großeunuchen Li-Zhang und den Arzt Gengjung. Sechsundzwanzig Eunuchen wurden noch vor Sonnenuntergang am selben Tag von der Kaiserlichen Garde hingerichtet. Wenn sich die unglaublichen Kräfte des Baumes herumsprächen, wäre innerhalb kürzester Zeit der Teufel los. Cixi begriff, was das bedeutete, und musste dafür sorgen, dass die geheimnisvolle Macht in ihren und des Blauäugigen Händen blieb.

In der herbstlichen Luft hing ein Rauchschleier, der vom Sommerpalast herüberzog. Die Späher hatten berichtet, dass die kaiserlichen Residenzen und Wälder seit drei Tagen brannten. Jedes Mal, wenn Cixi in ihren Hof ging und den dunklen Rauch sah, den der kalte Wind nach Süden trieb, packte sie die Wut. Manchmal bekam sie sogar den Brandgeruch in die Nase.

Am zweiten Tag konnte Randall schon aufstehen, und die Schnittverletzungen waren zugeheilt. Die Schusswunde an Bauch und Rücken hatte sich geschlossen, seine Körperfunktionen waren normal. Er nahm jeden Tag einen Tropfen vom Saft der Zypresse ein. Das Ergebnis war übernatürlich. In den letzten acht Stunden hatte er seine ganze Kraft und Schnelligkeit zurückgewonnen.

Cixi begriff sehr gut, was diese unglaubliche Heilung bedeutete. Die Machtverhältnisse ihrer Welt hatten sich dramatisch verändert. Der wundersame Baumsaft spendete Leben – die Kranken konnten geheilt werden, Unsterblichkeit schien möglich. Sie könnte sicherlich Hsien Fengs Leben retten, wenn sie es wünschte. Oder ihr eigenes, falls nötig.

Den Blick auf seinen nackten Oberkörper geheftet, sah sie zu, wie Randall seine aufreibenden Übungen abschloss. Sie waren allein in ihrem Palast. Allen anderen hatte sie den Zutritt verboten, die Wachen vor dem Hoftor verdreifacht. Randall legte sein Kurzschwert auf eine der Stufen, wischte sich das Gesicht mit einem Tuch trocken und ging zu ihr hinüber.

»Lord Elgin hat den Sommerpalast zerstört, weil er glaubt, ich sei tot und er könne sich nun alles erlauben«, sagte er und schaute zu den großen Rauchschwaden, die über der Verbotenen Stadt hingen.

»Die wunderbaren Paläste liegen in Schutt und Asche«, sagte Cixi zornig. »Diese Teufel haben sogar die Wälder niedergebrannt und Öl in die Teiche gegossen, damit die Fische sterben.« Sie zog eine wütende Grimasse. »Ich kann ehrlich behaupten, dass die Zerstörung Yuan Min Yuans die größte Tragödie meines Lebens ist. Die roten Teufel haben eine mystische Welt unwiederbringlich vernichtet.«

»Sie kann wiederaufgebaut werden«, versicherte Randall.

Cixi schaute zum Himmel auf. »Nicht wegen der Bauten oder der Gärten war sie mir so teuer. Diese Schöpfung war das Vermächtnis meiner Ahnen. Die Seele von Kangxi und Qianlong ist für immer dahin.« Plötzlich sah sie lächelnd zu Randall. »Doch mein Trost ist, dass Ihr am Leben seid, dank des Drachengottes. Das genügt mir vollauf.«

Auch Randall dachte nicht daran, sein Lächeln zurückzuhalten. Er freute sich über seine Rettung und erlaubte sich nicht einmal die Überlegung, ob er korrekt gehandelt hatte, als er das Elixier für sich benutzte. Er war am Leben, und mehr war nicht wichtig.

»Ihr seid bemerkenswert schnell genesen«, sagte Cixi, während sie mit dem Zeigefinger seinen Arm entlangstrich. »Wenn ich es nicht selbst gesehen hätte, ich hätte es nicht geglaubt.«

Randall dachte an den Moment zurück, als er den Tropfen auf die Zunge bekommen hatte – als hätte er Millionen Schmetterlinge im Körper, so hatte es sich angefühlt. »Die Zypresse ist der Baum des Lebens«, sagte er leise, als könnte sie jemand belauschen. »Und so sehr es mich bedrückt, dass Ihr die Eunuchen alle habt töten lassen, es blieb keine andere Wahl. Das ist eine lebenspendende Kraft von großer Bedeutung.«

Cixi neigte den Kopf zur Seite und sah ihn forschend an. »Werdet Ihr genötigt sein, mich zu töten, Blauäugiger? Jetzt, da ich Euer Geheimnis kenne?«

Randall sah in ihr schönes Gesicht. »Ich sollte vielleicht eher in Betracht ziehen, dass Ihr mich nun töten wollt.«

Sie hielt seinem Blick stand. »Ihr habt von mir nichts zu fürchten. Ich kann eine hervorragende Verbündete sein, wenn man mir die Wahrheit sagt. Doch ich muss alles verstehen, damit ich uns beide … und die Zypresse schützen kann.«

»Die Wahrheit hat viele Seiten«, erwiderte Randall.

»Gehören zu dieser Wahrheit auch die Gründe, weshalb ich nach Jehol reisen soll?«

Randall überlegte einen Moment, ehe er antwortete. »Ja.«

»Und was muss ich tun, um mich für dieses unglaubliche Wissen zu qualifizieren?«

»Gehen wir nach drinnen, dann können wir darüber sprechen.« Randalls Blick wanderte über ihren Körper. »Es ist Zeit, dass wir unsere Partnerschaft angemessen vollziehen.«

»Zuerst werdet Ihr mit mir über die Reise nach Jehol sprechen«, verlangte Cixi. »Dann sollt Ihr belohnt werden.«

»Ihr müsst in genau vierzehn Tagen aufbrechen«, erklärte Randall. »Am Tag nach Eurer Ankunft wird Euch eine Audienz bei Hsien Feng gewährt. Er wird sehr schwach sein und unter Magenkrämpfen und Gelbsucht leiden.« Er trank einen Schluck Wasser aus einem der Kristallgläser, die auf einem Rosenholztablett standen. »Der Sohn des Himmels wird Euch nicht mit offenen Armen empfangen. Er wird sogar feindselig sein. Sein Gefühl für Euch wird so sauer sein wie vier Tage alte Milch. Man wird Euch rügen, weil Ihr die roten Teufel nicht aufgehalten habt und weil der Sommerpalast zerstört wurde.«

»Warum soll ich dann überhaupt zu ihm reisen?«

»Weil Ihr die Regentschaft nur erlangen könnt, wenn Ihr einen bestimmten Gegenstand aus seinem Besitz an Euch bringt.«

»Welchen?«

Randall rieb sich mit dem Tuch den Schweiß von Brust und Schultern. »Was bekomme ich, wenn ich Euch das verrate?«

Cixi stand still da. »Ihr seid von den Toten zu mir zurückgekommen. Ihr verdient alles, was ich geben kann.« Langsam knöpfte sie sich die Weste auf. »Kommt herein, und lasst mich für Eure Bedürfnisse sorgen. Aber vorher erzählt Ihr zu Ende.«

Randall schaute auf ihren Körper. Sie standen noch immer draußen unter dem dunstigen Himmel. »Wenn Ihr in Jehol seid, müsst Ihr zur Erlangung Eures Ziels Hsien Fengs kranken, hinfälligen Körper erfreuen.«

Cixi dachte an den Schweißgeruch des Himmlischen Prinzen. Mit fortschreitender Krankheit hatte er immer ranziger gerochen, desgleichen sein Atem. »Das wird mir kein Vergnügen bereiten, aber er ist mein Gemahl, und ich werde tun, worum er mich bittet«, sagte sie.

»Gebt Ihr Euch mir ebenfalls aus Pflichtgefühl hin?«

Cixi lächelte. »Wir sind nun Partner, Randall Chen. Das ist wie ein Bund der Ehe, aber wir teilen etwas noch Bedeutenderes: das Geheimnis des Lebensbaumes und seiner Kräfte. Das macht mich in dieser höchst schwierigen Lage zu Eurer Frau – und so habe ich Euch zu erfreuen.«

Randall stellte sich vor, was sie zu ertragen haben würde, wenn sie nach Jehol reiste. Der Kaiser war sicher nur noch Haut und Knochen, sein Sexualtrieb aber noch vorhanden.

»Ihr braucht nur noch einmal zu Hsien Feng zu gehen. Dann seid Ihr von ihm befreit, denn in zweiunddreißig Tagen wird er tot sein.«

»Und wie oft muss ich Euch lieben?«, fragte sie. Seine Vorhersage schien sie nicht im Mindesten zu überraschen.

»Während der nächsten vierzehn Tage achtundzwanzig Mal«, antwortete er, als hätte er sich die Zahl reiflich überlegt.

Cixi machte eine ausholende Geste. »Und was ist mit den roten Teufeln, die vor der Stadt auf der Lauer liegen? Werden sie die Verbotene Stadt angreifen, während ich Euch erfreue?«

Randall zögerte einen Moment lang. »Nein, das werden sie nicht, obwohl sie mich für tot halten.«

»Ihr habt schon den Sommerpalast nicht vor ihnen bewahren können. Warum sollte es hiermit anders sein?«

»Auf das eine hatte ich keinen Einfluss; hierauf jedoch sehr wohl.«

»Und was ist hier anders?«

»Ich kenne die Zukunft Pekings, Edle Kaiserliche Gemahlin.« Randall sah ihr in die Augen, damit sie das Ausmaß seiner Zuversicht erkennen konnte. »Diese Residenz wird unangetastet und der Baum des Lebens geschützt bleiben. Ihr solltet Prinz Kung anweisen, ein letztes Treffen mit Lord Elgin in die Wege zu leiten, in der Zeremonienhalle in der Chinesenstadt – dort wird die Pekinger Konvention zustande kommen.«

»Nicht in der Verbotenen Stadt?«

»Wir wollen nicht, dass Lord Elgin sie sieht«, erklärte Randall. »Er würde nur neidisch werden. Gier ist seine große Schwäche, wie schon bei seinem Vater. Die Chinesenstadt ist für Menschen wie ihn genau der richtige Treffpunkt. Er wird mit all seinen Offizieren kommen, und mit Harry Parkes natürlich, um sich als Sieger darzustellen. Ich finde es nur passend, wenn das an einem unwichtigen Ort geschieht.«

»Müssen wir auf ihre Bedingungen eingehen?«, fragte Cixi.

»Es gibt keine andere Wahl«, antwortete Randall mit Nachdruck. »Der Vertrag von Tientsin muss erfüllt und die Reparationen geleistet werden. Dafür wird die Herrschaft der Qing nicht angetastet – das ist die Abmachung. Jetzt ist nicht der Augenblick für Hochmut oder große Worte, Edle Kaiserliche Gemahlin. Der Baum des Lebens kann sich nicht selbst beschützen; das müssen wir tun. Darum werden ausländische Gesandte demnächst in Peking residieren, und zwar unter Eurem Schutz.« Er hielt inne, da er ihre Unzufriedenheit spürte. »Das ist nicht schlecht, Edle Kaiserliche Gemahlin. Die Welt wird kleiner. Da ist es von Vorteil und keine Bedrohung, mit den ausländischen Mächten sprechen zu können.«

»Ich werde tun, was Ihr verlangt«, versprach sie.

»Um Prinz Kung zu unterstützen, werden wir bei der Unterzeichnung des Vertrages beide hinter einem Vorhang sitzen. Nach der Unterzeichnung werden Lord Elgin und seine Leute zur Stadt hinausmarschieren und niemals wiederkehren.«

Cixi nickte langsam. »So soll es sein.«

»Und danach reist Ihr nach Jehol.«

»Welchen Gegenstand muss ich an mich bringen?«

»Das kaiserliche Siegel«, antwortete Randall. Das einzigartige Jadesiegel der Qing-Kaiser, das er um den Hals trug und mit dem alle offiziellen Dokumente gesiegelt werden mussten. »Ihr müsst seinen hinfälligen Körper nach besten Kräften erfreuen. Und wenn er nach dem Genuss ermattet daliegt, wird er nicht bemerken, dass Ihr es ihm weggenommen habt.«

Cixi sah ihn fragend an. »Und wenn ich es habe? Ohne seine Unterschrift bringt es mir nichts ein.«

Randall schob die Hände in ihre offene Weste. »Nachdem Ihr Jehol verlassen habt, wird Hsien Feng ein Abschiedsdekret unterzeichnen, auf dem Sterbebett, und wird Su Shun zum Regenten des Reiches bestimmen. Ohne das rote Siegel ist das Dokument ungültig. Bei Eurer Rückkehr führe ich Euch zu einem bereits unterzeichneten Schriftstück, das das kaiserliche Siegel trägt und das Euch zur Regentin des Reiches macht, bis Euer Sohn achtzehn Jahre alt wird.«

»Solch ein Schriftstück existiert schon?«, fragte sie verblüfft.

»Es befindet sich sicher verwahrt in der Verbotenen Stadt.«

Cixi entwand sich seinen Händen und drehte sich voller Freude im Kreis, dass ihr die schwarzen Haare um das Gesicht flogen. »Mir scheint, Ihr habt für alles eine Lösung, Blauäugiger.« Noch einmal drehte sie sich. »Und dafür verdient Ihr alles, was ich zu geben habe. Kommt mit hinein, damit ich Euren Geist und Euren Körper erfreuen kann, mein Partner. Ihr werdet sehen: Das Warten hat sich gelohnt.«