14.

Britisches Feldlager
8 Kilometer südöstlich von Tientsin, China
28. August 1860
Ortszeit: 21.14 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 178

Wie von Randall vorausgesagt, hisste die Zhen-Festung die weiße Flagge, ohne einen Kanonenschuss abgegeben zu haben. Auch die Festungen Hai, Men und Gao zogen kurz darauf ihre Flagge angesichts des Britischen Empires ein. Die Verteidigungsanlagen der Küste, der Stolz der Qing, waren nun restlos in britischer und französischer Hand. Wenn es auch nicht Elgins Absicht war, so ließen doch die Leichenhaufen, die in Sichtweite des Zhen-Forts begraben wurden, die Qing in ihrem Entschluss einbrechen, gegen eine Übermacht anzukämpfen. Und da sich der unbesiegbare Senggerinchin offenbar zurückgezogen hatte, sahen sie keinen Grund mehr, ihre Position zu halten.

Das machte den Sieg für Lord Elgin noch spektakulärer. Sie hatten Taku mit minimalen Verlusten gewonnen, und die Festungen waren unbeschädigt geblieben. Neben Vorräten an Lebensmitteln und Wasser war das Arsenal der Verbündeten um über vierhundert Kanonen samt Munition erweitert worden. Dazu hatten sie zweitausend Gefangene gemacht.

Im Verlauf der letzten vier Tage war das britische Feldlager auf Randalls Verlangen hin von Pei Tang acht Kilometer südlich der befestigten Stadt Tientsin ans Flussufer verlegt worden. Die Franzosen marschierten am Südufer entlang, die Briten am Nordufer. Die Flusslandschaft im Südwesten der Yanshan-Berge war angenehm und trockener als an der Küste. Die grünen Getreidefelder waren eine Erlösung nach den mückenverseuchten Sümpfen bei Taku. Der Sommermonsun ging zu Ende, das Wetter würde erträglicher werden und mehr Sonnenschein bringen, da die kühleren Herbstwinde von Sibirien her wehten. Zu Randalls Überraschung waren die Dörfer um Tientsin bereits verlassen. Auf dem Weg nach Nordwesten fanden die Soldaten manchmal halb gegessene Mahlzeiten auf den Tischen der Lehmhütten, die entlang der Straße standen. Auf dem Fluss lagen die verwaisten Dschunken und Lastkähne, von denen viele beiseitegezogen werden mussten, denn Lord Elgin fuhr an Bord des Kanonenbootes HMS Grenada stromaufwärts. Offenbar hatten die abziehenden Tataren die Bauern und Schiffer vor den anrückenden roten Teufel gewarnt und eine hastige Flucht ausgelöst.

Die mit Festungsmauern umgebene Stadt Tientsin war seit zwölfhundert Jahren strategisch bedeutsam für das chinesische Reich. Sie lag nur hundert Kilometer südöstlich von Peking, und hier flossen vier Wasserstraßen zusammen, der Haihe, der Peikiang, der Seiho-Kanal und der Kaiserkanal, auf dem die meisten Nahrungsgüter, Tee und Seide nach Peking sowie ins südlicher gelegene Taku gelangten.

Nun hielten die zehn höchsten Befehlshaber der britischen Streitkräfte nach militärischer Art ein Festessen ab. Sie saßen um ein Lagerfeuer, das mehr Licht als Wärme spenden sollte. Vor einer Stunde war die Sonne hinter den Bergen verschwunden, es war bereits nach neun Uhr. Das prasselnde Feuer wurde von aufgeschichteten weißen Steinen begrenzt. Durch die Nässe des Holzes ächzten und knackten die brennenden Scheite beträchtlich und manchmal fast so laut wie ein Pistolenschuss. Obwohl es ein warmer Abend war, hatte Lord Elgin auf dem Feuer bestanden, und so saßen alle ohne Jacke ein großes Stück davon entfernt. Die meisten rauchten Pfeife oder eine Zigarre. Der Cognac wurde freigebig ausgeschenkt und lockerte die Zungen mit jedem Glas mehr.

»Erfreulich, dass die Qing uns Tientsin übergeben wollen«, bemerkte Lord Elgin überheblich. »Morgen wird noch einmal ein großer Tag sein.«

»Mein alter Freund Hangfu, der Generalgouverneur, wird höchst erfreut sein, mich zu sehen, da bin ich sicher«, meinte Parkes dazu. Die Stimmung war allgemein lebhaft, seit die Taku-Forts die Parlamentärflagge gehisst hatten.

»Wir sind die größte Macht in Asien«, sagte Sir Hope in Randalls Richtung, um diesen Punkt noch einmal hervorzuheben. »Wir hätten das Wei-Fort bekommen, egal wie wir es angegriffen hätten. Unsere Haubitzen sind schlichtweg besser. Die lausigen Qing hatten gegen unsere kampferprobten Soldaten gar keine Chance.«

Randall, der nachdenklich zugesehen hatte, wie die Flammen über die Holzscheite leckten, schaute auf. »Die Selbstüberschätzung ist Ihr einziger wirklicher Gegner«, sagte er, ohne zu überlegen.

»Sie haben uns geraten, den Mongolenprinzen zu fürchten, und nun hat er sich als Feigling erwiesen, Mr. Chen«, widersprach Sir Hope. »Können Sie uns seinen erbärmlichen Rückzug erklären?«

»Wer weiß, welche Pläne er verfolgt«, antwortete Randall. »Ich fürchte, er hat noch nicht alle seine Karten ausgespielt. Zwischen uns und Peking lagern viele Tausend tatarische Reiter. Ihr Anführer läuft nicht vor einem Gefecht davon. Er wartet aus einem bestimmten Grund ab. Und wenn er angreift, wird er das in größerer Zahl tun. Bedenken Sie bitte, dass dieser Feigling, wie Sie ihn nennen, Ihre Truppen in diesem Feldzug schon einmal geschlagen hat. Ich betone es nochmals: Er ist nicht zu unterschätzen.«

»Ach was, er hat Glück gehabt«, meinte Sir Hope spöttisch. »Seine verflixten Gäule kamen in dem grässlichen Matsch dieses gottverlassenen Landes besser zurecht! Er hat Glück gehabt, mehr nicht.« Seine Stimme klang angewidert.

»Sie wollen, dass wir vor Senggerinchin Angst haben, Mr. Chen?«, fragte Elgin und blickte Grant schmunzelnd an, als wäre die Frage an sich schon albern.

»Ich empfehle keine Angst«, widersprach Randall, »lediglich Respekt.«

»Und respektieren werden wir ihn«, behauptete Parkes. »Doch dafür verlangen wir die Kapitulation der Qing. Welche Gegenmacht können sie schon zu bieten haben, wenn sie morgen offiziell verzichten, und das nicht nur auf die Festungen, sondern auch auf Tientsin? Sie haben begriffen, dass unsere Kanonen den ihren überlegen und unsere Männer erfahrener und besser ausgebildet sind. Und sie merken, dass der allmächtige Gott auf unserer Seite steht.«

Im Lager liefen chinesische Diener umher, räumten leere Teller fort und füllten Cognacgläser auf, von denen manche noch mehr als halb voll waren. Randall hob seinen Schwenker an die Lippen, um den Gestank des Todes aus der Nase und aus den Gedanken zu drängen. Doch der Alkohol bewirkte nur, dass sein Feingefühl nachließ.

»Wir sollen also diesen kümmerlichen Herrn fürchten, ja?«, schäumte Sir Hope unbesänftigt. »Ich fürchte mich vor keinem Menschen und schon gar nicht vor einem Chinesen!«

»Er ist Mongole«, hielt Randall ihm entgegen.

»Vielleicht hat er Sie gemeint«, warf Lord Elgin ein.

Es folgte kurzes Gelächter unter den Offizieren.

»Sie müssen verstehen, Mr. Chen«, sagte General Napier ernst, »dass es der Chinese ist, der uns zu fürchten hat. Wir sind hergekommen, um unsere Rechte – unsere britischen Rechte – auf fairen, ehrlichen Handel durchzusetzen. Wir wollen die Qing nicht unterwerfen. Wir wollen ihnen zeigen, wo’s langgeht, damit alle davon profitieren.«

»Haben Sie schon einmal Opium geraucht?«, entfuhr es Randall, ehe er sich eines Besseren besinnen konnte.

Plötzlich war es still am Lagerfeuer. Selbst die chinesischen Diener hielten inne, als das Wort Opium fiel.

»Das ist ein verachtenswertes Rauschmittel«, fuhr Randall fort. »Königin Victoria hat den Verkauf im Commonwealth verboten, und dennoch verkaufen Sie es hier. Erzählen Sie mir nichts von fairem Handel. Fair wäre es, die Regeln, die man anderen vorschreibt, auch selbst zu beherzigen.«

Wie vom Donner gerührt blickte General Napier zu Elgin, damit der die Richtung vorgäbe. Das Thema hatte offensichtlich einen empfindlichen Nerv getroffen.

Parkes ergriff sofort das Wort, um den britischen Handel zu verteidigen. »Mr. Chen, Sie reden über etwas, von dem Sie offenbar nichts verstehen. Die chinesischen Bauern wollen das Rauschmittel. Die sind nicht wie Sie. Viele haben nichts zum Leben. Sie sind arm, in vieler Hinsicht nichtswürdige Sklaven, ungebildete Leute, die ein richtungsloses Leben führen. Darum will ich meinen, dass es Ihnen nicht zusteht zu beurteilen, wer Zugang zu Opium haben sollte und wer nicht.«

»Warum wird es denn nicht in Ihrem Königreich verkauft?«, fragte Randall.

»Weil wir ein zivilisiertes Land sind!«, schnauzte Lord Elgin. »Diese dummen chinesischen Bauern wissen gar nichts. Sie leben von einem Augenblick zum nächsten.«

»Opium tötet nur unschuldige Menschen«, sagte Randall verbittert. »Ihre Soldaten und Ihre Kulis haben in Pei Tang alle Frauen vergewaltigt, ob jung oder alt. Man hört, dass die Frauen sich und ihre Töchter mit Opium vergiftet haben, um der weiteren Quälerei durch Ihre Leute zu entgehen. Sie müssen dem Einhalt gebieten! Diese Frauen sind unschuldig und müssen geschützt werden. Es heißt, Sie seien ein Mann von Ehre, Lord Elgin.«

»Ehre!«, schnaubte Elgin angewidert. »Die Vergewaltigung der Frauen ist der Preis des Krieges, junger Mann! Die Qing haben das Empire gegen sich aufgebracht, und ihr Volk wird dafür bezahlen! Was den Gebrauch von Opium angeht, so sind sie mit dem Zeug in der Lunge besser dran, wenn sie sich unbedingt vor Entehrung bewahren wollen. Bei Gott, Mann! Halten Sie zu diesem Thema den Mund! Die Moral des Britischen Empires steht hier nicht zur Debatte. Dafür umso mehr der Vertrag von Tientsin!«

»Und der wurde einseitig gebrochen, Mr. Chen«, übernahm Parkes das Wort. »Die britischen Truppen werden gemeinsam mit den Franzosen das Abkommen durchsetzen, das die Qing mit uns unterzeichnet haben. Es ist erst zwei Jahre her, dass Lord Elgin und ich in Tientsin saßen und es mit dem Großsekretär des Kaisers aushandelten.« Er sprach ruhig, aber bestimmt. »Nach zwei Wochen einvernehmlicher Debatte kamen wir zu einer förmlichen Übereinkunft. Vertrag ist Vertrag – und der wurde nun schon unzählige Male gebrochen. Ihre Majestät, die Königin, und die Truppen des Commonwealth lassen in dieser Sache nicht mit sich spaßen. Andernfalls – da gibt es gar keinen Zweifel – hat das empfindliche Konsequenzen, wie die Qing bereits bemerkt haben.«

Es war dumm gewesen, den Opiumhandel und die Vergewaltigungen in Pei Tang anzusprechen, das war Randall klar. Er hätte sich beherrschen müssen, doch der Alkohol hatte seinen Verstand benebelt. Wilson hatte ihn bei der Vorbereitung auf seinen Auftrag immer wieder gewarnt, sich aus der Politik herauszuhalten, und dennoch stand er hier und kritisierte die ranghöchsten Kolonialherren Asiens. Sie waren alle mit einem silbernen Löffel im Mund zur Welt gekommen. Armut und Zwänge kannten sie nicht. Sie hielten es für ihr Recht, fremde Länder zu erobern. Sie richteten über China, wussten aber nichts über dessen viertausendjährige Geschichte. Und sie wussten nichts über die nähere Zukunft.

Halte dich aus der Politik heraus!, sagte sich Randall.

Er hatte bereits die Kontrolle über den Opiumkrieg verloren, und dieser Zank würde die Lage noch verschlimmern. Senggerinchin war am Leben, und Randall wusste nicht im Mindesten, wann und wo der Mongole zum Gegenschlag ansetzen würde. Er musste schleunigst nachdenken, um die Ereignisse wieder in die Bahnen der Geschichte zu lenken. Eines stand fest: Er war gezwungen, bei Lord Elgin zu bleiben. Nur durch ihn gelangte er überhaupt an die Schalthebel. Denn es galt unbedingt zu verhindern, dass die Verbündeten die Qing entmachteten und die Verbotene Stadt stürmten.

»Sie haben recht, Lord Elgin«, räumte Randall ein. »Es ist nicht an mir, die Handelsmodalitäten des Britischen Empires in Frage zu stellen. Die Bauern wollen das Opium, sonst würden sie es nicht kaufen. Ich sehe es ein.«

»Das ist nur eine Sache von Angebot und Nachfrage«, sagte General Napier und zündete sich eine Zigarre an.

»Ich bin froh, dass Sie unseren Standpunkt verstehen«, schloss Elgin höflich lächelnd. »Wir wollen nur dem ausgehandelten Vertrag Geltung verschaffen, mehr nicht.«

Dann nahm er Blickkontakt mit Parkes auf und brauchte kein Wort zu sagen, damit dieser ihn genau verstand. Es war Zeit, Mr. Chen in Eisen zu legen und aus ihm herauszuholen, woher seine außergewöhnliche Voraussicht tatsächlich stammte.

Parkes trank seinen Cognac aus und stand aus dem Lehnstuhl auf. »Ich bin gleich wieder zurück, Freunde. Die Natur fordert ihr Recht«, erklärte er heiter. Er hatte vor, einen Trupp Soldaten zusammenzurufen und den chinesischen Gast festzunehmen.

»Jetzt!«, rief jemand plötzlich auf Mandarin, und aus der Dunkelheit näherten sich schnelle Schritte aus drei Richtungen gleichzeitig. Randall und Parkes war klar, dass sie angegriffen wurden, doch keiner hatte eine Waffe in Reichweite.

Randalls erster Gedanke war, Lord Elgin zu schützen, und so stieß er die Diener zu Boden, um sich den Weg freizumachen. Wenn der Anschlag auf den Briten gelänge, würde die Geschichte unwiderruflich einen anderen Verlauf nehmen. Da Randall eben noch ins Feuer gestarrt hatte, konnte er in der dunklen Umgebung zuerst keine Angreifer erkennen. Trotzdem reagierte er schnell. Er warf sein halb volles Cognacglas ins Feuer, das explosionsartig aufflammte.

In der plötzlichen Helligkeit sah er über Elgins Schulter hinweg einen Attentäter aus der Dunkelheit springen. Randall riss Napier das Tafelmesser aus der Hand und sprang damit auf Lord Elgin zu. Der war sichtlich überzeugt, Randall wolle ihn erstechen.

»Schützt Lord Elgin!«, schrie Randall, während er auf den Briten zuflog. Dann griff er den Attentäter frontal an. Während er springend einem Machetenhieb auswich, stieß er ihm die Messerklinge tief in den Hals, dass das Blut in einer Fontäne herausspritzte. Zusammen mit seinem Gegner fiel er ächzend auf Lord Elgin, unter dem der Louis-Seize-Stuhl zerbrach.

Zwei weitere, als Kulis verkleidete Attentäter stürzten mit einer Machete bewaffnet aus der Dunkelheit hervor.

Randall packte ein abgebrochenes Stuhlbein und schwang es der blitzenden Machete entgegen, die auf ihn niedersauste. Knackend traf es auf die Klinge und wurde gespalten. Die zweite Machete verfehlte nur knapp seinen Kopf. Lord Elgin kroch derweil auf allen vieren aus der Kampfzone. Inzwischen war klar, dass die Attentäter es auf den Blauäugigen abgesehen hatten.

Sich selbst zu verteidigen fand Randall viel leichter. Elegant und flink sprang er auf die Füße und wich zurück, um die Anzahl und das Können seiner Gegner einzuschätzen. Kurz sah er Parkes hinter seinem Stuhl kauern und General Napier sich ins Dunkle ducken. Sir Hope immerhin spähte mit schussbereiter Pistole in die Umgebung und wartete nur darauf, dass noch mehr Angreifer auftauchten.

Überzeugt, dass nur zwei übrig waren, vollführte Randall einen gedrehten Rückwärtstritt und brachte einen seiner Gegner mühelos zu Fall. Mit unfassbarer Schnelligkeit schlug er ihm die Faust in den Nacken und brach ihm das Genick. Dann packte er ihn bei den Fußgelenken und schleuderte ihn ins Feuer.

Einige der britischen Offiziere blieben auf ihren Plätzen sitzen und verfolgten gebannt den Kampf, der vor ihren Augen stattfand. Randall umkreiste langsam seinen verbliebenen Gegner und schaute dabei ins Dunkle, um nicht geblendet zu werden. Lord Elgin lag noch am Boden und schob sich rücklings weiter von dem Geschehen weg.

Randall duckte sich unter einem Machetenhieb weg und wich zurück, ehe die Klinge nachsetzte. Er entkam dem scharfen Stahl ohne Anstrengung, trat leichtfüßig hinter seinen Gegner und nahm ihn in den Schwitzkasten. Mit einer gewaltsamen Drehung des Kopfes brach er ihm das Genick, und der Mann fiel mausetot Lord Elgin vor die Füße.

Kein Brite hatte je solche kampftechnischen Leistungen gesehen.

Niemand rührte sich, nur das Feuer prasselte munter weiter. Drei Attentäter der Qing lagen tot mit dem Gesicht im Staub, einer verbrannte im Lagerfeuer; der Gestank davon stieg allen in die Nase.

Sir Hope schließlich rannte in sein Zelt und kam mit dem Säbel in der Hand wieder zum Vorschein.

Parkes begab sich nervös an Lord Elgins Seite, desgleichen General Napier, und gemeinsam halfen sie ihm auf die Beine und zu dem verbliebenen Lehnstuhl.

»Sind Sie wohlauf?«, fragte Randall, doch der schwergewichtige Mann blieb sprachlos.

Parkes sah sich unruhig nach allen Seiten um. »Wo zum Teufel haben Sie so kämpfen gelernt?«, fragte er.

»Ich habe nur versucht, Lord Elgin zu schützen«, antwortete Randall ausweichend.

»So etwas habe ich noch nie erlebt«, bekräftigte Napier.

»Danke, mein Junge«, sagte Elgin endlich, nachdem er sich den Staub aus der Kehle geräuspert hatte. »Sie sind mir zu Hilfe gekommen. Das ist mehr, als man von diesem Haufen sagen kann.« Er blickte Parkes an. »Hol mir einen Cognac, Harry. Und Mr. Chen auch einen. Nach dieser Vorstellung verdient er mit Respekt behandelt zu werden.«

Ihm war sehr wohl bewusst, dass der Anschlag Chen gegolten hatte. Wie es schien, war er ein wertvoller Aktivposten – und die Qing wussten das. Parkes dachte das Gleiche: Wenn diese den Chinesen töten wollten, musste es von Vorteil sein, ihn am Leben zu lassen.

»Um was soll ich mich sonst noch kümmern?«, fragte er an Elgins Ohr.

»Nur um den Cognac, Harry«, flüsterte Elgin zurück.

Nun trabten Punjab-Soldaten mit Gewehren heran und bezogen mit dem Gesicht nach außen rings um das Lagerfeuer Posten.

Randall blickte auf die Leichen. Es war das erste Mal, dass er jemandem das Leben genommen hatte. Er hätte gern Reue empfunden, doch seltsamerweise fühlte er sich energiegeladen. Er war der Stärkere gewesen, und der Stärkere obsiegt. Die Attentäter waren bestimmt von Senggerinchin gekommen, wurde Randall klar. Sie mussten sich nach der Niederlage der Qing unter die Kulis gemischt haben. Anscheinend bewahrheiteten sich seine schlimmsten Befürchtungen: Senggerinchin wich nunmehr vom Lauf der Geschichte ab – der Überfall bewies das. Solange der Mongolenprinz lebte, war die Zukunft ungewiss.

»Die hat Senggerinchin geschickt«, sagte Randall. »Er macht sich über die Macht des Empires lustig. Er lacht der Königin ins Gesicht. Wenn der Vertrag von Tientsin durchgesetzt werden soll, muss er getötet werden. Vorher werden die Qing glauben, sie hätten eine Chance, Sie aus dem Land zu treiben.«

Für den Augenblick war Lord Elgin bereit, ihn zu unterstützen. »Das Empire wird sich vor keinem beugen – ob mongolischer Prinz oder chinesischer Kaiser«, sagte er stolz. »Wir werden siegen.« Er zeigte auf die beiden Toten. »Schafft sie hier weg. Und haut ihnen den Kopf ab, bevor ihr sie verscharrt. Grabt ein Loch für den Rumpf und eins für den Kopf.«

Der Befehl jagte Randall einen Schauder über den Rücken. Die Chinesen glaubten, dass die Seele nicht ins Jenseits gelangen konnte, wenn Kopf und Rumpf getrennt begraben wurden. Das war Lord Elgins Rache für den Überfall.

In der Dunkelheit verborgen, verfolgte Low Wu, was sich am Lagerfeuer abspielte. Nachdem seine Gelegenheit verstrichen war, verhielt er sich so still wie möglich. Es gab keinen Grund, den Blauäugigen jetzt noch anzugreifen, besonders nicht nachdem er gesehen hatte, wie seine Mitverschwörer umgekommen waren. Die roten Teufel würden nun bald feststellen, dass Low Wu keiner ihrer Kulis war. Am wichtigsten schien ihm jetzt zu sein, Senggerinchin von der Kampfkunst des Blauäugigen zu berichten – und wie verbissen er Lord Elgin beschützt hatte. Also war schnelle Flucht geboten, und so zog sich Low Wu weiter in die Dunkelheit zurück und hoffte, unentdeckt aus dem Lager der Feinde zu entkommen.