54.

Peking, China
Tatarenstadt
Britische Botschaft
20. Juni 1900
Ortszeit: 9.05 Uhr

Kurz nach neun Uhr machte sich Baron von Ketteler furchtlos mit einer Sänfte auf den Weg zum Außenministerium, um seine Beschwerden dem Minister persönlich vorzutragen. Er war vollkommen aufgebracht über das Treiben der Boxer und wollte das sofortige Einschreiten von höchster Stelle fordern. Wie Wilson wusste, würde er leider zehn Minuten, nachdem er die Sicherheit des Gesandtschaftsviertels verlassen hätte, von einem chinesischen Soldaten aus nächster Nähe erschossen werden. Das wäre der Beginn der Belagerung.

Wilson hatte in den letzten drei Wochen viele Stunden mit dem Baron verbracht, und darum fiel es ihm schwer, wortlos zuzusehen, wie er das Gelände verließ. Doch Wilson hatte keine andere Wahl, als die Geschichte ihren Lauf nehmen zu lassen. Der deutsche Botschafter wusste nicht viel von den chinesischen Sitten und behandelte die Einheimischen nach Wilsons Meinung wie Hunde, doch er war ein aufrechter Patriot und verdiente es nicht, auf diese Weise zu sterben.

Vor seiner Ankunft in Peking – bei seinen vielen Gesprächen mit Lieutenant-General Gaselee – hatte Wilson die Ereignisse genau vorausgesagt, auch die Ermordung des deutschen Botschafters. Damit hatte er eine bemerkenswerte Kenntnis der Zukunft bewiesen. Nachdem er Gaselee einen detaillierten Schlachtplan in einem versiegelten Umschlag überreicht hatte, informierte er den Kommandeur der alliierten Verbände, dass der Brief erst geöffnet werden dürfe, wenn die Nachricht vom tragischen Tod des Barons eingetroffen sei.

Mit der Erfüllung seines Schicksals wäre die Geschichte wieder im rechten Gleis. Wilson war stark beunruhigt, da Seymours Einsatztruppen entgegen den Angaben im Auftragstext Peking in der Woche zuvor nicht erreicht hatten. Boxerverbände hatten die Eisenbahnlinie zwischen Tientsin und Peking unterbrochen und Seymours Vormarsch aufgehalten. Mit der Lokomotive im Rückwärtsgang hatte er den Rückzug versucht, doch die Boxer sprengten hinter ihm die Schienen. Später erfuhr man, dass Seymour unter schweren Angriffen der gut bewaffneten Boxer gezwungen gewesen war, zu Fuß bis zum Peiho zu fliehen. Er bekam darauf den Spitznamen Admiral Seen-no-more, was so viel hieß wie: Wurde-nicht-mehr-gesehen.

Nach dem Auftragstext, den Wilson gelesen hatte, sollte Seymour dringend benötigte Soldaten und Nachschub bringen; insofern waren die Ereignisse alarmierend abgewichen. Wilson forschte nach und erfuhr, dass Sir Claude sich Seymours Truppenzahlen und seine Ankunftszeit hatte telegrafieren lassen, damit er für Unterkunft und Verpflegung sorgen könne. Die Nachricht musste von den Boxern abgehört worden sein.

Diese unverforene Missachtung seiner Empfehlungen trübte seine Beziehung zu dem Botschafter. Als Konsequenz ließ Wilson den Telegrafen entfernen und Edwin Conger zur Aufbewahrung geben. Der Amerikaner verstand wenigstens den Ernst der Lage und schwor, ihn nur strategisch zur Irreführung des Gegners zu benutzen.

Sir Claude tobte, als er feststellte, was Wilson getan hatte, und es kam zu einem lautstarken Streit, der von Edwin Conger und George Morrison, einem australischen Journalisten der Times, geschlichtet werden musste.

Von dem scharfsinnigen Morrison war Wilson besonders angetan. Sein Landsmann war siebenunddreißig Jahre alt, sprach fließend Mandarin, kannte jeden und schien mehr um das Wohlergehen der christlichen Chinesen besorgt zu sein als um alle anderen, denn er benutzte seinen ganzen Einfluss, damit sie im Gesandtschaftsviertel Zuflucht erhielten. Sein lebhafter Verstand war eine Wohltat, und Wilson musste zugeben, dass er seine Gesellschaft selbst unter diesen düsteren Umständen genoss.

Seit über einer Woche konnte man die Boxer nachts »Sha! Sha! Sha!« schreien hören – »Töte! Töte! Töte!«. Unnötig zu sagen, dass dies für jeden zermürbend war. Dennoch war mit dem Ausbau der Verteidigungsanlagen erst vor vier Tagen begonnen worden, als furchtbare Schreie durch die Tatarenstadt gellten. Die Boxer jagten und erschlugen jeden Chinesen, der mit den Ausländern in Verbindung stand, metzelten sie auf der Straße nieder, hackten sie brutal in Stücke. Was von ihnen übrig war, warfen sie in die Gesandtschaftsstraße, damit sie in der Sonne verwesten und von den Mauern der Botschaften von allen gesehen wurden.

Vor drei Tagen hatten die Boxer angefangen, Häuser und Läden in Brand zu stecken, die mit den Abendländern in Verbindung gebracht werden konnten. Über der Stadt konnte man Hunderte Brände lodern sehen, die gelbroten Flammen züngelten in den Nachthimmel. Auch die amerikanischen Missionen und Waisenhäuser brannten, desgleichen die Kirchen. Alle Waisen und die Nonnen, die die Kinder zu schützen versuchten, wurden gnadenlos niedergestochen.

George Morrison schilderte voller Entsetzen, was er gesehen hatte, während er mit einigen Royal Marines unterwegs gewesen war, um ein paar verstreute chinesische Christen zu retten. »Frauen und Kinder wurden in Stücke gehauen, Männer aufgehängt wie Federvieh, nachdem man ihnen Nase und Ohren abgeschnitten und die Augen ausgestochen hatte. Es war grauenvoll.«

Wilson schämte sich, zur Menschheit zu gehören, als er sich anhörte, was die Boxer ihren Landsleuten antaten, ganz zu schweigen von den Gräueln gegen Frauen und Kinder.

Das hat Randall zu verantworten, wurde Wilson klar, während er die Schreie der Vergewaltigten und Gefolterten mit anhörte. Er wurde jeden Augenblick wütender, so sehr er sich auch zwang, ruhig zu bleiben.

Zwei Tage zuvor hatte das Außenministerium an jeden Botschafter einen roten Umschlag geschickt. Darin hieß es, allen Ausländern werde sicheres Geleit nach Taku gewährt, wenn sie die Waffen abgeben und Peking innerhalb von vierundzwanzig Stunden verlassen würden. Wilson hatte die Botschafter schon auf dieses Angebot vorbereitet und eindringlich gewarnt, darauf einzugehen; sie würden auf offener Straße massakriert werden. Folglich lehnten sie ab.

Daraufhin erklärte Cixi den acht Großmächten den Krieg. »Mit Tränen in den Augen verkünden wir in den Heiligtümern unserer Ahnen den Ausbruch des Krieges«, hieß es in der kaiserlichen Verlautbarung.

Fast fünftausend Menschen aus achtzehn Nationen saßen hinter den Mauern des Botschaftsviertels fest: knapp fünfhundert Zivilisten, gut vierhundert Angehörige des Militärs und über viertausend chinesische Christen. Unter den Zivilisten befanden sich 149 Frauen und 79 Kinder. Es gab fünf Brunnen, die ausreichend Wasser hergaben, und Nahrungsmittel, die fürs Erste reichen würden, darunter einen guten Vorrat an Weizen, Mais und Reis, außerdem zahlreiche Pferde, die geschlachtet werden konnten. Munition dagegen würde eventuell knapp werden, denn die acht Gesandtschaften benutzten unterschiedliche Waffen, sodass man sich nicht gegenseitig aushelfen konnte. Sie hatten nur eine Kanone, einen italienischen Einpfünder und drei Maschinengewehre. Dagegen standen dem Feind zahllose russische Geschütze und Tausende chinesischer Raketen zur Verfügung.

Kaiserin Cixi gebot über 300 000 Soldaten in und um Peking, denn die Boxer waren inzwischen per Dekret den Regierungstruppen angegliedert worden. Sie erhielten seitdem Sold und Verpflegung.

Nachdem Baron von Ketteler erschossen worden war, griffen die Boxer in Wellen die Haupttore der Gesandtschaften an. Die Verteidiger mussten so schnell hintereinander feuern, dass ihre Läufe glühten und die Schützen sich ernsthafte Verbrennungen zuzogen. Doch die Zahl der Toten außerhalb der Mauer stieg an, Millionen von Schmeißfliegen surrten herum.

Die erhöhten Punkte des Geländes wurden rund um die Uhr von Soldaten bemannt. Die höchsten Gebäude, einschließlich der Residenz des Botschafters, waren von innen mit Sandsäcken verstärkt worden, und man hatte dort Geschütze in Stellung gebracht. Die Frau des britischen Botschafters und zwei hübsche Töchter, die erst sieben und fünf Jahre alt waren, wurden zu ihrem Schutz in den Keller geschickt.

Zusammen mit George Morrison war Wilson imstande, Sir Claude, der von den übrigen Botschaftern zum Kommandeur bestimmt worden war, diskret die Hand zu führen, denn sein Landsmann verstand sich darauf, bei anderen Vertrauen zu erzeugen. Zwar hielt er Sir Claude für einen, wie er sich ausdrückte, Mann mit Halbbildung und ohne Verstand, Gedächtnis oder Urteilskraft, meinte aber, dass es bei ihm zum Kommandeur wohl reichen werde.

Trotz dieser Ansicht gelang ihm ein freundschaftlicher Umgang mit dem Botschafter, der infolgedessen Wilsons Verteidigungsstrategie nicht mehr behinderte. Auf den Straßen und Gassen waren Barrikaden aus Ziegelsteinen errichtet und mit Soldaten besetzt worden, die ihr Bestes taten, um die Boxer aufzuhalten.

Der Kampf würde pausenlos geführt werden, das wusste Wilson, und selbst er staunte über das Ausmaß. Es hatte den Anschein, als würden die Boxer nicht eher aufhören, bis der letzte Christ und Ausländer in Peking niedergemetzelt und alle Botschaften zerstört wären.