31.
Kalifornien, Nordamerika
Enterprise Corporation
Mercury Building, 2. Etage
21. Juli 2084
Ortszeit: 13.28 Uhr
13 Tage vor dem Esra-Transport
Wilson saß in seinem Büro und starrte seit fünf Minuten aus dem Fenster. Er nutzte die Gelegenheit und beruhigte seinen Gedankenstrom, indem er in den Wald schaute. Er hoffte, noch einmal einen Marmelalk zu entdecken, doch leider ließ sich keiner blicken. Um nicht ungepflegt und unprofessionell zu erscheinen, hatte er sich rasiert und gekämmt, sogar ein Rasierwasser benutzt.
Als Randall hereinkam, musterte er ihn mit seltsamem Gesichtsausdruck. »Aus irgendeinem Grund sehen Sie jünger aus als sonst.«
»Normalerweise hat eine Nacht wie gestern den gegenteiligen Effekt«, bemerkte Wilson. Er wies auf einen Stuhl. »Nehmen Sie Platz, Randall. Wir haben ein paar wichtige Dinge zu besprechen. Erstens: Ist Le Dan gut angekommen?«
»Ja, er ist jetzt da«, antwortete Randall. »Er findet, Sie haben eine schöne Wohnung. Jedenfalls eine schöne Aussicht.«
»Das freut mich.«
»Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie ihn aufnehmen«, sagte Randall.
»Nicht der Rede wert. Ganz bestimmt ist das bloß ein Missverständnis, das sich bald aufklärt.« Er fuhr sich nervös durch die Haare, da er beschlossen hatte, Randall mitzuteilen, dass der Esra-Transport vorgezogen würde. »Ich möchte Ihnen über Barton Ingerson erzählen, den ehemaligen Teamleiter, der mich damals für den Jesaja-Auftrag ausgewählt hat.«
Randall lächelte höflich. »Ein bisschen weiß ich schon über ihn.«
»Er war ein erstaunlicher Mann«, begann Wilson. »Er ist es, der den verborgenen Text in den alttestamentarischen Schriften entdeckt hat. Ganz allein hat er die Entschlüsselung bewerkstelligt, ohne Hilfe des Data-Tran-Computers, um die Sache geheim halten zu können. Wichtig daran ist, dass Barton alles getan hat, um das Projekt voranzutreiben. Vom ersten Tag an, da er erkannte, dass es den verschlüsselten Auftrag gibt, verfolgte er nur ein Ziel: ihn auszuführen. Zwei Jahre lang hat er allein daran gearbeitet und die Zeitreiseapparate gebaut, während er vorgab, die Relativitätstheorie beweisen zu wollen.«
»Wie man hört, ist er ein Querdenker gewesen«, sagte Randall.
»Er war der ehrbarste Mensch, dem ich je begegnet bin«, erklärte Wilson. »Wussten Sie, dass ich ihn erst zwei Wochen vor meinem Transport kennengelernt habe?«
»Ich hatte keine Ahnung, dass die Zeit so kurz war.«
»Ja, nur zwei Wochen. Das kam, weil uns die Zeit davonlief, denn die Versuche zur Relativitätstheorie sollten eingestellt werden, und Barton musste ein paar schnelle Entscheidungen treffen, sonst wäre es mit der Jesaja-Mission vorbei gewesen.«
»Und da hat er Sie ausgewählt?«, fragte Randall.
Wilson nickte. »Ich hatte die natürlichen genetischen Voraussetzungen. Und Barton entschied, dass ich der Aufseher sein sollte. Als ich departikelisiert wurde, wusste niemand, dass ich diesen speziellen Auftrag hatte. Nur Barton und ich kannten die Wahrheit.«
Randall lehnte sich zurück. »Unglaublich, dass alles so gekommen ist.«
»Das beweist eines«, schloss Wilson, »nämlich dass Vorbereitung nicht alles ist. Die innere Einstellung und Konzentration sind viel wichtiger. Das habe ich von Barton gelernt. Und ich kann Ihnen versichern, dass seine Weisheit mir durch den ganzen Stress des Unternehmens geholfen hat, bei jedem Schritt. Ich kam in der Vergangenheit an und fand das totale Chaos vor – so kam es mir jedenfalls vor. Und ich hatte niemanden, dem ich vertrauen konnte.«
»Trotzdem waren Sie erfolgreich.«
»Durch meine innere Einstellung und Konzentration«, erklärte Wilson. »Und das wird sich auch bei Ihrer Mission bewähren. Haltung und Konzentration. Wir haben es nicht mit normalen Umständen oder mit einem Spiellevel zu tun. Die Chancen stehen immer gegen den Aufseher, doch zum Ausgleich hat er die nötige Information, um seine Umgebung zu lenken.«
»Wieso habe ich das Gefühl, dass Sie eine schlechte Neuigkeit für mich haben?«
»Ob sie schlecht ist, hängt von Ihrer inneren Einstellung ab.« Wilson holte tief Luft. »Um den Erfolg Ihrer Mission zu gewährleisten, muss der Transport schon am 28. Juli erfolgen. In sieben Tagen also.«
Randall saß bloß da.
»Wir haben keine andere Wahl.«
»Warum muss er vorgezogen werden?«
»GM will den Auftrag ändern«, antwortete Wilson vorsichtig. »Er glaubt, es gibt andere Projekte, die wichtiger sind.« Näher wollte Wilson darauf nicht eingehen. »Darum müssen wir vorsichtig sein. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Erfolg oder Katastrophe allein davon abhängen, ob man sich ohne abzuweichen an den Auftragstext hält.«
Randall schwenkte seinen Drehstuhl zum Fenster hin und schaute nach draußen in den schattigen Wald. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt so eine Reise antreten will«, sagte er leise. »Klar, Sie haben es getan. Aber wie kann ich wirklich sicher sein, dass ich der Mensch bin, der diesen Auftrag ausführen soll? Hier sind so viele Faktoren im Spiel. Leute müssen manipuliert werden … und der Lauf der Geschichte muss gelenkt werden.« Er wurde lauter. »Ich meine, um Himmels willen, Wilson! Der Aufseher wird Armeen – viele Tausend Männer – in die Schlacht führen. Da wird Geschichte gemacht. Können Sie sich die Konsequenzen vorstellen, wenn ich versage? Ich weiß nicht, ob ich dem wirklich gewachsen bin.« Randall sah plötzlich sehr müde aus. »Vielleicht sollte man Sie schicken. Sie haben es schon einmal geschafft. Sie wissen, was auf Sie zukommt.«
»Bleiben Sie optimistisch«, riet Wilson. »Sie sind ausgewählt worden. Und offen gestanden, Sie sind tausendmal besser geeignet, als ich es damals war, und hundertmal besser vorbereitet.« Wilson dachte an die Instruktionen, die Le Dan seinem Schüler gegeben hatte, und an das jahrzehntelange Training. Randall Chen war in jeder Hinsicht außergewöhnlich. In vielem fühlte Wilson sich ihm mächtig unterlegen. Schließlich war es nur seine Omega-Programmierung, die ihn von anderen Menschen unterschied – und die hatte er nur aufgrund einer illegalen Operation.
»Ich versuche es ja«, sagte Randall, der sichtlich mit seinen Zweifeln rang. »Aber manchmal fällt mir das schwer, muss ich gestehen.«
Darauf sagte Wilson genau das, was Barton ihm entgegengehalten hatte: »Ich bin überzeugt, dass Sie der Mann für diesen Auftrag sind. Das würde ich nicht sagen, wenn es mir nicht ernst wäre.«
Randall fing unvermittelt an zu lachen. »Wissen Sie, es ist wirklich komisch, wie wir beide darüber reden, in eine andere Zeit und ein völlig anderes Land zu reisen. Ich soll Cixi und Lord Elgin treffen, ihnen meinen Willen aufzwingen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das ist alles ein schlechter Scherz.«
Wilson erinnerte sich lächelnd, wie es ihm gegangen war, als er versuchte, sich mit seinem Auftrag abzufinden. »Ich war überzeugt, diese Partikelzerstäuber nehmen mich auseinander und aus dem Zusammensetzen würde dann nichts werden. Können Sie sich das vorstellen? Und ich hatte wirklich Angst vor Schmerzen. Ich weiß noch, wie ich Barton gefragt habe, ob es wehtun wird, wenn der Zeitreiseprozess beginnt. Und er meinte: Nein, das tut nicht weh. Aber wie hätte er das überhaupt wissen sollen?«
Randall und Wilson fingen an zu kichern.
Randall bezwang seine Heiterkeit. »Und? Hat es wehgetan?«
»Es waren die schlimmsten Schmerzen, die ich je ertragen musste!«, antwortete Wilson und brach in ungehemmtes Lachen aus. Schließlich seufzte er. »Aber davon mal abgesehen sind Sie in einer viel besseren Position, als ich es war.«
»Das kommt mir allmählich auch so vor«, sagte Randall bloß noch grinsend.
»Um ehrlich zu sein, mein Leben war festgefahren, und ich fand, ich hatte nichts mehr zu verlieren«, gestand Wilson.
Plötzlich war Randall wieder ernst. »Bei allem Respekt, Wilson, so verhalten Sie sich ständig. Dabei haben Sie so viel erreicht.«
Wilson schaute zum Wald. »Es ist wohl ein Stück von mir in der Vergangenheit geblieben, als ich hierher zurücktransportiert wurde. Und seitdem habe ich Geschmack daran gefunden, meine Grenzen auszutesten. Aber wie gesagt, Sie sind der bessere Aufseher. Sie haben alle Fähigkeiten und die Ausbildung, um den Auftrag zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Ich glaube sogar, dass Ihre Vorbereitung gar nicht besser sein könnte.«
»Ich hatte viel mehr als zwei Wochen«, bestätigte Randall nachdenklich. »Also gut. Wer vom Team weiß, dass der Start vorgezogen wird?«
»Andre weiß es. Und Davin wird es bald herausfinden. Ich bin mir nicht sicher, wer noch einbezogen wird, wichtig ist aber, dass wir Jaspers volle Unterstützung haben.«
»Sie und Jasper stimmen überein?«, hakte Randall erstaunt nach. »Das ist wohl eine echte Premiere, nach allem, was ich höre.«
»Das zeigt, dass wir offenbar das Richtige tun.«
Randall wirkte nun schon ruhiger, und Wilson schwieg eine ganze Weile, ehe er ein anderes Thema anschnitt. »Ihnen ist klar, dass Cixi vielleicht versuchen wird, Sie zu verführen?«
Randall tauchte aus seinen Gedanken auf. »So steht es im Auftragstext.«
»Sie müssen aus Ihrer Erfahrung von gestern Nacht lernen, Randall. Wie die Geschichte zeigt, war es eine ihrer großen Fähigkeiten, Männer anzuziehen, wenn sie etwas von ihnen wollte. Ich stelle nur das Offensichtliche fest. Sie müssen jederzeit einen klaren Kopf behalten. Besonders in ihrer Gegenwart. Nach allem, was ich über sie gelesen habe, ist sie eine außergewöhnliche Frau mit außergewöhnlichem Ehrgeiz. Sie müssen gegen ihre Offerten gewappnet sein und sich auf die vorliegende Aufgabe konzentrieren. Wenn Sie ihr begegnen, wird Ihre Mission fast erfüllt sein. Richten Sie den Blick auf das Licht am Ende des Tunnels, und lassen Sie sich nicht ablenken.«
Randall biss sich auf die Unterlippe. »Ich verstehe.«
»Sie müssen alles anwenden, was Sie gelernt haben, alles über Machtentfaltung und Selbstbeherrschung. Der Umgang mit Cixi ist der schwierigste Teil der Aufgabe.«
Randall atmete tief durch. »Keine Sorge, Wilson. Ich werde schon mit ihr fertig. Und ich habe aus dem gestrigen Abend tatsächlich etwas gelernt. Es ist seltsam, aber offenbar ist die Sache mit Claudia aus einem bestimmten Grund passiert.«
»Solche Zufälle sind eine gute Sache«, sagte Wilson. »Sie bedeuten im Allgemeinen, dass Sie auf dem richtigen Weg sind.« Nach einem Blick auf seinen Handheld sagte er: »Kommen Sie, gehen wir etwas essen.«
»Ich habe eigentlich keinen Hunger«, sagte Randall.
Wilson zog ihn aus seinem Stuhl. »Sie müssen bei Kräften bleiben, das hat oberste Priorität. Gesundes Essen, gesunder Körper.«
»Gestatten Sie eine neugierige Frage, Wilson. Warum haben Sie Lara nicht mit zu sich genommen? Sie hätte es sichtlich gern getan.«
Sofort sah er Minerva vor sich und tat sein Bestes, um das Bild zu verscheuchen. »Ehrlich gesagt, ist sie nicht mein Typ.«
»Wie kann sie nicht Ihr Typ sein? Sie ist verlockend und war bereit, alles zu tun, um Sie glücklich zu machen.«
Wilson drückte auf den Fahrstuhlknopf. »Nennen Sie es verrückt, aber es kam mir nicht richtig vor. Die Mädchen handelten im Auftrag; wie der aussah, weiß ich nicht. Aber ich wollte auf keinen Fall dabei mitmachen.« Um von dem Thema wegzukommen, fragte er: »Wenn Le Dan wüsste, was Ihnen bevorsteht – und wenn Sie ihm die Wahrheit sagen dürften –, was meinen Sie, wie sein Rat lauten würde?«
Sie betraten den Aufzug.
»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Randall und starrte geradeaus. »Vermutlich so etwas wie: Das Wesen deiner Reise ist wie ein Pfad, auf dem du wandelst. Bei jedem Schritt wird der Pfad beschwerlicher werden, doch betrachte das nicht als gemeine Auflehnung gegen dein Ziel. Der Pfad trägt nur seinen Teil bei.«
Wilson fühlte sich plötzlich wie im freien Fall. Ob das von dem ruckartigen Anfahren des Aufzugs kam oder von dem gerade gehörten Satz, war ihm nicht ganz klar. Doch so oder so, die Esra-Mission war in sehr guten Händen.