20.

Mongolisches Feldlager
1.600 Meter westlich von Tongzhou, China
18. September 1860
Ortszeit: 11.30 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 199

Cixis Anweisungen an Senggerinchin enthielten alles, was er wissen musste. Auf ihren Befehl hin hatten Mu Yin und Prinz Kung mehrere Briefe an Lord Elgin geschrieben, in denen sie verlangten, er möge seinen Vormarsch nach Peking stoppen. Sie versprachen, alle Reparationen zu leisten, wenn er allein mit einer Ehrengarde von tausend Mann nach Tongzhou käme, um darüber zu verhandeln. Sie versprachen die Kooperation und den Schutz des Kaisers einschließlich einer offiziellen Audienz in Peking gegen Ende des Monats.

Doch das war bloß ein Trick, um die Truppen der roten Teufel zu teilen und weiter in die Ebene zu locken. Erklärten sich diese dazu bereit, so lautete Cixis Befehl, Lord Elgin samt der jämmerlichen Eskorte niederzumetzeln, sobald sie so weit herangekommen waren, dass ihnen ein Rückzug nicht mehr gelingen konnte.

Senggerinchin ahnte schon, dass Randall Chen nicht auf einen so offensichtlichen Betrug hereinfallen würde. Nach allem, was er bisher erlebt hatte, würde sein Gegenspieler den Plan mühelos durchschauen. Doch er bereitete seine Männer nicht ungern auf diese höchst unelegante Taktik vor, denn wenn sie dennoch aufginge, wäre der Blauäugige nicht der Mann, für den er ihn gehalten hatte. In ihren Anweisungen an ihn verlangte Cixi auch weitere Auskunft über den Blauäugigen und seine Rolle in der britischen Führung, unabhängig davon, ob ihr Plan gelang oder fehlschlug. Senggerinchin gedachte auch herauszufinden, wie und warum Randall Chen seinen bemerkenswerten Willen gegen sein eigenes Volk gekehrt hatte.

Sehr zu seiner Überraschung war der britische Gesandte Parkes mit einem kleinen Kontingent britischer und französischer Soldaten, nicht einmal fünfzig Mann, am Vorabend nach Tongzhou hineingeritten und hatte verlangt, zu Mu Yin und Prinz Kung gebracht zu werden, als Vorhut für Lord Elgins Erscheinen. Senggerinchin konnte nicht glauben, dass dieser Parkes so waghalsig vorging. Ganz offensichtlich verstand er nichts von Kriegstaktik, wenn er sich in eine so gefährliche Lage brachte. Doch das erfüllte den Mongolen mit freudiger Erregung, denn er hatte zweitausend Horqin-Krieger innerhalb der Mauern postiert, was zu der Illusion einer stark verteidigten Stadt beitrug; genau die Täuschung, die er zu erzielen hoffte.

Nachdem Cixi erfahren hatte, dass Parkes in Tongzhou war, schickte sie Mu Yin und Prinz Kung zu einem offiziellen Treffen mit dem Konsul. Zwei Stunden lang dauerte das Gespräch, dann standen Parkes und seine Begleiter abrupt auf, sammelten ihre Papiere ein und ritten aus der Stadt nach Süden auf Chang Chia-wan zu. Das war der Augenblick, als Senggerinchins Vorbereitungen zur Täuschung aufflogen.

Als die Ausländer unerwartet nach Süden ritten anstatt nach Osten über den Haihe, bemerkten Parkes und sein Gefolge, dass in den Hirsefeldern Geschützbatterien versteckt waren. Bei näherem Hinsehen entdeckten sie die Soldaten der mandschurischen Banner und die große Anzahl chinesischer Infanteristen im Nordwesten.

Nun war offenbar, dass die Felder zum Schlachtfeld werden sollten.

Der Kriegsverstand versagte plötzlich. Wegen ihrer Verwirrung über das Heranrücken des Feindes von Norden – also aus Richtung Tongzhou – versuchten die chinesischen Offiziere nicht, Parkes und seine Männer aufzuhalten.

Daraufhin band Parkes eine weiße Flagge an die Lanze eines Sikhs, und mit seiner Vierzig-Mann-Eskorte – ohne Colonel Walker und drei Sikhs, die er nach Süden schickte, damit sie die finstere Entwicklung Lord Elgin meldeten – ritt er durch die tatarischen Linien in dem lächerlich tapferen Versuch, dem Kommandeur, der es wagte, sich dem Vormarsch entgegenzustellen, die Sache auszureden. Ein chinesischer Offizier brachte sie in Senggerinchins Lager westlich von Tongzhou. Schließlich standen sich die beiden Männer gegenüber.

Hinter Parkes war eine ungewöhnliche Gruppe versammelt: Henry Loch, der Sekretär von Lord Elgin, Thomas Bowlby, der Korrespondent der Londoner Times, Pater Duluc, ein französischer Priester, und Comte d’Escayrac, ein französischer Wissenschaftler, sechs Captains und Colonels, zwanzig Sikhs und ein halbes Dutzend Dragoner in Paradeuniform. Nachdem man ihnen die Gewehre abgenommen hatte, wirkten die Soldaten eingeschüchtert, zumal sie, umringt von zweihundert Tataren mit gezogenem Säbel, dicht zusammengedrängt in der Mitte des Lagers standen.

Ironischerweise war es Parkes, der die Brüllerei übernahm und in fließendem Mandarin schrie, man habe sie betrogen und die dumme Aktion werde Folgen haben. Er schritt wie ein aufgeregtes Huhn vor Senggerinchins Zelt auf und ab, in völliger Missachtung der vierzigtausend Kavalleristen und Infanteristen, deren Lager sich in alle Richtungen erstreckten, so weit das Auge reichte.

Gute fünf Minuten hörte Senggerinchin unbewegt zu, er drehte nur die dünnen Schnurrbartenden zwischen Daumen und Zeigefinger. Die andere Hand ruhte am Heft seines Säbels.

»Unsere Streitkräfte, die auf Peking marschieren, sind enorm stark«, schrie Parkes, rot vor Anstrengung. »Euer Hinterhalt ist völlig zwecklos!«

»Randall Chen hat Euch gut beraten«, erwiderte Senggerinchin schließlich. Der leere Gesichtsausdruck, den sein Gegenüber plötzlich an den Tag legte, war ihm Beweis genug, dass dieser die Klugheit des Blauäugigen aus eigener Anschauung kannte.

»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, erwiderte Parkes. Seine anschließende Wortkargheit war nur ein weiterer Beweis seiner Mitwisserschaft.

»Ihr werdet mir alles über den Verräter erzählen!«, brüllte nun Senggerinchin.

»Ihr müsst kapitulieren!«, brüllte Parkes zurück. »Dann wird man Euch verschonen.«

Senggerinchin lachte laut heraus. Die Dreistigkeit dieses aufgeblasenen Wichtigtuers war unbegreiflich. Da standen sie auf chinesischem Boden, umzingelt von dem größten Tatarenheer seit zweihundert Jahren.

»Auf jeden Fall wurde Eure Falle entdeckt«, fügte Parkes hinzu. »Ich habe Colonel Walker und drei meiner besten Sikhs zu Lord Elgin geschickt, um ihn zu informieren.« Er machte eine effekthascherische Pause. »Unsere Truppen sind näher, als Ihr denkt. Sobald sie von Eurem Betrug hören, werden sie angreifen ohne Rücksicht auf die Verhandlungen, die wir gerade mit Mu Yin und Prinz Kung erfolgreich abgeschlossen haben. Man wird Euch dafür mit Schimpf entlassen.«

»Ihr habt es hier nicht mit chinesischen Höflingen zu tun, Harry Parkes. Ich bin ein mongolischer Krieger! Nachfahre Dschingis Khans! Anführer meines Volkes! Eure Drohungen sind nicht einmal Staub in meinen Augen, doch Ihr haltet sie für tödliche Pfeile.« Er schwieg einen Moment, dann fuhr er fort. »Ich will von Euch alles über den blauäugigen Randall Chen wissen. Ihr werdet mir sagen, woher er kommt und woher er sein Wissen hat.«

»Ich weiß nichts über diesen angeblichen –«

»Lügner!«, brüllte Senggerinchin, riss den Säbel aus der Scheide und schlug dem Sikh an Parkes’ Seite den Kopf ab.

»Erzählt mir von dem Blauäugigen!«, wiederholte er.

»Wir sind unter der Parlamentärflagge hier!«, schrie Parkes entsetzt.

Der Mongole hob den Säbel und köpfte den Dragoner links von Parkes.

»Erzählt mir von dem Blauäugigen!«

Parkes starrte ungläubig auf die kopflosen Leichen.

Die Blutspritzer auf der Brust des Mongolen ließen ihn noch bedrohlicher wirken. In gebrochenem Englisch sagte dieser: »Sie werden mir von dem Mann erzählen, oder ich köpfe einen nach dem anderen, bis niemand mehr lügen kann!« Er holte mit dem Säbel aus, um einen dritten aus Parkes’ Entourage zu töten.

Von hinten schrie der Korrespondent der Times: »Um Himmels willen, Mann! Sagen Sie ihm, was er wissen will. Der bringt uns alle um, ohne mit der Wimper zu zucken.«

Parkes war es so sehr gewohnt, umfassende Stärke und britische Allmacht an den Tag zu legen, dass ihm die Gefährlichkeit der Lage völlig entgangen war. Jetzt nahm er seine fünf Sinne zusammen und begann, in höchst eloquentem Mandarin bedachtsam zu sprechen. »Ich bin hier aufgrund ausdrücklicher Vereinbarung mit den Kaiserlichen Kommissaren, um ein Bündnis mit dem Sohn des Himmels in feste Form zu bringen.« Sein Ton war jetzt freundlicher, sein Benehmen ruhiger. »Eure Kooperation ist gefragt, Prinz.«

Senggerinchin gab seinen Säbel an einen seiner Leute, um das Blut abwischen zu lassen. »Jetzt möchtet Ihr mir also Respekt erweisen?« Mit einer Handbewegung befahl er zwei Männer zu Parkes. »Kotau!«, schnauzte er.

Ehe Parkes wusste, wie ihm geschah, trat man ihm die Beine weg, worauf er mit Knien und Gesicht am Boden lag und mit der Stirn gewaltsam in den Dreck gedrückt wurde.

»Erzählt mir von dem Blauäugigen!«, verlangte Senggerinchin. Nachdem er keine Antwort erhielt, sagte er: »Vor Euch stehen keine Männer mit Manieren. Hier gibt es keine Kaiserlichen Kommissare, die Euch retten könnten.«

»Ihr müsst mit dieser Erniedrigung aufhören!«, schrie Pater Duluc in fließendem Mandarin. »Der Mann ist ein Gesandter der britischen Königin! Ihm muss gestattet werden, seine Ehre zu wahren!« Eine Sekunde später kniete auch er am Boden mit der Stirn im Staub.

»Ich werde Euch nicht länger täuschen«, brachte Parkes mit blutender Nase hervor. »Der Blauäugige gehört zu uns.« Doch Senggerinchins Männer ließen sich von dem Geständnis nicht abhalten, ihn immer wieder mit der Nase in den Dreck zu stoßen. »Ich kenne ihn gut. Er gehört zu uns«, versicherte Parkes verzweifelt.

Schließlich gab Senggerinchin ein Zeichen, und Parkes und Duluc durften ihr blutendes Gesicht heben. »Begreift Ihr also doch noch, dass Ihr keine Wahl habt«, stellte er barsch fest. »Ihr werdet mir alles verraten. Ihr braucht Euch nur zu fragen, wie viel Schmerzen ertragen werden müssen, bis der Prinz der Mongolen erfahren hat, was ihm zu wissen zusteht. Bindet ihnen die Hände!«

Parkes und seinem Gefolge wurden die Hand und Fußgelenke mit nasser Kordel zusammengebunden. Niemand von ihnen ahnte, dass gerade die Nässe größte Schmerzen verursachen würde. Beim Trocknen würde sich die Kordel zusammenziehen und ihnen in die Haut schneiden und die Glieder abschnüren. Innerhalb weniger Stunden würden Hände und Füße dick anschwellen und schließlich absterben. Sie würden unvergleichliche Schmerzen zu ertragen haben und wie viele vor ihnen vielleicht sogar wahnsinnig werden und sterben.

Unter Senggerinchins beharrlichen Fragen und von den Schmerzen durch die trocknenden Fesseln angespornt, enthüllte Parkes über Chen, so viel er wagte. Zugleich bemühte er sich, mit seinen Worten Lord Elgins Lage in taktischer Hinsicht zu verbessern und warf einen glaubhaften Schleier der Unwahrheit über seine Ausführungen, den sein Befrager kaum zu durchdringen fand. Er bestritt jedoch weder den Mordanschlag auf Chen noch dessen unglaubliche Selbstverteidigung, womit er seine Glaubwürdigkeit weiter erhärtete.

Senggerinchin erfuhr, dass der Blauäugige in Hongkong aufgetaucht und offenbar nicht chinesischer Abstammung war, was seinen leicht fremdartigen Akzent und die ungewöhnlichen Augen erklärte. Es freute ihn zu hören, dass Chen viel von seinem militärischen Können hielt und bei jedem Vorgehen zu Umsicht geraten hatte. Doch Parkes versicherte eilig, dass Lord Elgin den Rat des Fremden zwar berücksichtige, aber doch selbst der führende Kopf sei, der den Sieg über die Festungen herbeigeführt habe. Danach ließ er sich eingehend über die überlegene Artillerie und die umfassende Ausbildung der Soldaten aus.

Senggerinchin war weder enttäuscht noch begeistert. Letztlich traute er Parkes nicht, und das zu Recht. Dieses Gespräch war ein Spiel der Täuschungen, und beide Männer wussten das. Die Frage war jetzt, wie der Mongole seine Gefangenen am besten zur Erreichung seiner Ziele nutzen könnte.

Da er nun wusste, dass Elgins Truppen näher waren als vermutet, beschloss er, die neununddreißig verbliebenen Barbaren in vier Gruppen aufzuteilen und eine davon in das befestigte Tongzhou zu schicken, als Käse für die hungrigen britisch-französischen Mäuse. Sobald diese hören würden, dass ihre Leute mit absterbenden Händen und Füßen und vor Schmerzen schreiend hinter der Stadtmauer saßen, bliebe ihnen nichts anderes übrig, als sie mit einem Großangriff zu befreien. Nichts würde Elgin mehr in Rage bringen als die Nachricht, dass sie unter der Parlamentärflagge gefangen genommen und dann gefoltert worden waren.

Die zweite Gruppe – mit den kümmerlichsten Leuten – würde er in den Sommerpalast schicken, um sie dem Adel vorzuführen. Das würde ihnen die Jämmerlichkeit der Invasoren vor Augen führen und die Angst in Peking verringern. Die dritte Gruppe sollte im Feldlager bleiben als Verhandlungsmasse, falls die Schlacht unerwartet schwierig werden sollte, und die vierte Gruppe mit Harry Parkes und diesem fetten Schmutzfinken Henry Loch wollte er nach Peking bringen lassen, um sie ins Gefängnis des gefürchteten Strafgerichts sperren zu lassen.

Parkes stockte der Atem vor Angst, als er das alles hörte. Und doch war sein und Lochs Schicksal weit besser als das der anderen Gefangenen. Ohne seine zur Schau getragene Zuversicht und sein selbstherrliches Auftreten als Schutz – große Töne wirkten bei den Chinesen immer – sahen sie einem schmerzhaften und erniedrigenden Tod entgegen. Thomas Bowlby hatte sich am Nachmittag noch glücklich geschätzt, dass man nicht ihm den Kopf abgeschlagen hatte, doch dieser Tod wäre leichter gewesen. Stattdessen würde ihm nun wie vielen anderen die Haut an Händen und Füßen aufplatzen, Schmeißfliegen würden sich zu Dutzenden darauf niederlassen, und er würde halb wahnsinnig an Blutvergiftung sterben.

Der Kampf um das Reich der Mitte war nun ernsthaft im Gange, und keine Streitmacht würde sich zurückziehen. Bei seinem Versuch, die Feinde noch tiefer in seine Falle zu locken, hatte Senggerinchin sie unerwartet erzürnt – was die Beziehung zwischen Ost und West auf ewig vergiften würde. Die Chinesen kämpften um Heim und Herd, ein starker Vorteil; auf der gegnerischen Seite gab es jedoch einen viel wirksameren Ansporn: die Überzeugung, die Welt zu beherrschen.

Am späten Nachmittag kamen Meldungen, dass nur sechzehn Kilometer entfernt die ersten Scharmützel stattfanden. Anscheinend waren Lord Elgin und der Blauäugige tatsächlich näher, als Senggerinchin geglaubt hatte. Doch er war bereit. Die Hirsefelder waren geschnitten worden, um leichten Zugang zur Stadt zu gewähren; und soeben wurden zwei Gefangene übers freie Feld auf die Stadtmauer zugetrieben, hinter der sie als Köder fungieren würden.

Die Falle war aufgeklappt, die Feder zurückgezogen.