32.
Peking, China
Verbotene Stadt
Palast der Gesammelten Eleganz
26. September 1860
Ortszeit: 7.27 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 207
Das große Feuer war bis auf die Glut heruntergebrannt. Daher war es in dem großen Saal recht kalt. Während der langen Nachtstunden kühlte die Luft bereits beträchtlich ab.
Sowie Randall wach wurde, quälten ihn Schuldgefühle. Erschrocken richtete er sich auf und spähte durch den leeren Raum. Dann sah er auf das zerknitterte Laken, wo Cixi gelegen hatte.
Seltsam, dass ihn Angst durchfuhr, als er sah, dass er allein war. Er dachte sofort daran, was er getan hatte. Ihm war so eng in der Brust, dass er kaum atmen konnte. Er hatte fast gegen alle Regeln verstoßen, die er mit Wilson zusammen aufgestellt hatte. Die Erinnerung an den Abend war wie ein schlechter Traum, was ihn betraf, ein totales Versagen, und kurz betete er, er möge erwachen und feststellen, dass seine Torheiten nicht Wirklichkeit waren. Aber natürlich war ihm klar, dass er mit seinen Verstößen würde leben müssen.
Als er die Decke zurückschlug, spürte er die schneidende Kälte auf der nackten Haut. Dann roch er den Duft von Cixis Säften, der mit seiner Körperwärme aufstieg. Sein Albtraum war mit verlockenden fleischlichen Genüssen gepolstert, und trotz seiner augenblicklichen Angst verlangte es ihn nach mehr. Während er seine Kleider in sämtlichen Ecken suchte, dämmerte ihm, dass Cixi sie mitgenommen haben musste. Stattdessen fand er eine grüne Uniform, wie sie die Eunuchen der Palastwache trugen. Da ihm einleuchtete, dass er sich tarnen musste, solange er sich in der Verbotenen Stadt aufhielt, zog er die weiten Baumwollhosen an und band sie an der Hüfte zu. Die Sandalen hatten an der Ferse zwei lange Schnüre aus schwarzem Segeltuch. Die schlang er sich um die Waden und verknotete sie unter dem Knie. Da lag auch ein weißes Unterhemd, das ihm kaum passte. Darüber zog er das grüne Baumwollhemd mit den weiten Ärmeln und dem Stehkragen. Die Knöpfe verliefen an der rechten Schulter entlang und die Seite hinab.
Nachdem er die schwarze Samtkappe aufgesetzt hatte, ging er auf die rote Tür des Palastes zu, und dabei kam ihm der Gedanke, dass er außer dem Kaiser der erste intakte Mann war, der hier eine Nacht verbracht hatte. Und er hatte mit der Gemahlin des Kaisers geschlafen. Dann korrigierte er sich: Er hatte sie mit Gewalt genommen.
Sowie er in den Hof trat, der an den Garten grenzte, ging er in zügigem Tempo auf das Rückgrat der Stadt zu, den Palast der Himmlischen Reinheit. Seine Chancen, Cixi dort zu finden, standen gut, da sie dort jeden Morgen meditierte.
Der Himmel war wolkenlos blau; auch die Nacht war klar und darum kalt gewesen. Im Garten hingen Nebelschwaden zwischen den Bäumen, die sich während der nächsten Stunde auflösen würden, sobald die Sonne über die hohen Mauern stieg und die Verbotene Stadt mit ihrem spätherbstlichen Glanz streifte.
Es tat gut, die frische Morgenluft in der Nase zu haben, und Randall lief auf die mittlere Tür zu, um sich dann vom Blumengarten weg nach Süden zu wenden. Ringsherum lagen unermessliche Schätze: massiv goldene Statuen flankierten die Tore, Tausende kostbarer Teppiche lagen in den Palästen, Hunderttausende Vasen schmückten Sockel und Bänke. Schnitzwerk aus Jade gab es tausendfach, manche Stücke zweihundert Pfund schwer, desgleichen kalligrafischen Wandschmuck. Und dann die Uhren – es gab so viele Uhren. Randall erinnerte sich, dass Kaiser Qianlong vom Messen der Zeit fasziniert gewesen war und darum diese Präzisionsinstrumente aus aller Welt gesammelt hatte.
Und es gab zahllose Dokumente – das Wissen aus viertausend Jahren chinesischer Geschichte lag in den Bibliotheken. Dies war in der Tat eine Stadt von sagenhaftem Reichtum, der in den zehntausend prachtvollsten Gebäuden der Welt untergebracht war.
Auf seinem Weg sah Randall keine Menschenseele, genau wie am Abend zuvor. Lautlos, dank der weichen Sohlen, sprang er die weißen Stufen des Palastes hinauf. Erleichtert sah er Cixi im Lotossitz mit dem Gesicht zur Sonne dasitzen. Sie hielt den Rücken gerade, die Augen geschlossen.
»Ihr hättet mir sagen sollen, dass Ihr mich allein lasst«, sagte Randall und glaubte, sie würde zusammenzucken.
Doch Cixi rührte keinen Muskel – ihre Augen blieben geschlossen, das Gesicht entspannt. »Eure Unverforenheit ist groß, wenn Ihr durch die Verbotene Stadt lauft, als wäre sie Euer Eigentum.«
»Ihr hättet mir sagen sollen, dass Ihr mich allein lasst«, wiederholte Randall.
»Ein Gefangener sagt seinem Wärter nicht, wann er zu fliehen beabsichtigt. Warum sollte ich es also tun?«
»Ihr seid nicht meine Gefangene«, widersprach Randall grimmig lächelnd. »Es verhält sich wohl eher andersherum.«
Cixi machte die Augen auf, ihr Blick war bereits auf ihn gerichtet. »Ihr habt meinen Körper mit Gewalt genommen, Randall Chen. Beleidigt mich nicht mit Euren Ängsten. Ihr seid ein Mann, der sich nimmt, was er begehrt, ungeachtet der Folgen.«
Ihr wolltet mich!, dachte er spontan, doch er verkniff es sich zu sagen, denn dafür würde sie ihn verspotten. Stattdessen schlug er den Blick nieder und erwiderte: »Ich bin ein Mann.«
Cixi schloss die Augen. »Und alle Männer sind schlecht, mit Ausnahme des Himmlischen Prinzen. Er stellt sein Land und sein Volk über alles andere, auch über sein eigenes Wohlergehen.«
»Wie Ihr, Edle Kaiserliche Gemahlin«, sagte Randall. Eine Träne rollte über ihre rechte Wange, und Randall verließ die Kraft. »Ich bereue, was ich getan habe«, flüsterte er.
»Ihr habt meinem Körper und meiner Seele Gewalt angetan«, sagte sie leise.
Randalls Schuldgefühl breitete sich in ihm aus wie ein Krebsgeschwür, bis keine Selbstachtung mehr übrig war.
»Und die ganze Zeit habt Ihr gewusst, dass der Vormarsch unserer Feinde weitergeht.«
»Hat Elgin einen Angriff eingeleitet?«, fragte er ungläubig.
Cixi riss die Augen auf und sah ihn hasserfüllt und verächtlich an. »Ihr habt mich auf die schlimmste Weise betrogen«, fauchte sie. »Während Ihr meinen Körper nahmt, ist Euer Verbündeter, Lord Elgin, mit seinen Truppen bis auf drei Kilometer an diese Mauern herangekommen. General Palu hat tausend Männer geschickt, um zu verhindern, dass die Franzosen und Briten Geschützstellungen einrichten. Doch seine Tataren wurden mit Gewehren großer Reichweite angegriffen. Wer nicht getötet wurde, floh zur Stadt zurück.«
»Ihr müsst eingreifen«, drängte Randall. »Wenn die Alliierten wirklich bis auf die Reichweite ihrer Kanonen herangekommen sind, dann ist die Lage ernster, als ich dachte.«
»Ihr habt behauptet zu wissen, wie wir sie besiegen können!«, erinnerte sie ihn zähneknirschend. »Doch mir scheint, Ihr versteht Euch am besten darauf, meine Position zu schwächen und die des Qing-Reiches.«
Randall nahm vor ihr die Zenhaltung ein. »Ich bin hier, um Euch zu dienen, Edle Kaiserliche Gemahlin. Das schwöre ich bei meinen Vorfahren. Ich habe Euch gestern Nacht Unrecht getan und werde Euch nie wieder verärgern.« Er begann mit den hundertacht Bewegungen der Holzpuppe und deklamierte die Worte seines Meisters Le Dan. »Tao … Tien … Dee … Gian … Far.« Dazwischen atmete er tief durch.
Weg … Himmel … Erde … Führung … Recht.
»Das sind die Grundsätze, nach denen ich lebe«, deklamierte er weiter und brachte jedes Wort zum Schwingen.
Cixi verfolgte staunend die meisterliche Ausführung. Solche Präzision hatte sie noch nicht gesehen, obwohl sie schon ihr Leben lang mit der Kampfkunst vertraut war. Der Kaiser hatte viele Eunuchenkrieger ausgebildet, die nur für drei Zwecke lebten: dem Kaiser zu gehorchen, in seinem Namen zu töten und die Konkubinen vor intakten Männern zu schützen. Sie widmeten also ihre ganze Zeit der Kampfkunst. Doch selbst bei ihnen hatte Cixi noch nie solche Kraft und Schönheit gesehen wie hier.
Während der nächsten fünfzehn Minuten absolvierte Randall seine Übungen, dann verbeugte er sich vor ihr. »Meine Fähigkeiten stehen Euch sämtlich zur Verfügung«, sagte er. »Ich stehe an Eurer Seite und werde Euch helfen, die Verbotene Stadt zu schützen. Ich werde dafür sorgen, dass Tung Chi den Drachenthron besteigt.«
Cixi erhob sich. Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Ihr schwarzes Haar bildete einen starken Kontrast zu dem leuchtenden Zinnober der Wand hinter ihr. Schließlich sagte sie: »Wir befinden uns in einer düsteren Lage, Randall Chen. Welcher sollte unser nächster Zug sein?«
»Ihr müsst Prinz Kung anweisen, eine weiße Flagge zu Lord Elgin zu schicken, und mit der weißen Flagge einen eigenhändigen Brief von Euch. Darin solltet Ihr Lord Elgin Folgendes androhen: Wenn auch nur ein Geschoss in die Stadtmauer Pekings einschlägt, werden, ehe das zweite trifft, Harry Parkes und sein Gefolge einen qualvollen Tod sterben. Ferner muss da stehen, dass der Sohn des Himmels zu einem Waffenstillstand bereit ist, wenn Franzosen und Briten die Taku-Festungen sofort zurückgeben und China verlassen.«
»Das ist eine lächerliche Forderung«, sagte Cixi. »Das werden sie niemals tun.«
»Das ist eine gute Taktik«, widersprach Randall. »Solch ein Ultimatum wird ihn erst einmal lähmen.«
»Es könnte auch seine Geduld überspannen, sodass sie reißt wie ein morscher Faden. Dann greift er die Stadt sofort an«, gab sie zu bedenken.
Randall näherte sich ihr auf leisen Sohlen. »Ein Anführer muss alles abwägen, bevor er in die Schlacht zieht. Und vor allem muss er die Position des Feindes berücksichtigen, indem er sich vorstellt, was er in dessen Lage tun würde. Dagegen wird er dann handeln. Wenn wir völliges Selbstvertrauen an den Tag legen, wird Lord Elgin unsere Position im Nachhinein anzweifeln, und ohne mich an seiner Seite wird er verdutzt und handlungsunfähig sein. Er kann nicht wissen, wie stark oder schwach die Abwehr der Stadt ist. Er hat keine Ahnung. Und er wird fürchten, dass ich bei Euch bin und im Gegenzug seine Schwäche vorführe.«
Cixi nickte kaum merklich. »Ich verstehe Euren Plan. Aber wenn wir so stark sind, warum teilen wir ihm dann mit, dass Harry Parkes im Falle eines Angriffs getötet wird?«
»Das ist unsere Versicherungspolice«, erklärte Randall. »Und vor allem verschafft das unserem Anschein von Stärke Glaubwürdigkeit. Denn genau das würde Lord Elgin an unserer Stelle tun.«
»Wenn dieser Plan so hervorragend ist, warum haben wir ihn dann nicht gestern in die Tat umgesetzt, bevor sich die Barbaren der Stadtmauer so weit näherten, dass sie dagegenspucken können?«
»Ich habe nicht geglaubt, dass sie so weit gehen würden«, gab Randall zu. »Es ist sein Tun, das unseres vorantreibt. Wäre er noch weiter weg, würde uns der Plan als Schwäche ausgelegt werden. Aber dass wir ihn so dicht haben herankommen lassen, ehe wir unsere Karten aufdecken, ist für uns von Vorteil. Bitte bedenkt dabei, Edle Kaiserliche Gemahlin, dieser Plan wird uns nicht den Sieg bringen – er verschafft uns nur Zeit, damit die Gefangenen gesund werden können, ehe wir sie zu Elgin zurückschicken. Erst dann können die Verhandlungen beginnen und ein erfreuliches Ergebnis für Euch und das Reich erzielt werden.«
»Woher weiß ich, dass ich Euch trauen kann?«, fragte sie.
»Ihr habt gesagt, ein Mann, der nichts will, ist nicht vertrauenswürdig.« Randall nickte. »Ich habe Euch gestern Nacht viel über mein Verlangen verraten. Doch ich bin noch aus anderen Gründen hier. Ich muss die Herrschaft der Qing erhalten, als Krieger und Taktiker, der auf Euer Geheiß handelt. Ihr müsst mir dabei vertrauen. Ich muss mein Ziel erreichen, eher kann ich nicht von hier fort.«
Cixis Gesicht blieb unbewegt.
»Ihr habt gespürt, was gestern Nacht zwischen uns war«, sagte Randall. »Ihr habt mehr gespürt als einen dominanten Mann. Uns verbindet etwas, was ich selbst nicht ganz verstehe – ich will es Loyalität nennen. Ihr wisst, ich bin nicht hier, um Euch zu verletzen oder zu betrügen – das wisst Ihr jetzt mehr denn je. Und darum werdet Ihr Prinz Kung die Anweisung geben, die ich genannt habe. In der Zwischenzeit werde ich Harry Parkes besuchen und ihm erklären, was er tun muss, wenn er am Leben bleiben will.«
»Mir bleibt nichts anderes übrig, nicht wahr?«, stellte Cixi fest. »Ihr seid im Augenblick unserer größten Schutzlosigkeit hierhergekommen. Ich bin in Eurer Hand und offenbar auch die Stadt.«
»Und ich werde Euch nicht im Stich lassen.«
Cixi verbeugte sich vor ihm. »Ehe wir die bevorzugte Halle des mächtigen Kangxi, Großvater des mächtigen Qianlong, verlassen, habe ich noch etwas zu sagen. Eure Herrschaft über mich in der vergangenen Nacht war Kraftvergeudung. Ich weiß, dass ein Mann sich nimmt, was er kann, wenn er die Macht dazu hat. Wie wir beide wissen, ist es die Aufgabe einer kaiserlichen Gemahlin, in erster Linie dem Drachenthron zu dienen. Aber merkt Euch eines, Blauäugiger: Ihr werdet von jetzt an Abstand wahren. Ihr könnt mich nicht nehmen, wie es Euch beliebt, ganz gleich, wie Ihr darüber denkt. Ich werde Euch bis zum letzten Atemzug abwehren und verhindern, dass Ihr mich je wieder berührt.«