12.

Wei-Festung
1600 Meter östlich von Taku, China
21. August 1860
Ortszeit: 11.15 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 171

Wie auf ein Stichwort setzte um Viertel nach elf ein starker Regen ein. Zu Hunderten schleppten die Kulis Leichen aus dem Fort und stapelten sie jenseits der Gräben zum eiligen Begräbnis auf. Bei dem feuchtheißen Wetter konnten sich Krankheiten rasend schnell ausbreiten, und je eher die Toten außerhalb der Mauern waren, desto besser. Es gab zweitausend tote Qing-Soldaten und etliche Hundert gefallene Mongolenkrieger des Schwarzen Horqin-Banners. Kein Soldat, der in der Festung postiert gewesen war, atmete noch. Die Beschützer des Reichs der Mitte hatten, wie befohlen, bis zum letzten Mann gekämpft.

In all den Jahren auf dem Schlachtfeld hatte Sir Hope noch keine solche Verbissenheit erlebt. Die Chinesen waren zumeist nicht berühmt für Tapferkeit, doch bei näherem Hinsehen zeigte sich der Grund, warum es diesmal anders gewesen war. Ihre Anführer hatten die eigenen Leute in den Mauern verbarrikadiert, und angesichts der vielen Enthaupteten unter den Feinden schloss Sir Hope, dass jeder, der Furcht zeigte oder versuchte, seinen Posten zu verlassen, zur »Ermutigung« der Übrigen getötet worden war.

Für die Verbündeten war das ein entscheidender Sieg. Die Festung Wei, die »Mächtige«, war mit dem Verlust von nur 201 britischen und 158 französischen Soldaten eingenommen worden. Der Feind hatte mindestens sechsmal so hohe Verluste. Unter normalen Umständen hätte es sich umgekehrt verhalten. Die Qing waren in der überlegenen Position gewesen, ihre Verteidigungsanlagen stark und sie selbst in der Überzahl. Verloren hatten sie dennoch.

Lord Elgin hätte nicht glücklicher sein können. Ihn erfüllte ein solches Hochgefühl, dass er eine Stunde lang durch knietiefen Morast watete, um zum Eingang der Festung zu gelangen, die er für Königin Victoria erobert hatte. Nun saßen er und Harry Parkes in den Louis-Seize-Lehnstühlen unter einer Canvasplane auf der Zugbrücke. Vor ihnen knieten vier Kulis, die ihnen eifrig den Schmutz von den Stiefeln schabten und das Leder polierten, bis es glänzte. Lord Elgin schwitzte noch mehr als gewöhnlich und hatte den schwarzen Wollmantel ausgezogen. Sein weißes Rüschenhemd war schweißnass. Sobald er sich ausgeruht hätte, wollte er sich den Uniformrock mit den Orden überziehen und den großen Auftritt inszenieren.

Randall Chen hatte Herzklopfen. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in der Vergangenheit fühlte er sich völlig überfordert. Er wischte sich mit einem dunklen Lappen den Schmutz von den Schuhen und ging auf das Tor zu. Senggerinchin hätte mit seiner Kavallerie angreifen müssen, war jedoch mit seinen Leuten nach Tientsin geflohen. Es schien, als hätte der Mongolenprinz Gedanken lesen können und gewusst, dass er beim Angriff in eine Falle geraten wäre.

»Wir haben für Königin und Vaterland gesiegt«, sagte Lord Elgin lächelnd.

Randall schaute angewidert zu den Leichenhaufen, die keine hundert Schritte entfernt aufgetürmt wurden. Das Regenwasser, das an ihnen herunterlief, färbte sich rot vom Blut der Menschen, die die Festung verteidigt hatten. Fünfzig Kulis gruben mit Schaufeln in der nassen Erde, während zwei Sergeants der königlichen Pioniere ihnen Befehle zubrüllten, schneller zu arbeiten, da die Gräber sich unter der hereinkommenden Flut bereits mit Wasser füllten.

»Ein großartiger Sieg«, räumte Randall ein. Doch er war traurig angesichts der Gefallenen, und seine Nerven lagen blank, weil Senggerinchin nicht angegriffen hatte. Wäre alles nach Plan verlaufen, hätte er seine Tataren in den Kampf geschickt. Stattdessen hatte er sich zurückgezogen. Die Geschichte war von ihrem vorbestimmten Verlauf abgewichen. Eine neue Ordnung hatte sich durchgesetzt, und Randall konnte die Auswirkungen nicht erahnen. Senggerinchin hätte vor zwei Stunden in die Schlacht reiten und nunmehr tot bei den anderen armen Seelen liegen sollen, die darauf warteten, im Schlickwatt des Haihe begraben zu werden. Doch er war noch am Leben.

Randall dachte an Wilsons Rat: Setzen Sie nie voraus, dass die Geschichte festgelegt ist. So sehr er sich zu beruhigen versuchte, er lag mit sich im Streit wegen seines augenscheinlichen Versagens. Noch zwei Stunden zuvor war er Herr über die großen Ereignisse gewesen, die rings um ihn stattfanden, jetzt schien er nur noch Zuschauer zu sein. Statt seiner war es Senggerinchin, der den Lauf der Geschichte verändert und Randall dabei die Kontrolle über den zweiten Opiumkrieg entrissen hatte. Es war Zeit, sorgfältig nachzudenken, entschied Randall, und sich einen Plan zurechtzulegen, wie er das Heft wieder in die Hand bekäme. Als Sir Hope Grant mit seinen Soldaten in Senggerinchins Falle getappt war, hatte Randall den Fehler korrigieren und die Geschichte wieder in ihre Bahn lenken können. Dies würde er jetzt noch einmal tun müssen. Eines war sicher: Der Mongolenprinz musste während dieses Krieges fallen. Er war ein zu guter Feldherr. Er sei ein kritischer Charakter in der chinesischen Geschichte, hatte Wilson bemerkt – was sich nun auf besondere Weise bewahrheitete.

»Ihre Haubitzen müssen neu in Stellung gebracht und auf die Zhen-Festung gerichtet werden«, erklärte Randall selbstsicher, »aber ohne einen Schuss abzugeben. Die Qing sollen glauben, dass Sie es nicht nötig haben, Ihre Überlegenheit zu beweisen.«

Lord Elgins Hochgefühl überlagerte vorübergehend seine Abneigung gegen den chinesischen Berater. »Gehen wir auf den Wehrturm und besprechen unsere Pläne«, sagte er liebenswürdig. Er genoss das Bewusstsein, die schmachvolle Niederlage seines Bruders und des Admirals endlich gerächt zu haben. Die Ehre und der Ruf der Bruces waren wiederhergestellt, und vor allem hatte er seinen eigenen Ruf als größter Stratege des Britischen Empires untermauert.

»Wann werden wir die anderen Forts angreifen?«, fragte Parkes, der gerade seine Schuhe inspiziert hatte und von seinem Stuhl aufstand.

»Sie werden in den nächsten Stunden kapitulieren«, antwortete Randall. In Wirklichkeit war er gar nicht sicher, was als Nächstes passieren würde, musste aber annehmen, dass sich die Ereignisse mehr oder weniger an den Plan der Geschichte halten würden.

»Sie glauben nicht, dass sie kämpfen werden?«, fragte Elgin.

»Ihr Kampfgeist ist gebrochen«, meinte Randall.

Parkes stieß mehrmals ein Streichholz gegen die Reibfläche der Schachtel, bis es aufflammte, und hielt es an die Pfeife. Langsam quoll Rauch von seinen schmalen Lippen, stieg unter der Plane auf und zog in den Regen hinaus. »Wenn Verhandlungen nötig sind, stehe ich zur Verfügung«, bot er stolz an.

Lord Elgin betrachtete seine Stiefel und deutete mit seinem dicken Zeigefinger auf einen Fleck an der Spitze, der seiner Ansicht nach noch Wachs und Politur benötigte. »Ein bisschen mehr Mühe!«, verlangte er ärgerlich, was von Parkes sogleich ins Kantonesische übersetzt wurde. Die beiden Kulis, die aus Hongkong stammten, rieben über die Stiefelspitzen, als hinge ihr Leben davon ab. Elgin lehnte sich derweil zurück und sah Randall lächelnd ins Gesicht. »Ich bin sehr zufrieden mit Ihrer Beratung, Mr. Chen. Durch diesen großartigen Sieg haben Sie meine hohen Erwartungen sogar noch übertroffen.«

»Es sind Ihre tapferen Soldaten, die den Sieg errungen haben«, erwiderte Randall.

Das waren genau die Worte, die Elgin hören wollte.

Sobald seine Stiefel zur Zufriedenheit geputzt waren, stand er auf, zog seinen schweren Mantel an, trank einen Schluck aus seiner silbernen Taschenflasche und stieg von der Zugbrücke in den knöcheltiefen Schlamm des Torwegs. »Kommen Sie … lassen Sie uns sehen, was wir zusammen erreicht haben.« Unter den Regenschirmen ihrer Kulis und mit vorsichtigen Schritten begaben sich die drei Männer ins Innere der Festung.

Es bot sich ein grausiger Anblick. Überall lagen Leichen. Die Gebäude, die in der Mitte gestanden hatten, waren mit dem Pulvermagazin in die Luft gesprengt worden. Ringsherum führten Rampen in verschiedene Richtungen, einige zur Brüstung der Außenmauer – die von innen gar nicht so einschüchternd wirkte – und andere zur mittleren Geschützstellung, die auf dem wuchtigen Turm postiert war. Dort, hoch über dem Morast und den blutigen Rinnsalen, hing der Union Jack nass und schlaff im Regen und bewegte sich nur hin und wieder, wenn der Wind kurz auffrischte.

An der Ost- und der Südseite ragten fünfzig Leitern der Verbündeten über die Mauerkante. Die Franzosen waren in dieser Hinsicht sehr tüchtig gewesen, hatten dafür aber ein Fünftel ihrer Soldaten verloren. Obwohl sie besonderen Heldenmut an den Tag gelegt hatten, war Général Gros bereits auf dem Rückweg zu seinem Stützpunkt bei Pei Tang. Die Festung war nun in britischem Besitz, und Gros hatte hier nichts weiter zu schaffen.

Auf den hölzernen Wehrplatten der Festung scharte sich die Mehrheit der 2. Division und die von Gros zurückgelassenen Verwundeten, um sich um ihre Verletzungen zu kümmern. Einige standen, andere saßen angelehnt im Regen, und nur ihre Mützen und Kopftücher hielten die Nässe von ihnen ab. Sie sahen vollkommen erschöpft aus.

Obwohl Randall gewusst hatte, was ihn erwartete, überwältigte ihn der Gestank des Todes und der Anblick so vieler Leichen. Neben seinem Fuß ragte eine abgetrennte Hand aus dem Schlamm, als wollte sie nach einem Säbel greifen und weiterkämpfen. Ob sie einem Abendländer oder einem Asiaten gehört hatte, war nicht zu erkennen.

Lord Elgin stieg die Turmtreppe hinauf und blieb auf jedem Stockwerk kurz stehen, um mit jemandem zu sprechen und Atem zu holen, denn damit hatte er Mühe, sobald er sich körperlich anstrengte. So dauerte es fast fünf Minuten, bis Elgin, Parkes und Randall auf der Plattform ankamen. Sie wurden begeistert von Sir Hope begrüßt, dessen rechter Arm inzwischen dick bandagiert war.

»Willkommen in der Wei-Festung«, sagte er stolz.

Elgin schüttelte ihm herzlich die Hand. »Sir Hope, wenn wir Sie heute noch mal zum Ritter schlagen könnten, würden wir es tun!«

Sir Hope, der seinen schmerzenden Arm wieder an sich gezogen hatte, bedachte Parkes und Randall lediglich mit einem Nicken. »Ich würde diese Ehre gerne eintauschen, wenn ich jeden Einzelnen meiner Männer nur einmal zum Ritter schlagen könnte.«

»Sie sind der tapferste Soldat, den Königin Victoria hat«, meinte Parkes lächelnd.

Nachdem er den Wunsch, ihm beizupflichten, bezwungen hatte, erwiderte Grant: »Ich denke, wir haben eine sehr gute Vorstellung gegeben.«

Randall fand diesen Austausch von Nettigkeiten angesichts von Tod und Vernichtung widerwärtig.

»Doch eines ist sicher, Mylord«, fügte Sir Hope hinzu. »Ich werde einige meiner Leute für das Viktoriakreuz vorschlagen. Sie haben den Truppen Ihrer Majestät reichlich Ehre gemacht.«

Randall zog sich aus der Unterhaltung zurück und nahm sich Zeit, um von dem Aussichtspunkt seine Umgebung in Augenschein zu nehmen. Die Tore waren wie erwartet von innen verbarrikadiert. General Dang hatte den Befehl erhalten, jeden Mann zu töten, der versuchte, seinen Posten zu verlassen – darum hatten sie bis zum Tod gekämpft. In der Ferne jenseits des Haihe lag das Städtchen Taku. In der entgegengesetzten Richtung, draußen auf dem Meer, lagen über fünfzig Schiffe der königlichen Marine vor Anker, knapp außerhalb der Reichweite der Kanonen des südlichsten Forts. Als er über den Fluss schaute, war tatsächlich zu erkennen, dass dieser mit Bambussperren und Ketten blockiert war. Wäre die Flotte bei Flut in die Mündung hineingefahren, hätte sie festgesessen und ihr Schicksal wäre besiegelt gewesen. Die gut zwanzig Festungen, die am Ufer des Flussdeltas entlang lagen, machten einen gewaltigen Eindruck, besonders die größeren, die über das Schlickwatt aufragten. Man verstand sofort, warum die Qing glaubten, sie könnten jede Invasion von Seeseite vereiteln.

Lord Elgin klopfte Randall mit schwerer Hand auf den Rücken. »Mr. Chen hat uns mit seinem Rat zu diesem Sieg geführt. Doch eines muss ich sagen, Sir Hope. Er hat den Ruhm allein Ihnen und Ihren Männern zugeschrieben, als der Union Jack triumphierend über dieser Festung wehte.«

Grant sagte dazu nichts; er hielt nur seinen bandagierten Arm fest, damit das Pochen in seiner Wunde nicht zur Schulter hinaufwanderte. Um keinen Preis auf Gottes Erde würde er sich an dem Lob für einen Mann beteiligen, der sein eigenes Volk verriet, ob blaue Augen oder nicht.

Elgin blickte ebenfalls den Fluss hinunter, ohne die Hand von Randalls Schulter zu nehmen. »Sie hatten recht, was die Blockade angeht, und auch hinsichtlich der russischen Kanonen«, sagte er leise. »Ich kann mir vorstellen, dass wir in große Schwierigkeiten gekommen wären.«

»Aber die Kavallerieattacke ist ausgeblieben«, bemerkte Parkes, der in anderer Richtung über das Schlickwatt spähte. »Ich frage mich, wieso Sie sich hierin geirrt haben.«

Lord Elgin griff rasch ein. »Nun darauf bestehen zu wollen, dass Mr. Chen den Franzosen den Sieg zuschanzen wollte, ist doch lächerlich. Wir haben gesiegt und werden in die Geschichte eingehen.«

»Das ist wahr«, bestätigte Parkes, als wäre Randall gar nicht dabei. »Doch wird er hinsichtlich der übrigen Forts recht behalten?«

Randall hatte ein hohles Gefühl im Magen. Er konnte nicht mehr sicher sein, was passieren würde. »Sie werden kapitulieren«, behauptete er fest. Seine Gedanken wanderten zu Wilson. Was würde er in dieser Lage tun?

Er zog seine Uhr hervor und sah nach der Zeit. Inzwischen war das eher eine nervöse Angewohnheit geworden, doch sie diente dazu, den britischen Adel auf dem Wehrturm in Unruhe zu versetzen. Wie immer verfolgte Parkes alles, was Randall tat und sagte, mit größtem Interesse. Dieser Fremde war ihm ein Rätsel, und nicht nur ihm, sondern jedem, der ihm begegnete.

Und so war er auch nicht der Einzige, der den chinesischen Berater mit den blauen Augen genau beobachtete. Auf den unteren Ebenen des Forts, wo man immer noch damit beschäftigt war, die Gefallenen wegzuschaffen, befanden sich unter den Kulis, die zu zweit je einen Toten die Rampen hinuntertrugen, Senggerinchins Attentäter. Es waren die besten Männer, die er aufbieten konnte; sie hatten ein Leben lang gelernt, schnell und lautlos zu töten. Nachdem sie sich den Baumwollanzug toter Kulis übergezogen hatten, konnten sie sich frei unter den anderen Kulis bewegen und würden nicht so leicht erkannt werden. Ihr einziges Handicap war, dass sie nur Mandarin sprachen, während die Kulis aus Hongkong stammten und nur Kantonesisch konnten. Untereinander waren sich die vier Männer nur in einem einig: Sie würden im Freien und zu mehreren angreifen. Ihre Übermacht und das Überraschungsmoment waren ihr größter Vorteil. Der Erfolg war ihnen sicher.

Abwechselnd beobachteten sie den Blauäugigen, um sich einen Eindruck zu verschaffen und den rechten Moment für den Anschlag abzupassen.