13.
Peking, China
Verbotene Stadt
Palast der Himmlischen Reinheit
22. August 1860
Ortszeit: 14.25 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 172
Erst am Mittag des folgenden Tages gelangte die Nachricht von der Niederlage nach Peking. Auf Cixis Beharren hin hatte Kaiser Hsien Feng den Kriegsrat in der Halle der Himmlischen Reinheit zusammengerufen, dem viertwichtigsten unter den vielen Palästen. Wie alle Angelegenheiten in der Verbotenen Stadt wurde auch diese mit großem Pomp und viel Zeremonie durchgeführt. Ein einfaches Treffen dieser zehn Männer verlangte es, dass über zweihundert Eunuchen sie bewachten und bedienten und über fünfhundert Soldaten aufgereiht im Hof standen.
Der goldene Thron des Himmelssohnes ruhte auf drei hohen Stufen und war mit blau-silbernen, fünfklauigen Drachen verziert. Das Podest stand in der Mitte zwischen den vier roten Säulen, die das ausladende, spitze Dach trugen. Der Paravent an der Rückseite des Thrones maß knapp fünf mal sechs Meter, und das Licht funkelte auf Hunderten von Drachen und anderen Figuren, die kunstvoll in das vergoldete Holz geschnitzt waren. Fünf Treppen führten zum Thron hinauf, von denen die mittlere vom Kaiser allein benutzt wurde. Zwischen den Treppen gab es vier Sockel mit azurblauen Weihrauchschalen aus feinstem Porzellan. Alles, was man sah, war atemberaubend, wie der gesamte Palast und die weiten Höfe, die ganze Verbotene Stadt. Und dieser war nicht einmal der eindrucksvollste der 9999 Räume. Die Chinesen glaubten, der Himmel werde von den Sternen des Nachthimmels repräsentiert, von denen es 10 000 gebe. Da allein der Himmel vollkommen sei, könne die Verbotene Stadt nur fast vollkommen sein.
Draußen im Hof standen die Soldaten der Tiger-Fußtruppen in zehn Reihen unter der sengenden Sonne vollkommen still. Sie trugen gelb-schwarze Seidengewänder und dazu das Schwert und den Bogen. Damit waren sie vor dem Hintergrund der dunkelgrauen Steinplatten prächtig anzusehen.
Drinnen in der Halle blieb der Thron leer, obwohl alle Mitglieder des Kriegsrats anwesend waren. Sie warteten schweigend auf den Sohn des Himmels, und kein einziges Flüstern war zu hören. Cixi saß am Ende der neun Stühle, die im Halbkreis vor dem Thron aufgestellt waren. Wie die anderen war sie im Hofgewand erschienen, dem förmlichsten Stück ihrer Garderobe. Es war ein goldenes Chaofu aus feiner Seide mit schwarz bestickter Bordüre, das bis zum Boden reichte. Aufgestickt waren zwölf fliegende Kraniche, ein Zeichen höchsten gesellschaftlichen Ranges. Um den Hals trug sie sechs Reihen roter und goldener Perlen. Ihre glänzenden schwarzen Haare waren am Hinterkopf zu einem festen Knoten gebunden, in dem kreuzweise zwei Jadestäbe steckten.
Cixis Schönheit war an die acht Männer zu ihrer Linken nicht verschwendet. Und wenn sie an ihnen vorüberging, duftete sie lieblich wie Honig. Die fortgesetzte Verliebtheit des Kaisers erforderte es, dass auch andere Männer sie begehrten. Sie war noch nicht mächtig genug, um deren Einfluss auf den Sohn des Himmels außer Acht lassen zu dürfen. Ein Wort hier, ein Wort da konnte entscheidend sein. Darum flirtete sie sehr subtil, sodass sich die Lenden der Bewunderer regten. Wie sie die dunklen Augen aufschlug und einem Blick begegnete oder wie sie ihre Brüste streifte, wenn einer zu ihr hinsah, verfehlte seine Wirkung nicht, und sicher tat ihr schneller Witz und kraftvoller Verstand ein Übriges, jedenfalls wusste sie mit den Männern ihrer Umgebung umzugehen. Nur einer widersetzte sich beharrlich ihrem Zauber, und das war Su Shun, der Zweite Großsekretär. Er war zu ihr kalt wie Eis und zeigte unmissverständlich seine Ansicht, dass ihre Einflussnahme auf den Kaiser gegen die Tradition verstieß.
Der Kriegsrat bestand aus neun Mitgliedern, darunter die fünf Hohen Räte Su Shun, die Prinzen Kung, Yi und Cheng sowie Mu Yin, der den Vorsitz innehatte; die Übrigen waren drei beigeordnete Generäle des Tatarenheers – Männer, die Cixis Einfluss leicht unterlagen. Die Männer des Kriegsrats trugen schwarze Roben, die Prinzen das Symbol des vierklauigen Drachen, die übrigen Adligen den dreiklauigen Drachen, Cixi nur das Kranichsymbol, um sich bescheiden zu geben und andere nicht zu augenfällig im Rang zu übertreffen.
Aus den blauen Porzellanschalen stiegen dünne Rauchkringel in die stille Luft auf und sandten ihren besänftigenden Duft nach draußen in den heißen Vorhof. Unterdessen hatte Cixi beständig freien Blick auf ihren Großeunuchen, der im Hintergrund der Halle stand, und seine Augen ruhten ununterbrochen auf ihr. Wenn sie kaltes Wasser zu trinken wünschte, genügte ein bestimmter Blick von ihr, um eine Reihe hastiger Handlungen auszulösen: Li Lien flüsterte seinen Gehilfen etwas zu, worauf sie davoneilten und Li Lien kurz darauf ein Glas in der Hand hielt, mit dem er sich lautlos über den schwarz glänzenden Boden zu ihr begab.
Su Shun saß immer am weitesten von ihr entfernt, sodass sie ihn bestens sehen konnte. In ihrem Rücken stand sein Eunuch, in seinem Rücken der ihrige. Su Shun hatte am Hof beträchtliche Macht und war ein Mitglied des Gerahmten Blauen Banners, also der Familie des Kaisers. Seine Haut war haselnussbraun, sein Körper knochig, das Gesicht schmal und die Nase für einen Mandschu recht spitz. Mit seinen fast fünfzig Jahren hatte er seine körperliche Bestzeit hinter sich, doch in seinen wohlgesetzten Worten und seinem halsstarrigen Auftreten zeigte sich ein großer Ehrgeiz. Erst kürzlich hatte er seinen Vorgänger Po Sui aus dem Amt gedrängt, indem er ihm die Schuld an dem Vertrag von Tientsin gab – was schließlich zu dessen Hinrichtung führte. Cixi wollte Po Suis Tod noch verhindern, kam aber zu spät, und dieser Moment des Mitgefühls signalisierte dem ganzen Hof, dass sich eine tödliche Fehde zwischen ihr und Su Shun entspann. Da er enormen Reichtum besaß und ihn hauptsächlich durch Korruption und Erpressung erlangt hatte, wurde er von allen gefürchtet, und so blieb es Cixi überlassen, ihren Charme beim Kaiser einzusetzen, um den Zweiten Großsekretär und seinen unbändigen Ehrgeiz in Schach zu halten.
Nachdem sie über eine Stunde auf den Kaiser gewartet hatten, wurden die Mitglieder des Kriegsrats ungeduldig. Sie schwiegen, begannen aber, auf ihren Stühlen herumzurutschen. Nur Cixi und Su Shun bewiesen meditative Ruhe. Keiner wollte dem anderen das Vergnügen gönnen, ihn bei einer Schwäche zu ertappen. Stattdessen betrachteten sie einander wie zwei Katzen in der Nacht, die darauf warten, dass die andere sich zuerst bewegt.
Cixi war die einzige Frau, die jemals bei diesem Rat sitzen durfte, und wenngleich ihr keiner offenen Groll entgegenbrachte, so war ihr doch klar, dass alle vor ihr auf der Hut waren. Als Frau war sie ihnen unter keinen Umständen gleichgestellt, aber es machte sie in gewisser Weise unangreifbar, dass sie die Lieblingsfrau des Kaisers und die Mutter Tung Chis war, seines einzigen Sohnes, der ihm auf den Thron folgen würde und somit der nächste Himmelssohn war. Allerdings brachte ihr das noch nicht die Macht und den Respekt, die sie so dringend begehrte.
Beim Klang ferner Trommeln erhoben sich die Wartenden von ihren Plätzen. Der gleichmäßige Schlag bedeutete, dass der Sohn des Himmels unterwegs war. Durch die roten Türen, die hinaus auf den Hof gingen, war bereits sein goldener Palankin zu sehen, der von sechzehn Eunuchen getragen wurde. An der weißen Marmorrampe, in die ein Drache gemeißelt war, blieben sie stehen. Die Vorhänge teilten sich, und zwei große Eunuchen halfen Hsien Feng behutsam aus dem Polstersitz. In den vergangenen vier Monaten war er schrecklich dünn geworden, und man erzählte sich, er sei durch die nächtlichen Begegnungen mit Cixi und den anderen Konkubinen, die sie in sein Schlafzimmer brachte, zunehmend erschöpft. Die Wahrheit war, dass der Neunundzwanzigjährige an einer Lebererkrankung litt, die bald sein Leben fordern würde.
Hsien Feng war zu keiner Zeit seiner Regierung als besonders klug oder weise angesehen worden, nur als kräftiger, geschickter Reiter war er bekannt gewesen. Nun jedoch hatten ihn sämtliche Kräfte verlassen, er war müde und teilnahmslos – und verließ sich mehr und mehr auf Cixi, die zum Vorteil des Reiches eine starke Haltung und einen listigen Verstand beweisen sollte. Dass er einer Frau das Befehlen überließ, wurde von vielen als Feigheit und als Mal der Schande für die ruhmreiche Qing-Dynastie betrachtet.
Hsien Feng ließ sich die Marmorrampe hinaufgeleiten. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Nachdem er zwei Mal gestolpert war, wurde er von beiden Seiten gestützt, bis er auf dem ebenen Palastboden wieder sicheren Tritt gewann. Inzwischen lagen alle Eunuchen entlang der Wände bäuchlings auf dem Boden und streckten die Arme ehrerbietig dem Kaiser entgegen. Die Mitglieder des Kriegsrats beugten den Kopf, während er langsam seinem Thron zustrebte, die mittlere Treppe hinaufstieg und sich auf sein Kissen setzte. Dann erst verstummten die Trommeln.
Niemand der Anwesenden durfte ihn ansehen, solange er nicht ganz auf seinem Thron saß; darauf bestand er. Dennoch konnte Cixi beobachten, wie Su Shun, der alte Rabe, den Gang des kränklichen Herrschers durch die Halle verfolgte. Sie wusste, dass er Kraft aus dieser Schwäche zog. Umso wichtiger war es, dass sie heute großes Geschick an den Tag legte, um ihre eigene Macht nicht zu schwächen. Denn sollte Hsien Feng sterben, solange sein Sohn noch ein Kind war, würden ihre zahlreichen Feinde sich auf sie stürzen und sie vernichten. Darum kümmerte sie sich sehr um die Gesundheit des Kaisers und ließ täglich ihre besten Ärzte für seine Behandlung sorgen, um sein Chi zu erhalten.
Er sah blass und ausgemergelt aus, wie er auf dem goldenen Thron saß. Zwei Eunuchen fächelten ihm kühle Luft zu. Auf den großen Fächern prangte der fünfklauige Drache, ebenso auf seinem fließenden goldenen Gewand auf Brust, Schultern und Rücken, damit das mystische Tier ihn von allen Seiten beschützte. Auf dem Kopf trug er eine Samtmütze, die sein schütter gewordenes Haar verbarg. Die Strähnen seines langen Bartes, der noch nie geschnitten worden war, hingen ihm auf die Brust herab. Der Gang von der Sänfte bis zum Thron hatte ihn derart angestrengt, dass er schwitzte. »Fahrt fort«, befahl er und drehte den Kopf zu Cixi. Der Anblick ihres Gesichts gab ihm sichtlich Kraft.
Mu Yin stand von seinem Platz auf und breitete die Arme aus. »Die Sitzung des Kriegsrats ist nunmehr eröffnet«, sagte er förmlich und legte eine Pause ein, die ewig zu dauern schien. »Ich habe ernste Neuigkeiten, werte Ratsmitglieder, sehr ernste Neuigkeiten. Die Festung Wei ist von den roten Teufeln eingenommen worden. Somit besitzen die Briten und Franzosen das Kleinod unserer Verteidigungsanlagen an der Küste.«
Darauf erhob sich General Lung, verneigte sich vor dem Kaiser und sagte: »Senggerinchin konnte die Festung nicht halten, weil die roten Teufel nicht vom Meer aus angegriffen haben. Wie Feiglinge sind sie nördlich von Taku an Land gegangen und durch den Morast marschiert, um von hinten anzugreifen.«
»Wo ist Senggerinchin jetzt?«, fragte Su Shun.
»Er hat sich mit seiner Reiterei in die Berge zurückgezogen, um sich neu zu sammeln und auf eine Schlacht in der Ebene zwischen Taku und Tientsin vorzubereiten«, antwortete General Lung. »Es geht das Gerücht, dass er im Laufe der nächsten Stunden die übrigen Festungen dem Feind in die Hände fallen lässt.«
Cixi stand auf, und alle Blicke richteten sich auf sie. »Wir müssen aus den südlichen Provinzen Verstärkung rufen.« Sie setzte sich wieder.
»Ich rate davon ab«, äußerte Su Shun. »Erst vor sechs Monaten haben die Taiping-Banditen die Herrschaft über Nanking an sich gerissen – und man hört, dass sie sich sammeln, um Shanghai anzugreifen. Wir sollten lieber vorsichtig sein und die Stadt nicht in Gefahr bringen, indem wir die Stärke unserer Truppen im Süden verringern, nur um zwanzigtausend weiße Geister aufzuhalten.«
»Die Feinde des Reiches sind zahlreich«, hielt Cixi ruhig dagegen, »doch die größte Gefahr für das Herrscherhaus kommt von einem Feind, der geradewegs auf diese Halle zumarschiert.«
»Die Taiping-Banditen sollten unsere größte Sorge sein«, widersprach Su Shun leidenschaftlich. »Ihre Kämpfer zählen mehr als eine Million, und der bevorstehende Angriff auf Shanghai sollte für uns Vorrang haben. Sich davon ablenken zu lassen könnte in eine Katastrophe münden.«
»Die roten Teufel stehen nur hundertfünfzig Kilometer von uns entfernt, und Ihr sprecht von Eurer Sorge wegen der Taiping?«, fragte Cixi. »Die Taiping bedrohen den Süden schon seit zehn Jahren. Die roten Teufel dagegen haben unsere furchterregendste Küstenfestung in nur zwei Tagen erobert. Ohne einen angemessenen Gegenschlag könnten sie innerhalb der nächsten Woche an die Tore dieses Palastes klopfen.«
Su Shun ließ ein leises Lachen hören. »Die Taiping-Rebellion ist ein Leiden des Körpers. Das Herz des Reiches ist durch ihren Verrat geschwächt. Der armselige Angriff der roten Teufel ist bloß ein Leiden der Glieder, und zwar ein geringes. Diese Fremden sind ein Nichts. Schon ihre Namen spiegeln ihre Torheit wider.«
Als rote Teufel wurden die Briten bezeichnet, seit Lord Macartney im Auftrag von König Georg III. 1793 China als erster britischer Gesandter besucht hatte. Macartney wurde eine Audienz bei Qianlong gewährt, und er kam mit einem so starken Sonnenbrand, dass dieser herabsetzende Ausdruck geprägt wurde.
»Sie haben nicht einmal zwanzigtausend Mann«, fuhr Su Shun fort. »Wie bedrohlich können die schon für uns sein? Sie haben die Taku-Festung schon einmal eingenommen, doch ihr Bedarf, mit uns Handel zu treiben, ist so groß, dass wir diese großnasigen Köter bei Verhandlungen stets besiegen konnten und sie damit vertrieben haben. Es sind die Taiping, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen, denn die marschieren in unermesslicher Zahl auf Shanghai zu.«
»Der edle Su Shun spricht überzeugend, aber töricht«, sagte Cixi und stand erneut von ihrem Platz auf. »Po Sui wurde das seidene Seil übergeben, weil er die Bedingungen des Vertrages von Tientsin anerkannt hatte. Ihr behauptet, die roten Teufel bei Verhandlungen besiegt zu haben? Zeigt mir, wo. Wir haben sie vertrieben, sagt Ihr? Lord Elgin und seine Truppen kommen hierher, um uns zur Einhaltung des Vertrages zu zwingen, mit dem wir sie Eurer Ansicht nach besiegt haben! Sie kommen hierher mit überlegener Feuerkraft, mit neuen Schiffen und vor allem mit überlegener Klugheit. Senggerinchin ist der größte Feldherr Asiens und konnte doch die Festung Wei nicht halten. Und vielleicht sind auch die übrigen schon in der Hand des Feindes.« Sie setzte sich.
Prinz Yi stand auf. »Meine Spione melden mir, dass Senggerinchin die Festung nur aufgegeben hat, um einen anderen Zweck zu verfolgen. Ich schließe daraus, dass er die roten Teufel weiter in die Ebene locken will. Er hat die Reiterei und die Fußsoldaten zurückgezogen, um sich ihm bei Tientsin zum Kampf zu stellen – also hat er die Lage soweit in der Hand.«
»Wie passend das wäre«, meinte Prinz Cheng. »Die roten Teufel könnten an eben dem Ort besiegt werden, wo sie ihren jämmerlichen Vertrag unterzeichnet haben.«
»Sie können uns nicht besiegen«, fügte Prinz Yi hinzu. »Sie haben kaum zwanzigtausend Mann. Sie sind weit von ihrer Heimat entfernt, ihre Versorgungslage ist angespannt – und das umso mehr, je weiter sie sich von der Küste entfernen. Außerdem versuchen sie das Unmögliche!« Er steigerte sich in Begeisterung. »Sie wollen die allmächtigen Qing überragen, gegen den Willen des Kaisers.«
Cixi sah, dass die Mitglieder des Kriegsrats nicht imstande waren, über die eigene Wichtigkeit hinauszublicken. Die fremden Teufel waren eine Gefahr für das Reich, dessen war sie sicher. Und Lord Elgins Berater, der Blauäugige, war zweifellos eine ihrer Stärken.
»Darf ich einen Kompromiss vorschlagen?«, bat sie in sanftmütigem Ton.
»Was schlagt Ihr vor?«, fragte Mu Yin.
»Wir setzen ein Kopfgeld auf die Invasoren aus«, antwortete sie. »Einhundert Tael für jeden weißen Barbaren, fünfzig Tael für einen schwarzen Barbaren.« Damit meinte sie die Sikhs, die die Briten aus Indien mitgebracht hatten. »Das gibt unseren Soldaten und Verbündeten einen zusätzlichen Grund zu kämpfen«, sagte sie. »Wir dürfen nicht selbstgefällig sein – wir sind wirklich in Gefahr.«
»Dann wird uns der Krieg zwei Millionen Tael kosten«, rechnete Su Shun scheinbar nüchtern vor. »Das ist ein Preis, den wir nicht zu zahlen brauchen.«
»Der Wert des Kaiserreiches ist grenzenlos. Zwei Millionen Tael, um unsere Feinde zu vernichten, ist wie eine Schale Wasser aus dem kaiserlichen Brunnen. Ihr Fehlen wäre gar nicht zu bemerken.«
»Ihr glaubt tatsächlich, dass die roten Teufel uns gefährlich werden können?«, fragte Su Shun arglistig.
»Allerdings«, antwortete Cixi.
»Dann halte ich es für das Beste, wenn der Kaiser die Stadt verlässt und in die sichere Heimat der Mandschu reist, nördlich der Großen Mauer. Wenn wir hier in Gefahr sind, wie Ihr behauptet, sollte der Himmlische Prinz seinen ehrwürdigen Vorfahren Respekt erweisen und um eine gute Zukunft beten.«
Es war klar, dass Cixis Macht ernsthaft eingeschränkt wäre, sobald Hsien Feng die Verbotene Stadt verließe. Die strikte Etikette machte es den Hofmitgliedern schwer, eine Audienz beim Kaiser zu bekommen, wohingegen Cixi fast uneingeschränkten Zugang zu ihm genoss. Allerdings galt es die Abmachung mit Senggerinchin zu beachten – sollte der mongolische Prinz siegen, würde sie sich im Bett des Kaisers zu ihm legen müssen. Falls er erführe, dass sie mit dem Kaiser in die Mandschurei gereist war, würde er dem Reich seinen Schutz möglicherweise aufkündigen. Dennoch erschien es ihr wenig wünschenswert, wenn Hsien Feng ohne sie nach Norden ginge – denn er wäre ihrem Einfluss entzogen und Su Shun könnte ihn gegen sie einnehmen.
»Der Sohn des Himmels flieht nicht vor seinen Gegnern«, erwiderte Cixi stolz. Sie heftete ihren Blick auf den kränklichen Geliebten, der oben auf dem Thron saß und sie mit müden Augen ansah. »Der Sohn des Himmels bezwingt seine Feinde mit dem Schwert oder mit List. Er weicht niemals zurück. Der Sohn des Himmels ist die Seele des Reiches, und dies ist die Stunde, da wir seiner am dringendsten bedürfen.«
Hsien Feng brachte für die Frau, die er liebte, nur ein halbes Lächeln zustande. Doch es genügte, um ihr zu zeigen, dass sie seine ganze Unterstützung hatte.
»Wenn das so ist«, verkündete Su Shun, »dann sollten wir den Invasoren keine weiteren Zugeständnisse machen. Wir müssen ihnen eine Lehre erteilen, und der Vertrag von Tientsin muss aufgehoben werden.« Su Shun wollte es Cixi so schwer machen wie möglich. »Ich bin vollkommen bereit, Euren Plan zu unterstützen, Edle Kaiserliche Gemahlin, doch nur unter diesen Bedingungen.«
»Der Mittelweg ist erforderlich«, erwiderte Cixi. »Wenn die roten Teufel bei den Taku-Festungen Erfolg haben, muss dieser Rat Gesandte zu ihnen schicken, die Elgins Vormarsch mit Schmeichelei, Drohungen und Ausflüchten verzögern. Unterdessen werden wir ein übermächtiges Heer aufstellen, das sie nicht besiegen können. Um jeden Preis müssen tatarische Reiter von Shanghai nach Norden gebracht werden, damit sie Lord Elgins Truppen im Südwesten von Tientsin aufhalten. Während wir verhandeln, ziehen wir zusätzliche mongolische und mandschurische Reiterei aus zwanzig Provinzen zusammen. Wir werden die zehnte der sechsunddreißig Strategien anwenden: einen Dolch im Lächeln und einen starken Willen unter dem Mantel entgegenkommenden Auftretens verbergen.«
»Und wenn wir bereit sind, werden wir angreifen«, ergänzte Prinz Kung unterstützend. »Erst dann sollte das Kopfgeld eingesetzt werden.«
»Das ist ein ausgezeichneter Plan. Ich bin einverstanden«, erklärte Su Shun.
»Er findet meine Zustimmung«, sagte General Lung.
»Befassen wir uns also zuerst mit den roten Teufeln«, pflichtete Mu Yin bei. »Dann kann unser Heer nach Süden ziehen und die Taiping-Rebellion niederschlagen.«
»Ein hervorragender Plan«, befand Prinz Yi.
»Ihr allein habt uns auf den siegreichen Weg gebracht«, sagte Su Shun an Cixi gewandt, als wollte er ihr schmeicheln. »Wenn der Sieg unser ist, sollt Ihr für Eure Klugheit und Gerissenheit belohnt werden.«
Cixi wusste genau, was er meinte. Wenn ihre Strategie fehlschlüge, würde man ihr in einem Rosenholzkasten ein rotes seidenes Seil schicken, das bereits zur Schlinge geknotet wäre. Mitglieder der kaiserlichen Familie wurden, wenn sie versagten, nicht geköpft wie gewöhnliche Verbrecher, sondern sie bekamen das Seil. Bis zum Einbruch der Dunkelheit desselben Tages mussten sie sich erhängen, sonst stand ihnen der Tod der tausend Stiche bevor.
Mu Yin fuhr fort, wie es der Brauch war. »Bitte erhebt Euch.« Alle standen von ihren Plätzen auf. »Die ehrwürdige Versammlung ist zu einer Entscheidung gekommen. Wir sind in der Halle der Himmlischen Reinheit, um dem Sohn des Himmels Hilfe zu gewähren. Dieses edle Bauwerk war einst die Wohnstätte des mächtigen Qianlong, des höchst verehrten Urgroßvaters des mächtigen Hsien Feng. Diese Halle hat für den Sohn des Himmels und seine Vorfahren eine besondere Bedeutung. Alle Entscheidungen, die hier getroffen werden, erhalten die Kraft und den Schutz von Qianlong und seines Großvaters Kangxi. Ihren Segen erbitten wir heute und den Euren, Sohn des Himmels.«
Alle blickten zu dem kränklichen Hsien Feng.
»Gewährt«, hauchte er kraftlos.
Cixi hob den Blick zu den vier Schriftzeichen über dem goldenen Thron. Zheng Da Guang Ming. Das hieß: Ehrenvoll und aufrichtig. Tief im Innern wusste sie, dass sie heute überlistet worden war und ihr Leben auf dem Spiel stand. Wenn der Plan fehlschlug, würde es sie nicht einmal retten, dass sie die Mutter des Thronfolgers war. Der stolze Wahlspruch der Qing erschien wie ein höhnischer Kommentar zu der Szene, die soeben stattgefunden hatte – denn nichts war ehrenvoll und aufrichtig, seit den Kaiser die Lebenskräfte verließen. Stattdessen gab es ein Gerangel der Ehrgeizigen mit Absichten auf den Thron, die alle wissen wollten, wer seinen Platz einnehmen würde. Und es gab zahllose Mauern hinter den Mauern, wie in der Verbotenen Stadt, und weil die Feinde des Reiches ebenso zahllos waren, gab es Gefechte hinter den Gefechten, einige außerhalb der Mauern, andere innerhalb.