7.
Im Schlickwatt
1,6 Kilometer nördlich der Wei-Festung, China
21. August 1860
Ortszeit: 5.23 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 171
Die Dämmerung nahte, und der Himmel im Osten färbte sich rot. Der britische Artilleriebeschuss hielt seit zwei Tagen konstant an. Das unaufhörliche Donnern von dreiundzwanzig Haubitzen schallte über Taku und den Haihe, während die zwölf Pfund schweren Kanonenkugeln und die mit Schießpulver gefüllten Granaten, deren Lunte von Hand angezündet wurde, in die wehrhafte Festung flogen. Die Granaten erfüllten ihren Zweck erst, wenn die Lunte heruntergebrannt war und die Ladung explodierte. Bei Nacht war es ein erstaunliches Spektakel, wenn die Geschosse mit einem Funkenschweif ihrem Ziel entgegensausten, dann mit einem Lichtblitz zersprangen, und im nächsten Moment der Knall bei den Geschützen zu hören war.
Die Kanonen waren durch Schlick und Sumpfland und über Hunderte Wasserläufe, die in alle Richtungen flossen, herbeigeschafft worden – die Haubitzen von nicht weniger als sechs Pferden pro Stück, um die schwierigsten Stellen zu überwinden. Von See her feuerten sechs Kanonenboote auf die Festungsmauer, doch mehr aus Gründen psychologischer Kriegführung. Randall wollte Senggerinchins Männer denken lassen, sie seien eingekreist. In Wirklichkeit war es nicht möglich, die Mauer an der Seeseite zu durchbrechen, denn dort war sie zwölf Meter dick.
Die Qing feuerten von der Festung mit den russischen Geschützen zurück. Zwar hatten sie den Vorteil der größeren Höhe, doch Geschosse und Schießpulver waren unterlegen und erzielten keine Treffer.
Die Vorbereitungen der vergangenen Woche waren reibungslos verlaufen. Am 12. August war ein britisch-französischer Verband aus tausend Mann südwestlich entlang der Dammstraße nach Sin-Ho vorgerückt, während sich die 2. Division, geführt von Sir Hope, von Süden mit 340 Reitern genähert hatte. Sir Hopes Division stand erneut der tatarischen Kavallerie gegenüber, doch ein weiter Linksschwenk der britisch-französischen Truppen beschnitt die Rückzugsmöglichkeiten der Tataren beträchtlich, sodass diese kampflos zur Festung flohen. Die brillant abgestimmte Zangenbewegung der Verbündeten jagte sie aus dem Schlickwatt und dem Sumpfgebiet nach Norden, sodass der Transport der schweren Geschütze und Munitionswagen ungehindert beginnen konnte.
Am 14. August wurde das Dorf Tang Ku wie befohlen von der 2. Brigade überrannt. Durch diese Eroberung wurde Senggerinchins Kavallerie der Nachschub abgeschnitten und die Möglichkeit beseitigt, von Westen her überflügelt zu werden. Unter Randalls Führung töteten die Briten über hundert tatarische Krieger und nahmen das Dorf ein, ohne selbst einen Mann zu verlieren.
Randall blickte durchs Fernglas zu den beschädigten Mauern der Festung und suchte nach Löchern, die groß genug wären, um einen Mann durchzulassen. Er stand auf einer haushohen hölzernen Plattform, die die Pioniere gebaut hatten, knapp zwei Kilometer von den feindlichen Stellungen entfernt. Sie war der höchste und beste Beobachtungspunkt im Gelände. Bei Flut stand das Schlickwatt darunter dreißig Zentimeter unter Wasser.
Lord Elgin saß in seinem weich gepolsterten Lehnstuhl aus der Zeit Ludwigs XVI., der auf seinen Befehl hin aus der Schiffskabine durch den Sumpf getragen worden war, damit er es bequemer hatte. Wie immer schwitzte er heftig.
Neben ihm in einem identischen Stuhl saß der britische Konsul von Hongkong, Harry Parkes. Er trug einen schwarzen Anzug und rauchte eine Castleford-Pfeife. Er war nach Gouverneur Bowering der ranghöchste Bewohner Hongkongs, sprach fließend Kantonesisch und Mandarin und war Lord Elgins Chefunterhändler. Randall war sehr wohl bekannt, dass Parkes einer der gerissensten Männer im Fernen Osten war. Er war es, der sich den Zwischenfall auf der Arrow zunutze gemacht hatte, eines unter britischer Flagge fahrenden Schiffes, das im Oktober 1856 von den Chinesen unbefugt beschlagnahmt worden war. Er hatte ihn zum Vorwand genommen, um China den Krieg zu erklären. Diese wohl berechnete Aktion hatte den alleinigen Zweck gehabt, die Handelsbedingungen für die Briten zu verbessern. Darum war Parkes bei den Militärführern und Beamten der Qing gleichermaßen verhasst.
Parkes war sechs Stunden zuvor mit einem Dampfer von Hongkong gekommen und auf direktem Wege zum Schlachtfeld geeilt. Ursprünglich hatte er abgelehnt, mit der britisch-französischen Flotte zu fahren, weil er abwarten wollte, ob es ihnen gelänge, bei Pei Tang ihr Lager aufzuschlagen. Er wollte nicht noch einmal mit einer Niederlage in Verbindung gebracht werden – wie vor einem Jahr, als er Frederick Bruce und Admiral Jennings bei ihrem törichten Versuch begleitete, die Taku-Forts einzunehmen. Die Erinnerung war noch frisch. Er hatte mit angesehen, wie Hunderte britischer Soldaten niedergemäht wurden und vier Schiffe Ihrer Majestät unter vernichtendem Feuer ihre letzte Reise zum Meeresgrund antraten. Als scharfsinniger Politiker würde er zu verhindern wissen, dass er noch einmal in die Nähe eines Versagers kam.
Parkes hielt die Pfeife an die Lippen. Wolken von Tabakrauch stiegen aus seinem Mund auf, während er unauffällig jede Bewegung Chens beobachtete. Der 32-jährige Konsul sah verhältnismäßig gut aus und war schmal gebaut. Sein Kopf war kahl, Gesicht und Nase schmal, die Mund- und Kinnpartie glatt rasiert. Doch bei dem Backenbart, der bestimmt zehn Zentimeter nach außen abstand, gewann man den Eindruck, als wollte er sein Gesicht um jeden Preis verbreitern.
Alle paar Sekunden wurde eine Kanonenkugel oder Granate auf die Festung abgefeuert. Es hörte nicht auf. Die Geschütze standen in weitem Halbkreis auf der Ebene, und ab und zu flüsterte Chen ein paar Worte in Elgins Ohr. Der brüllte sodann den entsprechenden Befehl Major-General Sir Robert Napier, Sir Hopes Stellvertreter, zu.
Wieder neigte sich Chen zu Lord Elgin. »Alle Geschütze sollen um ein Grad höher zielen«, flüsterte er.
»Alle Geschütze ein Grad höher!«, schrie Lord Elgin.
Parkes sagte kein Wort; er beobachtete nur und nahm jede Einzelheit in sich auf.
»Jetzt dauert es nicht mehr lange«, flüsterte Randall.
Elgin wischte sich mit einem bestickten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Das hoffe ich. Es ist heiß hier, und die Mücken machen mich wahnsinnig.« Er wrang die angesammelte Nässe aus dem kleinen Tuch, und die Tropfen fielen auf den Holzboden des behelfsmäßigen Kommandostands.
Wieder blickte Chen durchs Fernglas. Es fielen noch zehn Schüsse, bevor die Granaten über die Außenmauer der Festung flogen. Drei Minuten später gab es eine ungeheure Explosion, die fünfhundertmal lauter war als der Knall einer Granate. Der Boden erzitterte. Randall spürte die Erschütterung im ganzen Körper, doch die Zerstörung fand anderthalb Kilometer entfernt statt. Ein paar Augenblicke später stieg eine vielsagende schwarze Rauchwolke über der Festung auf. Die Pulverkammer war getroffen worden.
Lord Elgin stand staunend von seinem Stuhl auf. »Mein Gott«, hauchte er.
Parkes ließ bei der Explosion die Pfeife fallen. Einen Moment lang verlor er seine kühle Haltung und taumelte ans Geländer. »Die armen Seelen«, sagte er. Die Bemerkung war jedoch mehr darauf gerichtet, Chen zu gefallen, als echtes Mitgefühl auszudrücken. Der Diplomat versuchte bereits, den chinesischen Berater zu umgarnen und dessen Vertrauen zu gewinnen.
Randall nickte beipflichtend, auch wenn sich alles wie geplant entwickelte. Eines war sicher: Er erfüllte seine Mission als Aufseher, und mit seiner kundigen Führung würden die Briten und Franzosen die Taku-Forts zweifellos einnehmen. Die Verluste würden sich auf ein Minimum beschränken. Die Geschichte würde im Einklang mit dem großen Plan festgeschrieben und das Gleichgewicht der Natur in alle Ewigkeit erhalten bleiben. Und obwohl Randall die Briten zutiefst verachtete, weil sie den Chinesen Opium verkauften, wusste er, dass dies der einzig gangbare Weg war.
In diesem Moment musste er an Wilson Dowling denken, der zweihundert Jahre entfernt in der Zukunft lebte. Sein Mentor hatte ihn auf unorthodoxe Weise, aber gut auf die Herausforderungen vorbereitet, mit denen er konfrontiert wäre, sobald er es mit Menschen zu tun hatte, die von seinem wahren Ziel nichts ahnten. Es war, wie Wilson sich ausgedrückt hatte, eine berauschende Bestimmung, die Randall da zuteil wurde. Das Unternehmen Esra leitete er allein, und alles lief genau nach Plan.
Randall holte tief Luft. »Der Augenblick ist gekommen; die Infanterie soll vorrücken«, sagte er.