15.
Tientsin, China
100 Kilometer südöstlich von Peking
1. September 1860
Ortszeit: 17.23 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 182
Seit vier Tagen saßen Harry Parkes und Général Gros bei den offiziellen Verhandlungen in Tientsin. Wie erwartet vertrat Generalgouverneur Hangfu die Qing, wie schon vor zwei Jahren. Er war ein würdevoller ältlicher Beamter mit zitternden Händen, der es gewohnt war, von Angesicht zu Angesicht mit den abendländischen Invasoren umzugehen.
Dagegen war Großsekretär Po Sui nirgends zu sehen, und anfänglich wurde sein Tod mit keinem Wort erwähnt. Erst am dritten Tag informierte Hangfu seine Verhandlungsgegner, dass Po Sui den Seidenstrang bekommen habe, weil er so dumm gewesen sei, dem Vertrag von Tientsin zuzustimmen.
Diese Mitteilung wurde ausgesprochen, um bei den Gegnern Bestürzung hervorzurufen, doch die Wirkung blieb aus. Parkes wiederholte, was Elgin einmal gesagt hatte: »Er hätte nicht zustimmen dürfen, wenn er dazu nicht ermächtigt war.« Und das Gespräch ging weiter. Briten und Franzosen übten größtmöglichen Druck aus, um zusätzliche Reparationsleistungen zu erzielen.
Wenn Parkes täglich die Stadt betrat, war er ungewöhnlich nervös. Nirgendwo waren Stadtwachen zu sehen, und das machte ihn besonders misstrauisch. Hinter jeder Ecke erwartete er einen blutigen Hinterhalt, konnte jedoch nach außen Ruhe und Selbstvertrauen bewahren. Die britischen Forderungen waren eindeutig: Die Taku-Festungen und Tientsin waren offiziell zu übergeben; die Zölle auf britische und französische Waren waren abzuschaffen; der Sohn des Himmels musste Opium wieder genehmigen. Höchst wichtig war auch, den britischen und französischen Botschafter in Peking residieren zu lassen. Zusätzlich verlangte Parkes eine Audienz für Lord Elgin bei Kaiser Hsien Feng in der Verbotenen Stadt, was jedoch viel schwieriger zu erlangen war als jeder andere Punkt des Forderungskatalogs.
Am frühen Abend kehrten Parkes und seine Diplomaten zu Pferd ins britische Feldlager zurück, und er berichtete auf der HMS Grenada von den Tagesereignissen. Die Verhandlungen verliefen freundlich. Die Qing behandelten das Empire mit augenscheinlichem Respekt, doch die ausgedehnten Formalitäten bei jeder Sitzung rochen mehr nach Verzögerungstaktik als nach ernster Verhandlungsbereitschaft. Elgins Frustration wuchs zusehends. Es war komisch: Der Union Jack flatterte längst auf sämtlichen Festungen, und dennoch wankten die Qing-Vertreter bei jedem Detail der offiziellen Übergabe. Dabei waren sie zu den Einzelheiten hinsichtlich Tientsin noch gar nicht gekommen. Und um die Lage noch undurchsichtiger zu machen, war Senggerinchin mit seiner Reiterei wie vom Erdboden verschwunden. Die Qing-Vertreter lehnten es glatt ab, über ihn zu reden, und bemerkten bloß, er sei ein mongolischer Verräter.
Parkes war wegen seiner Verwicklung in die Arrow-Affäre in der gesamten Regierungshierarchie eine wohlbekannte Figur, erst recht da er die Gelegenheit genutzt hatte, um einen zweiten Krieg um das Opium anzufangen, nachdem Ye Mingchen, der Kaiserliche Kommissar Kantons, seinen Soldaten befohlen hatte, an Bord der Arrow zu gehen und die Mannschaft festzunehmen. Seine Soldaten hatten auch die Opiumladung ins Wasser geworfen, und das war es eigentlich, was die Räder des Krieges in Gang gesetzt hatte.
Bei solch einer unrühmlichen Reputation genoss Parkes auf Seiten der chinesischen Würdenträger weder Vertrauen noch Sympathie, und infolgedessen bereitete es diesen großes Vergnügen, ihm gegenüber einen übertriebenen Respekt an den Tag zu legen, während sie ihn hinter verschlossenen Türen unverfroren verleumdeten.
Bei seiner täglichen Rückkehr zur Grenada erstattete er eingehend Bericht über die Anträge und Gegenanträge der Sitzung. Dabei legte er zusammen mit dem Diplomaten Thomas Wade die Absichten der Mandarine offen wie das Innere einer fauligen Zwiebel, wie er sich ausdrückte.
Randall Chen dagegen machte sich nur Sorgen um den Verbleib und die Absichten Senggerinchins. Seit dem Anschlag auf sein Leben hielt sich Randall im Zeltlager der Briten in Deckung. Auf Elgins Vorschlag verließ er tagsüber nicht einmal sein Quartier, und abends wurde er im Schutz der Dunkelheit jedes Mal zu einem anderen Zelt gebracht – unter den Umständen eine umsichtige Entscheidung, wie er fand. In den Offiziersquartieren war ein ganzes Bataillon Ludhiana Sikhs eingesetzt worden, die auf dem Gelände rund um die Uhr mit geschultertem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett patrouillierten.
Es war Herbst geworden. Jeden Nachmittag gegen vier Uhr setzte ein sintflutartiger Regen ein, der den Zeltplatz gut zwei Stunden lang überschwemmte und in einen Sumpf verwandelte. Ein weiterer Tag war ohne nennenswerte Ergebnisse vergangen. Lord Elgins Geduld mit den zeremoniellen Gepflogenheiten der Mandarine erschöpfte sich allmählich. »Um weiterzukommen sind wir auf Tientsin nicht angewiesen!«, sagte er jedes Mal. »Die Qing nutzen die Zeit, um ein großes Heer zusammenzuziehen. Wir müssen eingreifen!«
Wahrscheinlich hatte er recht, doch Randall brachte ihn davon ab. Es wäre unklug, an Tientsin vorbeizuziehen, ohne die Formalitäten der Kapitulation abgeschlossen zu haben und vor allem ohne dort geeignete Truppen zu stationieren, die die Stadt im Falle eines Großangriffs halten könnten. Er fürchtete, Senggerinchin würde die Stadt wieder einnehmen und als Operationsbasis benutzen. Die Verbündeten, die gegen Peking marschierten, wären dann geschwächt, und der Mongole könnte ihnen den Nachschub an Nahrungsmitteln und Munition abschneiden.
Für Elgin war das eine frustrierende Zeit. Er saß in seiner Kabine auf der Grenada, trank Scotch und las Byron, während er darauf wartete, dass die Diplomaten ihre Aufgabe erledigten. Die Dichtung konnte ihn jedoch nicht beruhigen. Er wollte seine Truppen um Tientsin herumleiten und Tongzhou überrennen. Aber jeden Tag redete Randall ihm das aus.
»Es könnte eine Falle sein«, sagte er immer wieder. »Wir haben nicht genügend Leute, um unsere Nachschublinien zu halten, wenn Tientsin zurückerobert wird. Sie müssen meinem Urteil vertrauen.« Doch in Wirklichkeit war das nur eine Vermutung. Er wusste nicht im Mindesten, ob Senggerinchin es auf die Stadt abgesehen hatte.
Senggerinchins Feldlager
40 Kilometer nördlich von Tientsin, China
Der Mongolenprinz stand im Eingang seines Zeltes und blickte in den Regen hinaus. Der Nachmittagshimmel war dunkelgrau, und es regnete seit über einer Stunde. Die dicken Wolken, die über seinem Lager hingen, waren von kalten sibirischen Winden gegen die Yanshan-Berge getrieben worden. Dort gaben sie Millionen Liter Wasser ab, um höher steigen und weiterziehen zu können.
»Warum ziehen sie nicht an Tientsin vorbei?«, fragte er ärgerlich. Er drehte sich um und sah seine sechs Generäle herausfordernd an. »Sie warten schon zehn volle Tage, seit sie die Taku-Festungen eingenommen haben. Das ist sehr unbritisch.«
»Weil sie Feiglinge sind?«, schlug General Mu vor.
»Falsch! Dummkopf!«, schrie Senggerinchin. »Sie wissen, dass wir hinter den Bergen warten, um ihnen eine Falle zu stellen! Das ist der einzige Grund, weshalb sie sich so zurückhalten. Das Tor nach Peking steht offen. Die Stadt ist wie ein alleingelassenes Kind, auf das draußen ein Rudel Wölfe lauert. Aber sie marschieren nicht weiter.«
Die Generäle trugen die militärische Uniform des Kaiserhofes mit dem Quadrat des Mandarin auf Brust und Rücken. Das kunstvoll gestickte Tier darin gab den militärischen Rang an, einen von neun. General Mu trug ein chinesisches Einhorn, was ihn als den Höchstrangigen auszeichnete. Der ranghöchste General nach ihm trug einen Löwen, die übrigen vier einen Leoparden, einen Tiger, einen Bären und einen Panther.
»Wir müssen einen Spion in unseren Reihen haben«, beharrte der mit dem Leoparden.
»Das kann nicht sein«, widersprach General Mu. »Seit wir hier sind, wurde jeder einzelne Mann überprüft. Dafür habe ich persönlich gesorgt.«
Nachdenklich zwirbelte Senggerinchin seine strähnigen Bartenden zwischen den Fingern, während die schweren Regentropfen auf das Zeltdach trommelten. Langsam ging er zu seinem vergoldeten Stuhl und ließ sich schwer darauf niedersinken. Das unerwartete Verhalten der Briten hieß, dass der Blauäugige sie noch führte. Die Attentäter mussten versagt haben.
Gerade war er zu dieser Schussfolgerung gekommen, als zwei Soldaten ins Zelt kamen, zwischen sich einen hageren Mann, der die zerrissenen grauen Kleider eines Lastenträgers der Briten trug. Er war offensichtlich hart geschlagen worden und hatte wohl mehrere Tage nichts gegessen. Die Soldaten waren Offiziere des Schwarzen Horqin-Banners und die Leibwächter Senggerinchins.
»Wir bitten um Euer Gehör«, sagte Leutnant Ling und stieß den Kuli zu Boden, damit er vor dem Prinzen kniete.
Der zeigte auf seine Generäle und befahl: »Alle raus.«
Diese senkten den Blick und eilten aus dem Zelt.
»Ich darf vermuten, dass der Blauäugige tot ist?«, fragte Senggerinchin mit halbem Lächeln. Das folgende Schweigen machte daraus ein Stirnrunzeln. Dann brüllte er den Knienden an. »Wenn nicht, warum bist du dann nicht tot, Attentäter?«
Low Wu warf sich vollends zu Boden. »Ich habe wichtige Neuigkeiten«, krächzte er, erschöpft von der Rückkehr und den vielen Schlägen. »Der Blauäugige ist ein Kung-Fu-Meister, höchstwahrscheinlich der Shaolin. Drei von uns haben ihn im Freien angegriffen. Sie hatten Macheten und das Moment der Überraschung auf ihrer Seite. Und dennoch hat er sie, selbst unbewaffnet, mit seiner tödlichen Kunst bezwungen. Ich habe noch niemanden so kämpfen sehen.«
Senggerinchin wurde um einiges ruhiger. Das war allerdings wichtig zu wissen. »Wie hast du uns gefunden?«, fragte er.
»Ich bin drei Tage lang durchs Gebirge gewandert auf der Suche nach Euch, hoher Herr, und habe getan, was ich konnte, um den Barbaren auszuweichen. Sie waren überall. Ich habe mich in Gräben versteckt, im Sumpf und in den Feldern. Eure Späher haben mich gestern Nacht entdeckt. Ich glaubte mich gerettet … und dann haben sie mich geprügelt.« Sein Gesicht war zerschlagen, das linke Auge zugeschwollen, die Vorderzähne ausgebrochen. »Ich habe beteuert, dass ich Euch sprechen muss, dass ich in Eurem Auftrag fort gewesen bin –«
»Halt’s Maul!«, fuhr Senggerinchin ihn barsch an.
Zur Bekräftigung trat Leutnant Ling dem Geschundenen in die Seite, dass diesem die Luft wegblieb.
»Ist das alles, was du mir berichten kannst?«, fragte der Mongole.
Low Wu japste mühsam nach Atem. »Als … die anderen … ihn angriffen … war sein erster Gedanke, den fetten Teufel Elgin zu schützen.« Er bekam weiterhin schlecht Luft, beherrschte sich aber nach Kräften. Jede gezeigte Schwäche würde sicherlich neue Misshandlungen auslösen.
Seinen Blick auf den am Boden liegenden Attentäter geheftet, drehte Senggerinchin an den Schnurrbartenden. »Es war dir befohlen, den Blauäugigen zu töten, nicht die Barbaren zu meinem Lager zu führen.« Er sah Leutnant Ling an. »Wurde er verfolgt?«
»Nein.«
»Ich allein hätte den Blauäugigen nicht mehr töten können«, krächzte Low Wu. »Nicht mit tausend Pfeilen und freier Schussbahn. Er ist zu gut. Aber ich habe mein Leben gewagt, um Euch diese Neuigkeiten zu bringen, hoher Herr. Bitte seid gnädig.«
»Wie haben die Barbaren ihn genannt? Wie lautet sein Name?«
»Sie nennen ihn Randall Chen«, antwortete Low Wu.
Senggerinchin prägte sich den Namen ein. »Ist er es, der das feindliche Heer lenkt?«
»Ja, hoher Herr. Er berät die roten Teufel.«
»Was haben sie vor? Haben sie davon gesprochen, an Tientsin vorbeizuziehen?«
»Lasst mich nachdenken …« Low Wu war inzwischen klar, dass sein Leben davon abhing, was für Nachrichten er weitergeben konnte. »Wenn ich vielleicht ein wenig schlafen könnte«, meinte er schwach, »und etwas zu essen bekäme, würde ich mich sicher besser erinnern.«
»Wem hast du von dem Blauäugigen und seinen Fähigkeiten erzählt?«
»Nur Euch, hoher Herr.«
Mit dem Zeigefinger winkte Senggerinchin Leutnant Ling zu sich, der dicht an ihn herantrat. »Bringt den dreckigen Hund nach draußen und schlagt ihm den Kopf ab. Ich will sein stinkendes Blut nicht auf meinem Teppich. Tut es schnell. Für seine Art von Furcht ist kein Platz.«
Ling nickte, dann trat er zurück.
»Du hast mir wertvolle Nachrichten gebracht, Attentäter«, sagte Senggerinchin und stand von seinem Stuhl auf. »Es war richtig, dass du hergekommen bist. Meine Soldaten werden sich um dich kümmern. Nun geh.«
Die beiden Leibwächter zogen Low Wu vom Boden hoch und geleiteten ihn hinaus. Senggerinchin setzte sich wieder und dachte über das Gehörte nach. Offenbar war der Blauäugige wirklich so einflussreich wie vermutet. Und er war im Shaolin-Kloster ausgebildet worden, verstand sich also aufs Kämpfen. Doch das erklärte noch nicht sein unglaubliches Verständnis des Kriegsgeschehens. Man konnte fast glauben, der Verräter würde von Sunzi persönlich beraten. Woher konnte ein Mann solchen Kalibers so plötzlich kommen? Und warum war er den roten Teufeln gegenüber so unglaublich loyal? Elgins Hass auf die Qing und ihr Volk war allseits bekannt. Der Blauäugige musste ein gewiefter Diplomat sein, um solcher Abneigung zu entgehen und am Leben zu bleiben.
Er will den Thron für sich!, schloss Senggerinchin plötzlich.
Das war die einzig lohnenswerte Beute für solch einen Mann.
Es schien tatsächlich, dass er mit dem Verräter etwas gemein hatte – sie wollten beide dasselbe.
Durch das Prasseln der Regentropfen hörte er den Säbelhieb und den klatschenden Aufprall erst des Kopfes, dann des Rumpfes.
Jetzt war es also ein Kampf um das Reich, schloss Senggerinchin weiter, zwischen zwei würdigen Gegnern, die dasselbe Ziel hatten: den Thron des Kaisers und seinen grenzenlosen Reichtum, Cixi und ihre Freuden eingeschlossen.
Sein Puls raste. Endlich ein Kampf, den es zu gewinnen lohnte, und es erfüllte ihn mit Glück, dass er einem so fähigen Mann gegenüberstand. Dschingis Khan hatte bei seinem Tod nur eines bedauert: dass er nie einem Mann von gleichem Format gegenübergestanden hatte. Wie es schien, würde er dieses Schicksal nicht teilen. Keine fünfzig Kilometer entfernt atmete sein edler Gegner. Davon hatte er immer geträumt.
»Bringt die Generäle her!«, brüllte er.
Die Tataren mussten unbedingt gefechtsbereit sein, wenn der Zeitpunkt gekommen war. Inzwischen war ihr Heer auf über zehntausend Reiter angestiegen, und die Zahl der Fußsoldaten hatte sich verdoppelt. Cixi und der Kriegsrat hielten bislang Wort hinsichtlich der Truppen. Und wenn das so weiterging, kämen im Lauf der nächsten Woche noch zwanzigtausend Mann dazu. Dann wäre er bereit. Die Tataren würden den erbärmlichen Briten und Franzosen mehr als nur gewachsen sein, erst recht sobald deren Nachschublinie überdehnt war.
Jetzt wünschte er sich nicht mehr, dass die roten Teufel einen Fehler machten. Jetzt konnten sie Tientsin haben, ganz ohne List, entschied er. Auf den Hirsefeldern östlich vor Peking würden sich die beiden Heere begegnen. Es würde ein persönlicher Zweikampf werden – ein legendärer General gegen den anderen. Der Blauäugige hatte die überlegene Artillerie, doch er selbst besaß die größere Zahl Soldaten, die Entschlossenheit des Volkes und das Blut Dschingis Khans, das in seinen Adern floss.
Diesen Kampf würde nur einer von beiden überleben. Und für den Sieger wäre der Gewinn unermesslich: Der Thron und die Schätze des Reiches wären sein.