55.

Peking, China
Tatarenstadt
Französische Botschaft
22. Juni 1900
Ortszeit: 8.45 Uhr

Während der ersten achtundvierzig Stunden griffen die Boxer zu Tausenden an, ohne Rücksicht auf das eigene Leben. Ihre Verluste waren kolossal, doch im Lauf der Nacht konnten sie an Boden gewinnen. Auch die Verluste der Verteidiger stiegen an, hauptsächlich durch den pausenlosen Artilleriebeschuss und die Raketenangriffe. Gott sei Dank war es den Chinesen wegen der engen Straßen nicht möglich, Granaten und Raketen direkt in die Botschaften zu schießen, sodass sie sich zumeist begnügen mussten, auf die Außenmauern zu zielen. Und so schnell, wie sie Löcher hineinschossen, so schnell zogen ihre christlichen Landsleute von innen mit Ziegeln und Mörtel ein neues Mauerstück hoch.

Wilson stand mit Sir Claude und Morrison auf der Südostmauer der französischen Botschaft und schaute über das Gelände der Italiener, das in Flammen stand. Nach Norden zu sah man eine Feuerwand; dort brannten die Zollgebäude.

»Wenigstens muss ich keinen Zoll mehr für die Möbel bezahlen, die für mich von Hongkong gekommen sind«, murmelte Morrison. »Welche Erleichterung.«

Wilson blickte ringsherum zu den Verteidigern; sie wirkten panisch: Erwachsene Männer weinten, rannten ziellos umher und hatten allen Sinn für Disziplin verloren.

»Die französische Botschaft wird nicht standhalten«, sagte Wilson schließlich. »Wir müssen die überlebenden Italiener und die Franzosen dort an dieser Mauer entlang verteilen.« Er zeigte hinter sich zur deutschen Gesandtschaft. »Sonst haben wir keine Chance.«

»Das wird den Franzosen nicht gefallen«, meinte Sir Claude. »Das ist französischer Boden.«

»Dann bleibt ihnen nur übrig, hier zu sterben«, erwiderte Wilson. »Sobald das Feuer heruntergebrannt ist, werden die Boxer in noch größerer Zahl angreifen. Die Gatling sollte von der amerikanischen Botschaft zur deutschen gebracht und auf der Mauer postiert werden.« Er zeigte auf eine erhöhte Kanzel, die wegen des steilen Winkels von der Artillerie nicht leicht zu treffen sein würde. »Wenn wir das Gelände im Südosten halten wollen, müssen wir uns ein Stück zurückziehen.«

»Sind Sie sicher, dass wir die Mauer nicht halten können?«, fragte Morrison.

»Wir müssen uns zurückziehen«, bekräftige Wilson. »Die deutsche Botschaft ist höher und stärker – und das französische Grundstück ist übersichtlicher, das wird unser Vorteil sein. Wenn wir hierbleiben, verlieren wir Leute bei einem nutzlosen Kampf, die uns dann bei der Verteidigung der deutschen Botschaft fehlen.«

Von weitem drang das skandierende »Sha! Sha! Sha!« durch das Fauchen und Prasseln des Feuers. Wilson beobachtete, wie die vielen Rauchwolken in der heißen Luft wogten. Der auffrischende Wind trieb sie über die Stadt.

»Das wird ein schrecklicher Tag, und die Nacht nicht minder«, meinte er.

»Ich habe Sie das zwar schon einmal gefragt«, sagte Morrison, »aber wieso sind Sie sich bei allem so sicher? Sie klingen immer, als könnten Sie in die Zukunft sehen.«

»Ja«, bekräftigte Sir Claude. »Woher haben Sie eigentlich Ihr Wissen?«

»Ich berate Sie genau nach den Anweisungen von General Gaselee«, antwortete Wilson. »Das ist nicht meine Weisheit, sondern seine.«

»Aber dann würde er doch hier stehen und den Ruhm selbst einstreichen«, scherzte Morrison. »Nun ja, offensichtlich ist er viel zu beschäftigt damit, Admiral Seymour zu beraten.«

Wilson ließ sich auf Witzeleien nicht ein. »Die Situation ist grausig, und wir müssen auf das Wesentliche konzentriert bleiben. Das Wichtigste ist, die Kampfmoral der Verteidigung zu stärken. Für Angst ist kein Platz in solch einer Lage. Sorgen Sie für eine angemessene Ablösung, damit die Leute frisch bleiben, und uns darf nirgendwo die Munition ausgehen. Denn wenn das passiert, werden wir mühelos überrannt.«

»Ich habe schon Befehl gegeben, dass Männer und Waffen jederzeit in der Lage sein müssen, den Standort zu wechseln«, sagte Sir Claude. »Alle wissen, wie ernst es steht.«

In der Ferne feuerten schwere Geschütze, dann folgte das typische Pfeifen von Granaten. Sie flogen auf die französische Botschaft zu. Sir Claude und Morrison warfen sich zu Boden, ebenso alle anderen Männer auf der Mauer – nur Wilson blieb stehen, um die Flugbahn des Geschosses zu verfolgen. Er konnte sich von dem Anblick nicht losreißen. Der Luftzug der Granate zerzauste ihm die Haare, als sie nur knapp entfernt an ihm vorbeisauste.

Morrison griff nach oben und zerrte Wilson auf die Steine. In dem Moment landete das Geschoss auf dem Grundstück neben ihnen und explodierte mit donnerndem Knall.

»Sind Sie verrückt?«, brüllte Sir Claude.

Wilson stand auf und klopfte sich den Staub ab. »Das Nachbargrundstück ist groß und kann ohne Schwierigkeiten bombardiert werden. Noch ein Grund, den Standort zu wechseln.«

»Möchten Sie gern sterben?«, fragte Sir Claude aufgebracht. »Sie haben zugeguckt, wie die Granate auf Sie zuflog! Sie hätte schon im Flug explodieren können, müssen Sie wissen!«

»Wir waren nicht in Gefahr«, widersprach Wilson ruhig.

»Woher wollen Sie das denn wissen?«, schrie der Botschafter erbost.

Die Boxer sammelten sich bereits zu einem Angriff auf das Haupttor, als der Beschuss abflaute. »Kommen Sie«, sagte Morrison auf die Leiter zeigend, »wir sollten weg, bevor wir hier womöglich gleich festsitzen.« Und er schrie in Französisch den Soldaten zu: »Rückzug! Alle Mann zur Mauer der deutschen Botschaft!«

Wilson sah zu, wie Sir Claude und die französischen Soldaten hastig die Leitern herunterrutschten, und überquerte dann rennend das Botschaftsgelände. Die erste Schar von Boxern stürmte auf das Haupttor zu, ihre weißen Anzüge und roten Kopfbänder sorgten für ein buntes Bild. Mit Macheten und Speeren bewaffnet liefen sie aus vollem Halse schreiend durch die verkohlten Reste der italienischen Botschaft, die der französischen vorgelagert war. Die Kanonen feuerten weiter, und Wilson konnte den Rauchschweif der Geschosse sehen, die auf die Gesandtschaften zuflogen.

Er stand da voller Wut und Frustration über die Situation. So viele Menschen starben für nichts und wieder nichts.

Eine unregelmäßig geformte Granate sauste in kurviger Flugbahn heran. Wilson beobachtete sie wachsam. Plötzlich explodierte das Ding mitten in der Luft. Die Hitze traf Wilson im Gesicht, die Druckwelle katapultierte ihn von der fünf Meter hohen Mauer.

In diesem Augenblick erinnerte sich Wilson, wie er in der Transportkapsel und das Mercury-Team hinter der bombensicheren Scheibe des Kontrollraums standen. Jasper war da gewesen und Minerva auch. GM hatte gefehlt, weil er vermutlich zu schwach gewesen war.

Fast sechs Wochen hatte Wilson mit dem Transport gewartet. In dieser Zeit hatte er mit Le Dan gelernt, meditiert, trainiert, bis er sich bereit fühlte. Am Schluss war er noch aufgeregter gewesen als beim ersten Mal; er wusste genau, was er durchzustehen hatte, wenn die Laser auf ihn feuerten. Die Schmerzen waren unerträglich und verhießen zugleich eine perverse Freude, weil er wusste, dass er seinem prosaischen, gequälten Leben entkommen würde. Dann folgte das eigentümliche Gefühl, durch die Zeit geschmiert zu werden, und dann wurde er bei gleißender Helligkeit und überhitztem Rauch in den Ruinen von Machu Picchu rekonstruiert.

Wilson landete auf der anderen Seite der Mauer flach auf dem Rücken. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus der Lunge, doch er blieb bei Bewusstsein und japste nach Atem. Es fühlte sich an, als wären sämtliche Rippen gebrochen. Er hustete abgehackt und bekam kaum Luft.

Sekunden später beugte sich Morrison über ihn, um festzustellen, ob er noch lebte. Wilsons Gesicht war verbrannt, seine Kleidung rauchte. Der Journalist redete mit ihm, doch Wilson konnte kein Wort hören.

»Aktiviere Nachtigall«, flüsterte Wilson, und der Heilungsprozess setzte ein. Sofort ließen die Schmerzen nach, er konnte normal atmen, und der Kampflärm füllte von Neuem seine Ohren. Er drehte sich auf die Seite und wollte aufstehen, doch Morrison hielt ihn fest.

»Bleiben Sie liegen!«, sagte er aufgeregt. »Ich rufe nach einer Trage!«

Wilson schob seinen Arm weg. »Ist nicht nötig«, brummte er und richtete sich langsam auf. Sein Blick wanderte die hohe Mauer hinauf. »Mann, Scheiße«, sagte er. »Das war ein langer Weg nach unten.« Behutsam und ein wenig desorientiert kam er auf die Füße.

»Ein Wunder, dass Sie das überlebt haben«, sagte Morrison noch völlig entsetzt und stützte ihn unter den Achseln, um mit ihm auf das Botschaftsgelände der Deutschen zurückzukehren.

Augenblicke darauf drangen die Boxer schreiend durch das Tor auf das französische Gelände vor. In ihrer Raserei wandte sich die Meute einem toten französischen Soldaten zu, der in der Nähe des Tores lag. Mit den Speeren und Macheten hackten sie ihn in kleinste Stücke, dass das Blut nach allen Seiten spritzte.

Auf den deutschen Mauern waren die Schützen bereit, ebenso am Tor, für den Fall, dass die Boxer durchbrachen. Die ersten Schüsse gingen über die Köpfe von Wilson und Morrison hinweg, die auf den Spalt der Torflügel zurannten. Eine Reihe Boxer fiel, doch sie rückten zu Hunderten nach. Eine zweite Gewehrsalve wurde abgefeuert, und weitere fünfzig Boxer stürzten tot oder verwundet zu Boden.

Morrison zog Wilson durch den Spalt, der sofort hinter ihnen geschlossen wurde. Hunderte der Konvertiten machten sich schleunigst daran, eine Ziegelmauer hochzuziehen, um das Tor gegen Granatbeschuss zu verstärken.

Wilson setzte sich mit Morrisons Hilfe an der Mauer nieder und ließ ihn seine Verbrennungen im Gesicht begutachten. »Wie haben Sie das bloß überlebt?«, fragte Morrison. »Allein die Explosion hätte Sie umbringen müssen.«

Wilson lehnte den Kopf an die Mauer. »Es sah schlimmer aus, als es war.«

»Es sah entsetzlich aus«, erwiderte Morrison. »Sie wurden mehr als drei Meter weit durch die Luft geschleudert, ehe Sie überhaupt wieder in Bodennähe kamen!«

Wilson rang sich ein Grinsen ab. »Bin offenbar ein Glückspilz, hm?«

»Das können Sie laut sagen.«

»Sorgen Sie einfach dafür, dass uns die Munition nicht ausgeht, George. Das passiert leicht«, sagte Wilson und schloss die Augen. »Sagen Sie Sir Claude, er soll permanent Wache halten lassen. Und kein einziger Schuss darf vergeudet werden.«

»Werden Sie hier zurechtkommen?«, fragte Morrison.

Wilson hielt zitternd den Daumen hoch. »Lassen Sie mir einen Moment Zeit, dann geht’s mir schon wieder besser.«